Kapitel 1
»Und? Wie fühlt man sich, wenn die eigenen Abenteuer für die große Kinoleinwand verfilmt werden?«, fragte Allison Quayle-Henderson und streckte die Hand aus, in der sie das Mikrofon hielt, um die Antwort aufzunehmen.
Wie nicht anders zu erwarten, schlug ihr beharrliches Schweigen entgegen, zudem hatte ihre Gesprächspartnerin demonstrativ den Kopf zur Seite gedreht.
»Tut mir leid, Allison«, warf Christine Bell vermittelnd ein, »aber ich glaube, Isabelle beharrt auf dem Standpunkt, dass sie ihre Agentin für sich antworten lässt.«
Allison zuckte mit den Schultern und grinste. »Man kann es ja mal versuchen. Manchmal lässt sich ein Prominenter überrumpeln und liefert einem eine Antwort, die zehnmal ehrlicher ist als alles, was einem der Agent auftischt.«
Christine strich mit einer Hand über das rötlich getigerte Fell ihrer Katze, die sich zur Heldin einer ganzen Romanreihe ... nun ... gemausert hatte. Isabelle kniff die Augen zu und legte den Kopf genüsslich in den Nacken, während Christine begann, ihren Rücken sanft zu massieren. »Tja, in Isabelles Fall müssten Sie sich dann mit einem >Miau< begnügen, vielleicht auch mit einem kehligen >Mrrr<, aber ich glaube, das wird Ihren Lesern auch keinen Aufschluss darüber geben, was Isabelle nun wirklich denkt.«
»Vielleicht können wir ja ein Interview mit Isabelle für die DVD produzieren«, überlegte die Journalistin. »So als kleines Extra, meine ich. Sie kennen doch die Verantwortlichen, reden Sie mal mit denen.«
Sofort winkte Christine ab. »Ich kenne keinen von den Verantwortlichen, Allison. Das hat mein Agent geregelt, da kann ich mir wenigstens halbwegs sicher sein, dass die zuständigen Damen und Herren mich nicht mit einem Trinkgeld abspeisen. Ich habe keine Erfahrung mit der Filmbranche, und wenn ich Serien wie Episodes sehe ...«
»Ist das die mit Joey aus Friends?«, unterbrach Allison sie.
»Richtig.«
»Oh, die kenne ich. Die ist verdammt zynisch.«
»Nicht bloß zynisch, sondern realer als jede Reality-Serie, wenn ich meinem Agenten glauben darf«, erwiderte Christine. »Wenn ich so was sehe, möchte ich mit den Leuten von Film und Fernsehen so wenig wie möglich zu tun haben. Deshalb hat das alles mein Agent erledigt.«
»Also, ich kann es noch immer nicht fassen, dass einer von deinen Romanen verfilmt wird«, meldete sich Karen Raymond zu Wort. Sie und Christine waren einige Jahre lang in London gemeinsam zur Schule gegangen, nachdem Karens Eltern aus beruflichen Gründen in die Großstadt hatten umziehen müssen, als sie elf war. Bis dahin hatte sie in Glengreggory gelebt, jenem Dorf, in dem nun der erste Isabelle-Kinofilm entstand.
»Sagen wir so«, gab Christine zurück. »Richtig fassen kann ich das auch erst, wenn ich am Tag der Premiere im Kino sitze und gerade eben den Nachspann gesehen habe. Bis dahin will ich mir gar keine Gedanken darüber machen, was das alles nach sich ziehen könnte. Es gibt genug Filme, die nie fertiggestellt wurden und in irgendeinem düsteren, feuchten Gewölbe lagern, damit sie hoffentlich bald Schimmel ansetzen und dann guten Gewissens entsorgt werden können.«
»So schwarz würde ich aber nicht sehen«, wandte Karen ein. »Du ...« Weiter kam sie nicht, da der luxuriöse Kleinbus, mit dem sie an ihr Ziel gelangen sollten, in dieser Sekunde eine Vollbremsung machte. Luxuriös war fast schon untertrieben, so unglaublich bequem war es, in diesem Wagen zu reisen. Hinter dem Sitz des Fahrers waren vier weiche Ledersessel paarweise um einen großzügig bemessenen Tisch angeordnet.
Christine saß mit Isabelle in Fahrtrichtung, sodass sie den Grund für die Vollbremsung im gleichen Moment wie ihr Fahrer hatte kommen sehen. Sie konnte sich gegen die Rückenlehne drücken und mit einer Hand Isabelle festhalten, die weder etwas gegen den Kindersitz einzuwenden hatte, in den Christine sie gesetzt hatte, noch gegen den Sicherheitsgurt, in den sie kunstvoll gewickelt worden war.
