Kapitel 1
Isabelle kauerte auf dem Mauervorsprung und beobachtete aufmerksam das Geschehen auf dem Nachbargrundstück. Murray, der Schäferhund, hatte sich hinter dem großen Strandkorb versteckt, der vor dem Teich stand. Von dort aus hatte er die Tür zum Schuppen im Blick, die jeden Moment aufgehen musste. Die Einbrecher hatten ihren Wagen so abgestellt, dass sie aus dem Schuppen kommend im Schutz der Dunkelheit durch das Gebüsch auf die angrenzende Straße gelangen konnten, um dann über die Landstraße zu entkommen.
Isabelle lauschte angestrengt und ignorierte die allzu verlockende Maus, die plötzlich aus dem Kellerfenster zum Vorschein kam und dann über den Rasen huschte. Vielleicht hatte sie Isabelle bemerkt, aber heute Nacht war ihre hektische Eile nicht nötig, denn die rot getigerte Katze hatte Wichtigeres zu tun.
In diesem Moment wurde die Klinke heruntergedrückt, und die Tür zum Schuppen öffnete sich knarrend ein Stück weit.
Weiter geschah nichts, und während Isabelle ein ungutes Gefühl beschlich, sprang Murray plötzlich auf und lief auf den Schuppen zu. Sie überlegte, ob sie ihm eine Warnung zurufen sollte, aber zum einen wollte sie ihre Position nicht verraten, zum anderen würde der Hund ohnehin nicht auf sie hören. Es war immer das Gleiche mit Murray: Sie konnten sich einen noch so schönen Plan zurechtlegen, aber wenn er plötzlich der Meinung war, in Aktion treten zu müssen, dann war der Plan vergessen, und es gab nur noch Murray.
Sie sah zu, wie er durch den Türspalt verschwand, Sekunden später folgte ein dumpfer Knall, und dann war alles ruhig. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Isabelle sprang von der Mauer. Das Gras war feucht und fühlte sich unangenehm an ihrem Fell und unter ihren Pfoten an, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Möglicherweise war Murray in Gefahr, und sie musste ihm helfen.
Vor der Tür zum Schuppen blieb sie stehen und spähte in die Dunkelheit. Von dort konnte sie Murray nicht entdecken, also musste sie weitergehen. Da der Schäferhund mit seinen Schultern die Tür weit aufgedrückt hatte, musste Isabelle sich nicht hindurchzwängen. Drinnen war alles ruhig, nicht einmal ein Atemgeräusch war zu hören.
Plötzlich raschelte etwas hinter ihr, und als Isabelle blitzartig den Kopf drehte, sah sie zwei junge Mäuse unter einem Regal hervorkommen und nach draußen flitzen, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Sie wandte sich ab. Mäuse interessierten sie jetzt nicht, schon gar nicht solche Winzlinge wie die beiden.
Vorsichtig schlich sie weiter und sah immer wieder nach links und rechts, konnte aber von Murray keine Spur entdecken. Sie wagte es nicht, auch nur irgendeinen Laut von sich zu geben, damit die Einbrecher nicht merkten, dass sie sich hier aufhielt.
Auf einmal wurde die Tür hinter ihr ganz aufgerissen, und eine große Gestalt richtete eine grelle Taschenlampe auf sie, die Isabelle dazu zwang, einen Moment lang die Augen zuzukneifen. Als sie sich gleich darauf an die Helligkeit gewöhnt hatte, erkannte sie, dass der Fremde nicht nur die Lampe auf sie gerichtet hielt, sondern auch ... eine Waffe!
Christine Bell sah lächelnd in die Runde und schlug das Buch zu. Fast hundert Gäste drängten sich in der kleinen Buchhandlung The Other Ullapool Book Store hoch oben in Schottland und hatten alle andächtig gelauscht, während sie das erste Kapitel ihres neuen Buchs vorgelesen hatte. Jeder von ihnen schien darauf zu warten, dass Christine weiterlas, und es waren schon ein Blick und ein flüchtiges Nicken in Richtung des Buchhändlers, der links von ihr gegen die Kassentheke gelehnt stand, nötig, um ihm deutlich zu machen, dass er nun wieder an der Reihe war.
Mr Malloy zuckte leicht zusammen, dann stieß er sich von der Theke ab und kam zu dem kleinen Podest, auf dem Christine mit ihrem Buch Platz genommen hatte. »Ladies and Gentlemen, einen Applaus für Miss Christine Bell, bitte«, rief er und fuhr sich nervös durch sein graues Haar, gleich darauf gefolgt vom Griff an die Nickelbrille, um sie ein Stück nach oben zu schieben.
Christine hatte diese Geste an diesem Abend schon ein paar Mal bei ihm beobachtet, und zwar immer dann, wenn er vor den Besuchern der Lesung etwas sagen musste. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich dabei, vor Publikum reden zu müssen, aber ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er sich gegen die einzige andere, seit Jahren existierende Buchhandlung in Ullapool behaupten wollte. Lesungen lockten nun mal Leute an, und die meisten würden anschließend auch ein Buch des vorgestellten Autors kaufen - und wenn es nur dazu diente, ein Autogramm zu ergattern.
