Schweitzer Fachinformationen
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München, im Januar 1932
Es war, als hätte die Stadtvilla die Stille der gesamten Welt in sich aufgesogen. Das sonst so imposante Gebäude wirkte hilflos klein und schien von der Dämmerung des kalten Winterabends verschluckt zu werden. In den Fenstern spiegelten sich die Schatten der aufkommenden Nacht, und die Bäume des weitläufigen Parks verharrten wie in Totenstarre.
In den Räumen der Villa hatte sich eine trostlose Einsamkeit hartnäckig festgekrallt, als wollte sie mit aller Kraft jede Erinnerung an Kinderlachen und frohes Stimmengewirr vertreiben.
Pauline lauschte dem Schweigen und der Leere des Hauses. Sie lag im Bett und starrte zur Decke, die trotz des warmen Kerzenscheins kalt und erdrückend wirkte.
»Woran denkst du?«, flüsterte Konstanze und blickte besorgt in das blasse Gesicht ihrer Schwester, das sich im weichen Daunenkissen fast verlor.
»Ich frage mich gerade .«, hauchte sie leise und schloss dabei die Augen. »Ich frage mich gerade, welcher Tag der schlimmste in meinem Leben war.«
Konstanze seufzte und rückte näher an Pauline heran. Ihr war danach, sie an sich zu drücken, zu halten und ihr Kraft zu geben.
»Vor drei Jahren war ich der Meinung, dass nach Vaters Tod mein gebrochenes Herz nie wieder heilen würde. Dennoch haben wir es geschafft, Stanzerl, wir hatten uns und Mama.«
»Ja, die hatten wir.«
»Aber jetzt liegt sie neben Papa in der Gruft. Kalt, leblos, blutleer. Tot.« Tränen perlten sanft über Paulines Wangen, als wollten sie sie streicheln und ihr Trost spenden. »Fast möchte ich sie hassen für das, was sie getan hat. Warum hat sie sich uns nicht anvertraut?«
»Ich weiß es nicht.« Konstanzes Stimme zitterte, während sie ihre Hände wie zum Gebet faltete.
»Könnten wir doch nur die Zeit zurückdrehen. Schon ein paar Tage würden genügen. Alles würde ich anders machen, Stanzerl, alles.« Pauline griff nach dem Arm ihrer Schwester. »An das, was uns morgen bevorsteht, will ich gar nicht erst denken.«
Konstanze biss sich auf die Lippen und nickte Pauline verständnisvoll zu. »Lass uns nicht davon sprechen. Diese eine letzte Nacht wollen wir so tun, als ob es morgen nicht gäbe, ja?«
Pauline rückte an die Bettkante und hob die Decke an. Ohne ein weiteres Wort legte Konstanze sich neben ihre Schwester und umarmte deren vor Kälte zitternden Körper.
Oder war es die Angst vor der Ungewissheit, die sie derart frösteln ließ?
»Wollen wir dankbar sein, dass man uns diese letzte Nacht im Elternhaus gönnt.«
»Ist es denn überhaupt noch ein Elternhaus, wenn Vater und Mutter tot sind und das Haus schon immer der Kirche gehört hat? Waren wir nicht bereits nach Vaters Tod nur noch geduldet?«, fragte Pauline, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Denk nicht so schlecht. Wollen wir lieber hoffen, dass Tante Gunde, Tante Josette und Onkel Gustav es gut mit uns meinen. Und jetzt träum schön, mein geliebtes Paulchen.« Mit diesen Worten hauchte sie ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange und lauschte ihrem gleichmäßigen Atem. Konstanze selbst fand bis zum Morgengrauen keinen Schlaf. Sie beobachtete das Flackern der Kerze, die Stunde um Stunde schrumpfte, bis ihr Licht ganz erlosch. Und während sie wartete, auf die Morgendämmerung und ihren Lebensmut, hielt sie Pauline fest im Arm und schnupperte den Duft ihres seidigen Haares. Mit ihren siebzehn Jahren war sie noch nicht so weit, sich für immer von ihrer kaum zwei Jahre jüngeren Schwester zu trennen. Nach Mutters Tod hatte Tante Gunde sich bereit erklärt, sie, Konstanze, bei sich aufzunehmen und ihr eine gesicherte Zukunft zu bieten. Pauline hatte nicht so viel Glück gehabt. Mutters kinderlose Cousine wollte sie zu sich in die Provence holen.
Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied schluchzte Konstanze laut in den leeren Raum hinein. Sämtliche Möbel hatte man am Vormittag abtransportiert. Nur das Bett hatte man ihnen gelassen - und diese letzte gemeinsame Nacht hier in der elterlichen Villa. Ihr kleiner Bruder war sofort nach dem Begräbnis mit Onkel Gustav ins Allgäu abgereist. Lorenz' verzweifeltes Weinen hallte noch immer in ihrem Herzen nach. Der arme Junge würde mit seinen gerade mal neun Jahren die Mutter und die Heimat am meisten vermissen.
Er wird es schaffen, dachte sie bei sich, er muss. Dann stand sie auf und machte sich fertig für den Tag, den sie am liebsten schon hinter sich gehabt hätte.