»Sorry, Ladys«, rief der Fahrer nach hinten. »Schafherde von links.«
»Na, dann ist ja die nächste Geduldsprobe fällig«, meinte Allison, während durch die großen Seitenfenster des Busses die ersten Schafe zu sehen waren, die sich zu beiden Seiten zwischen Wagen und Hecke hindurchzwängten. Sie sah zwischen Karen und Christine hin und her, dann blätterte sie in ihrem Notizblock. »Wie war das noch mal? Sie beide kennen sich aus Gla... Gle... ah, da ist es ja ... aus Glengreggory?«
»Nein«, korrigierte Christine die Reporterin, die entweder ein schlechtes Gedächtnis hatte oder - und das hielt sie für wahrscheinlicher - absichtlich längst Bekanntes nachfragte, um zu sehen, ob ihr Gegenüber eine andere Antwort gab.
»Ich bin in Glengreggory aufgewachsen«, erklärte Karen geduldig und zwinkerte Christine zu, um ihr zu zeigen, dass sie die Taktik dieser Journalistin ebenfalls durchschaut hatte. »Kennengelernt haben wir uns erst in London. Wir waren ab der fünften Klasse Tischnachbarinnen und haben zusammen eine Menge durchgemacht.«
»Durchgemacht? Was haben Sie denn so alles durchgemacht?«, fragte Allison neugierig.
»Oh, das Übliche«, antwortete Karen. »Bandenzugehörigkeit, Autodiebstähle, Einbrüche, Schutzgelderpressungen ... Sie können sich was aussuchen, wir waren bestimmt daran beteiligt.«
»Schutzgelderpressungen?«, wiederholte die Reporterin, die auf Christine einen viel zu jungen und zu naiven Eindruck machte, um diesen Job schon auszuüben.
»Oh ja, wir haben die Gegend um Earl's Court fest in unserer Hand gehabt«, redete Karen weiter drauflos, während Christine grinsend den Kopf schüttelte. »Und später, in der achten Klasse, haben wir dann die Drogenszene aufgemischt und Dark Star unter die Leute gebracht.«
»Dark Star? Was ist das?«
»Das war eine Designerdroge, aber der MI5 hat davon Wind gekriegt und alles einkassiert, weil sie das Zeug für sich selbst haben wollten. Eine Tablette davon in Kaffee aufgelöst, und Sie geben auf jede Frage eine ehrliche Antwort.«
»Also eine Art Wahrheitsdroge?«
»Nicht nur eine Art, sondern die ultimative Wahrheitsdroge überhaupt. Man redet einfach drauflos, wenn man gefragt wird. Man plappert alles aus, was man weiß. So was in den falschen Händen ... nein, das will man sich gar nicht ausmalen.«
»Tja, und wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute«, meinte Christine abschließend, was ihr einen verständnislosen Blick von Allison einbrachte.
»Ähm ... was hat das jetzt zu bedeuten?«, fragte die Journalistin, gleich darauf setzte sich der kleine Bus wieder in Bewegung, während die letzten beigefarbenen Schafe blökend am Wagen vorbeihuschten, um sich zu ihren Artgenossen zu gesellen.
Christine seufzte leise. »Dass Karen Ihnen ein Märchen erzählt hat.«
»Oh«, sagte Allison und sah zwischen den beiden Frauen hin und her. »Ich dachte ...«
Karen schüttelte den Kopf. »Sie machen den Job noch nicht lange, oder?«
»So lange zwar noch nicht, aber ich werde zu vielen Interviewterminen mit Schauspielern geschickt«, gestand die Reporterin. »Das ist sehr interessant.« Dann fügte sie mit einem strahlenden Lächeln hinzu: »Da lernt man die ganzen heißen Typen kennen.«
Bestimmt war es nur Zufall, aber genau in dem Moment setzte Isabelle zu einem herzhaften Gähnen an, bei dem ihre Zähne aufblitzten, während sich das Fell überall am Kopf nach hinten zu ziehen schien und die Ohren wegklappten. Sollte es kein Zufall gewesen sein, konnte Christine ihrer Katze nur zustimmen, da es - zumindest ihrer Meinung nach - nichts Langweiligeres gab als Schauspielerinterviews.
Die gute Allison Quayle-Henderson war offenbar tatsächlich noch so neu im Geschäft, dass ihr bislang nicht aufgefallen war, dass Schauspieler im Interview immer alle das Gleiche erzählten, was zum Teil auch daran lag, dass die Journalisten sich von Agenten, Managern und anderen Gestalten vorschreiben ließen, über welche Themen sie nicht reden durften.
»Aber dass Sie hier geboren und aufgewachsen sind, das stimmt doch, oder?«, fragte Allison an Karen gewandt.
»Jedenfalls behaupten das meine Eltern«, erwiderte sie.
»Sie will damit sagen, dass es stimmt«, ging Christine schnell dazwischen, da sie der jungen Reporterin ansehen konnte, wie die versuchte, die Antwort einzuordnen.
Allison warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Und was machen Sie, Karen? Sind Sie auch ... künstlerisch tätig?«
»Nein, nein«, wehrte die hastig ab. »Das ist nichts für mich. Ich bin so kreativ wie ein Schimpanse ...« Karen hielt inne. »Sorry, ich wollte keinen Schimpansen beleidigen. Die können mit verbundenen Augen besser malen als ich, und vom Schreiben fange ich lieber gar...