Kapitel 1
Sie war zu früh! An ihrem ersten Tag war sie zu früh im Büro! Ein Blick in die äußerst überschaubare Polizeistation von Letchham genügte ihr, um zu sehen, dass sie vor allen anderen da war. Zumindest, wenn sie von dem jungen uniformierten Polizisten absah, der hinter dem Tresen auf einem Hocker saß und in einer Computerzeitschrift blätterte. Dabei hatte sie genau diese Situation vermeiden wollen. Jetzt würde sie jeder für überpünktlich halten und glauben, sie wolle nur kontrollieren, wann all ihre Mitarbeiter zum Dienst erschienen. Na, das fängt ja gut an, dachte sie mürrisch und wollte eben um den Tresen herumgehen, da stellte sich ihr der junge Mann in den Weg.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«, fragte er und beugte sich etwas zu aufdringlich vor.
»Ja, Sie können mir meinen Schreibtisch zeigen«, entgegnete sie ein wenig genervt, weil der Constable keinen angemessenen Abstand hielt. »DCI Remington«, stellte sie sich vor und strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich bin Ihr neuer Boss, Constable ...«
Der Mann riss die Augen auf und machte einen Schritt rückwärts. »Sie ... Sie sind DCI Remington?«, stammelte er schließlich. »Aber ... Sie sind ... Sie ...«
»Ja, ich weiß, ich bin zu früh, Constable ...«, unternahm sie einen zweiten Versuch, seinen Namen zu erfahren.
»Ich ... ich dachte ... das heißt, wir dachten, dass Sie ... dass Sie ...«
Anne Remington lächelte ihn an. »Ja, schon gut. Ich traue mich morgens selbst kaum, einen Blick in den Spiegel zu werfen, aber ganz so abschreckend werde ich doch wohl nicht aussehen, oder?«
Der Constable bekam prompt einen roten Kopf. »Sorry, Madam, so war das nicht gemeint. Es ist nur so, dass wir angenommen haben, der Nachfolger von DCI Heddleswaithe wäre ... na ja, ein Mann.«
Remington nickte verständnisvoll und meinte dann ironisch: »Sehen Sie? Als Polizist sollten Sie prinzipiell nicht von irgendwelchen Annahmen ausgehen, dann werden Sie auch nicht von den Fakten überrumpelt, Constable ...«
Jetzt endlich reagierte er: »Constable Mays, Jerry Mays ... Madam«, fügte er dann noch hinzu.
»Lassen Sie das >Madam< doch bitte bleiben«, erwiderte sie. »Ganz so förmlich muss es nicht sein, wenn wir hier unter uns sind. Oder haben Sie Heddleswaithe auch mit >Sir< angeredet?«
»Ähm ... so lange bin ich eigentlich noch gar nicht hier, Madam«, antwortete er. »Ich habe erst eine Woche vor seiner Pensionierung angefangen, aber ich weiß, dass die anderen ihn wohl meistens einfach >Chief< genannt haben.«
»Damit könnte ich leben«, meinte sie.
»Geht klar, Madam ... Chief«, sagte Mays und deutete auf den rückwärtigen Teil der Wache. »Dort hinten ist Ihr Schreibtisch. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen ...«
»Nein, nein, bleiben Sie mal hier vorne. Ich will mich erst für ein paar Minuten an die Umgebung gewöhnen. Wenn Sie mir jetzt im Schnellverfahren erklären, was ich wo finde, habe ich die Hälfte davon sowieso gleich wieder vergessen.«
Mays nickte und ließ sie vorbeigehen.
Die Polizeiwache war sicher einmal auf dem neuesten Stand der Dinge, aber das musste irgendwann in den Fünfzigerjahren der Fall gewesen sein. Die Schreibtische stammten mit Sicherheit noch aus dieser Zeit, lediglich die Bürostühle waren neueren Datums, allerdings wohl auch nur, weil die ursprüngliche Bestuhlung nach dreißig oder vierzig Jahren nicht mehr zu gebrauchen gewesen war. Die Telefone schienen ebenfalls zur Originalausstattung zu gehören, jedenfalls konnte sich Remington nicht daran erinnern, sonst irgendwo jemals derart klobige schwarze Apparate gesehen zu haben, die zudem noch über eine Wählscheibe verfügten.
Dieses Büro hätte man bestimmt für viel Geld als Filmkulisse vermieten können, um von den Einnahmen eine moderne Wache zu beziehen. Allerdings wäre es dann nötig gewesen, die monströsen Computermonitore wegzuschleppen, die so wie die dazugehörigen Tastaturen und Rechner zwar noch die jüngsten Gegenstände hier waren, in einem Computermuseum aber sicherlich besser aufgehoben wären.
Sie hatte den hintersten Schreibtisch erreicht, der auf einem flachen Podest stand, als ob der Vorgesetzte über seinen Untergebenen thronen sollte. Ein wenig irritiert hängte sie ihre Schultertasche über die Stuhllehne, zog die Lederjacke aus und warf sie ebenfalls über die Lehne, dann nahm sie Platz.