»Konstanze, Pauline, kommt ihr?« Es war am frühen Vormittag, als Tante Gundes Ruf durch die leer geräumte Stadtvilla hallte wie ein kräftiger Windstoß, der jeden einsamen Winkel zu erreichen versuchte. Konstanze stand mit hängenden Schultern mitten im Raum und nahm den Ruf trotz seiner Hartnäckigkeit kaum wahr. Ihr müder Blick wanderte über den Parkettboden aus edlem Palisanderholz. Dabei dachte sie an ihr französisches Himmelbett mit den duftigen Spitzenvorhängen, das noch bis zum Vortag hier gestanden hatte. Die weiß gekalkten Wände waren kahl, nur an manchen Stellen erinnerten Staubränder an die Ölgemälde, die dem Raum einst farbenfrohes Leben eingehaucht hatten. Der Stuck rankte verlassen an der Decke entlang und verlief sich in der trostlosen Leere. Konstanze schloss die Augen und sog den Duft ein, der ihrem Zimmer anhaftete. Es roch nach ihrer Kindheit, ihrem Lachen und Weinen, ihrer Kleidung, den Büchern, Abenteuern, Träumen und Hoffnungen. Vor allem aber roch es nach Vertrautheit.
»Ich will hier nicht weg«, flüsterte sie und ließ sich auf die breite Fensterbank sinken. Kraftlos lehnte sie sich an die kühle Wand und rieb sich die markanten Augenbrauen.
»Bist du so weit?« Pauline stand im Türrahmen, die Augen verweint und geschwollen.
»Nein, bin ich nicht. Ich will mich nicht verabschieden müssen. Nicht von dem Haus und schon gar nicht von dir.« Konstanze ging zu ihrer Schwester. Die Absätze ihrer schwarzen Stiefel aus weichem Rehleder klackten bei jedem Schritt. Vor Pauline blieb sie stehen, legte eine Hand an ihre Wange und blickte ihr tief in die Augen. »Was soll ich nur ohne dich machen?«, flüsterte Konstanze und schnürte ihren leichten, hellgrünen Wollmantel enger um die Taille.
Pauline zuckte verloren mit den Schultern.
»Nun kommt schon, sonst verpasst Pauline ihren Zug«, rief Tante Gunde eindringlich.
Konstanze nickte und schloss die Tür zu ihren Kindheitserinnerungen. Gesenkten Hauptes schritt sie zum letzten Mal die geschwungene Marmortreppe in die Eingangshalle hinab, Seite an Seite mit ihrer jüngeren Schwester. Das Licht der Wintersonne flutete durch die Dachfenster und ließ Konstanzes kastanienfarbenes Haar in feurigen Rottönen auffunkeln.
Tante Gunde nahm die beiden mit einem verständnisvollen Lächeln in Empfang und seufzte, als sie sie zur Eingangstür geleitete - und hinaus in die Winterkälte. Mit tiefen Atemzügen sog Konstanze die eisige Luft ein und hoffte, dass die Kälte den Schmerz in ihrem Brustkorb zu betäuben vermochte.
Wenige Minuten später saßen die Frauen schweigend in Tante Gundes Automobil. Das Geknatter des Motors dröhnte in Konstanzes Kopf. Schneller, als ihr lieb war, näherten sie sich dem Bahnhof, wo sie sich von ihrer Schwester verabschieden musste. Innig drückte sie Paulines behandschuhte Finger und ließ dabei den Blick auf dem vertrauten Gesicht ruhen. Jeden Zug, jede Lachfalte, jede dunkelblonde gelockte Haarsträhne, die unter dem bordeauxroten Hut hervorlugte, wollte sie sich einprägen, damit sie die Erinnerung daran zurückholen konnte, wenn sie nachts wach lag und um ihre Familie weinte.
»Ihr seid stark, ihr schafft das«, versicherte Gunde, die um die Ängste ihrer Nichten zu wissen schien, und tätschelte Konstanze wohlwollend den Handrücken. »Und noch heute beziehst du dein neues Zimmer bei mir in der Villa. Es wird dir gefallen, wirst sehen. Deine Cousine Charlotte freut sich schon darauf, endlich nicht mehr allein mit ihren alten Eltern zu sein. Ah, da sind wir ja schon.«
Der Fahrer machte vor dem Bahnhofsportal halt und half den Damen aus dem Automobil. Der kalte Wind jagte die Frauen über die Straße wie vertrocknetes Laub. Mit einem Ruck öffnete Konstanze die schwere Tür zur Bahnhofshalle und tauchte gemeinsam mit Tante und Schwester in das laute Stimmengewirr ein. Als Konstanze die vielen Menschen zu den Schaltern und Bahnsteigen eilen sah, war sie froh, dass sie hier in München bei ihrer Tante bleiben durfte und nicht wie ihre Geschwister anderswohin ziehen musste. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die hin und her eilenden Reisenden.
Es dauerte nicht lange, da erblickte sie Tante Josette, die bereits mit dem Gepäck wartete. Pauline würde ihren Weg gehen und sich rasch in der Provence einleben, hoffte Konstanze und lächelte ihrer Schwester aufmunternd zu.
»Wir schreiben uns jede Woche mindestens einmal, versprochen? Und ich komme dich im Sommer besuchen. Schließlich will ich...
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