Die Aufforderung ans Publikum zeigte sofort Wirkung, und wenn Christine zurückdachte, dann konnte sie sich an keine Gelegenheit erinnern - weder bei sich noch bei einem Kollegen -, bei der es keinen Applaus gegeben hatte. Ausgenommen natürlich der Auftritt von Graham Burlough, dem Kinderbuchautor, der vor einer Lesung deutlich zu tief ins Whiskyglas geschaut hatte und nach nicht mal einer halben Seite sein Publikum zu beschimpfen begann, das von ihm neue Kinderbücher kaufen wollte, obwohl er Kinderbücher - und, wie er in einem Nebensatz anfügte, auch Kinder - hasste wie die Pest. Da war der Applaus ausgeblieben, und in gewisser Weise war sein verbaler Ausrutscher auch erhört worden, weil er seit dem Tag keine Kinderbücher mehr schreiben musste, da niemand mehr etwas von ihm kaufen wollte.
Als der Applaus abebbte, erklärte Mr Malloy: »Wenn Sie Fragen an Miss Bell haben ... oder an ihre Katze ... dann möchte ich Sie bitten, sich zu melden, ich werde versuchen, Sie der Reihe nach zu Wort kommen zu lassen.«
Bei der Erwähnung der Katze sah Christine nach links, wo Isabelle auf dem Tisch neben einem Stapel Bücher zusammengerollt lag und schlief. Nicht mal der Applaus hatte die rötlich gestreifte Tigerin aufgeweckt, aber nach einer Woche hatte sie sich anscheinend daran gewöhnt, dass dieser eigenartige Lärm immer dann einsetzte, wenn ihr Frauchen eine Stunde lang laut aus diesem Buch vorgelesen hatte, in dem wieder und wieder ihr Name auftauchte.
Genauso schien ihr das Geschirr nichts auszumachen, das sie tragen musste, seit sie mit Christine auf Reisen war. Offenbar hatte sie begriffen, dass sie ohne Geschirr zu Hause hätte bleiben müssen, und das hätte bedeutet, zweimal am Tag von der Nachbarin einen Napf mit Futter hingestellt zu bekommen, ein paar Minuten lang gekrault zu werden und dann den Rest des Tages allein sein zu müssen.
In der ersten Reihe meldete sich eine ältere Frau, ihre Haare trug sie zu stark toupiert, und Rouge und Lippenstift waren nicht nur viel zu intensiv, sondern beides hatte sie so dick aufgetragen, als wollte sie als Dame-Edna-Imitatorin einen Preis gewinnen.
»Ja, Mrs Lansing?« Der Buchhändler deutete auf sie.
»Wie geht denn die Geschichte weiter?«, wollte die Angesprochene wissen, die einen leicht frustrierten Eindruck machte.
Christine zuckte etwas verdutzt mit den Schultern. »Na ja, das erfahren Sie dann, wenn Sie das Buch lesen.«
Mrs Lansing schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich jetzt aber nicht. Auf dem Plakat steht doch: >Christine Bell liest Isabelle und die sieben Kristallkugeln.< Das bedeutet doch, dass Sie das ganze Buch lesen.«
Der Buchhändler sah Christine entschuldigend an, sie zwinkerte ihm zu und grinste flüchtig. »Das tut mir leid, Mrs Lansing, aber auf dem Plakat steht: >Christine Bell liest aus Isabelle und die sieben Kristallkugeln.< Das bedeutet, dass sie nur einen kleinen Teil des Buchs liest. Überlegen Sie doch mal, Mrs Lansing. Der Roman ist fast vierhundert Seiten dick. Wie lange sollte Miss Bell denn hier sitzen und vorlesen?«
»Keine Ahnung«, schnaubte die verkappte Dame Edna. »Auf jeden Fall hatte ich mich auf mehr als das hier eingestellt. Ich habe Sandwiches geschmiert und Gurkensalat mitgebracht, um zwischendurch mal was zu essen.« Im Geschäft machte sich Gelächter breit, was Mrs Lansing mit noch wütenderem Schnauben kommentierte. »Und dafür zahle ich fünf Pfund Eintritt? Das ist ja Wucher! Wegelagerei! Da kann ich ja ...«
»Mrs Lansing, bitte, Miss Bell ist hier, um ihr Buch vorzustellen«, unterbrach der Buchhändler sie, während andere Gäste ihren Unmut über diese absurde Diskussion kundtaten.
Die ältere Frau stand auf. »Dann will ich mein Geld zurück!«
Malloy verdrehte die Augen und ging kopfschüttelnd zur Kasse. Gleichzeitig begannen die anderen Anwesenden, die Unruhestifterin mit Fünfpencestücken zu bewerfen, woraufhin die noch wütender zu keifen begann, sich aber trotzdem bückte und alles aufsammelte, was in ihre Richtung geflogen kam. Augenblicke später verließ sie von Pfiffen und Gelächter begleitet mit einer Handvoll Kleingeld die Buchhandlung.
Kopfschüttelnd kam Malloy zu Christine zurück, und als das Gejohle endlich nachließ, erklärte er betreten: »Mrs Lansing ist für solche Aktionen bestens bekannt, und ich hätte ihr auch keine Eintrittskarte verkauft, weil mir klar ist, dass das nur Schwierigkeiten geben würde. Allerdings hat ihr...