Der Stuhl knarrte und neigte sich bedenklich weit nach hinten, doch bevor er kippen konnte, kam er gerade noch zum Stillstand. Remington atmete erleichtert aus und beugte sich rasch nach vorn. Sie betrachtete den Schreibtisch: Links stand der prähistorisch anmutende Monitor, am rechten Rand das noch vorsintflutlichere Telefon, dazwischen bildeten vier Stapel Akten, lose Blätter, Zeitungen, zusammengeheftete Ausdrucke und unzählige Zettel an der Schreibtischkante eine Art Schutzwall, der niemanden sehen ließ, was dahinter auf dem Tisch lag. Als sie unter der Schreibtischunterlage mehrere dünne Hefte mit größtenteils gelösten Kreuzworträtseln entdeckte, bekam sie eine Ahnung davon, warum ihr Vorgänger diese Mauer aus Dokumenten errichtet hatte.
Sie zog die Tastatur zu sich heran und fuhr den Computer hoch, was eine Ewigkeit dauerte. Als das Startbild angezeigt wurde, kam Remington aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Sagen Sie mal, Constable«, rief sie nach vorn, »haben hier alle so alte Computer, oder will mir jemand einen Streich spielen?«
»Nein, nein, Chief«, gab er zurück. »Der Chief ... also Ihr Vorgänger ... der hat wohl nicht viel mit dem PC gearbeitet, aber da fragen Sie besser die anderen. Ich weiß da nicht so richtig Bescheid.«
»M-hm«, machte sie und ließ das Thema auf sich beruhen. Mays musste sich selbst erst noch zurechtfinden, da konnte er kaum Antworten auf ihre Fragen liefern. Sie würde warten, bis die anderen ihren Dienstbeginn hatten, und im Rahmen einer ersten Besprechung, bei der sie sich ihren Kollegen vorstellen wollte, konnte sie auf die Dinge zu sprechen kommen, die geklärt werden mussten.
Dienstbeginn. Das Wort geisterte ihr durch den Kopf, als wollte es ihr etwas sagen. Schließlich fragte sie: »Wann haben Sie eigentlich Schichtende, Constable?«
»Vor einer halben Stunde«, antwortete der.
»Sie meinen: in einer halben Stunde, oder?«
»Nein, Chief, vor einer halben Stunde. Aber das macht mir nichts aus. Ich habe um zehn Uhr gestern Abend angefangen und ...«
»Wenn Sie vor einer halben Stunde hätten Schluss machen sollen, wo ist dann Ihre Ablösung?«, wollte sie wissen.
»Na, im Café Dubois, Chief«, gab er wie selbstverständlich zurück.
»Café Dubois? Das ist doch gleich nebenan auf der Ecke.«
Er nickte. »Die Kollegen treffen sich da vor Dienstbeginn und frühstücken.«
Remington schüttelte den Kopf. »Nicht, dass wir aneinander vorbeireden, Constable. Ihre Schicht endet um acht Uhr, dann kommt ein Kollege ...«
»Constable Flaherty«, warf er ein.
»... und löst Sie ab. Und dieser Constable Flaherty sitzt jetzt ein paar Häuser weiter und frühstückt, obwohl Sie vor einer halben Stunde hätten gehen dürfen und jetzt vielleicht schon zu Hause wären und schlafen könnten.«
Mays schwieg betreten.
»Wenn Sie sagen >die Kollegen<, dann heißt das, der Rest ist auch im Café?«
Widerstrebend nickte der Constable. »DI Franklin, DI Hennessy und die drei anderen Constables, Flaherty, Clarkson und Slate.«
Sie stand auf und ging nach vorn. »Tja, dann werde ich die Herren wohl mal daran erinnern müssen, wo ihr Arbeitsplatz ist«, grummelte sie.
»Ähm, Chief, ich ...«, begann Mays und eilte zu ihr.
»Ja, Constable?«
»Nun, ich möchte nicht gern, dass die anderen glauben, ich hätte sie angeschwärzt«, druckste er herum. »Als der Neue hier ist das nicht so gut ... wenn Sie verstehen, was ich meine.« Nach einer kurzen Pause ergänzte er: »Und vielleicht sollten Sie auch nicht gerade diesen ersten Eindruck hinterlassen ...«
Remington blieb stehen und überlegte. Vielleicht lag Mays gar nicht so verkehrt. Wenn sie in dieses Café stürmte und die Herrschaften ins Büro zitierte, dann würde sie vermutlich auf Widerstand stoßen, solange sie diesen Posten innehatte. Nein, es war wohl sinnvoller, erst einmal abzuwarten. Bestimmt würde sich eine Gelegenheit ergeben, diese Missstände abzustellen, ohne mit erhobenem Zeigefinger daherkommen zu müssen. Und sie hatte auch schon eine Idee ...
»Eine Frage hätte ich noch, Constable. Wann wird Ihr Kollege kommen und Sie ablösen?«
»Bislang war das immer so gegen neun Uhr«, sagte Mays und kratzte sich verlegen am...