Schweitzer Fachinformationen
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Die Leiche lag mit ausgebreitetem Haar vor ihm. Ihre Augen starrten in die Dunkelheit. Das Blut lief wie ein Netz aus Schönheit über das bleiche Gesicht. Die Hände waren mit gekrümmten Fingern erstarrt, die Male auf der blassen Haut glänzten. Das Licht seiner Taschenlampe glitt über ihre nackten Schenkel, ihren entblößten Bauch mit den tiefen Schnitten, ihren weit aufgerissenen Mund, der in einem stummen Schrei erstarrt war.
»Brathwaite! Hier! Hier bin ich!«
Er sah den Strahl einer Taschenlampe, der durch die Dunkelheit tanzte, weit hinten im Raum. Das flackernde Blaulicht von der Straße warf seltsame Schatten.
Die Wohnung war riesig, die Wände gesäumt mit überfüllten Bücherschränken. Überall stand Gerümpel. Vorsichtig ging er auf das Licht zu.
Jemand kam ihm mit einer Taschenlampe entgegen. Er strahlte Brathwaite direkt ins Gesicht. Einen Augenblick lang ertrank alles im grellen Licht.
»Brathwaite, sind Sie das? Kommen Sie her!«
Das war die Stimme von Gaveston. Irgendwo da hinten musste er sein.
Im Vorbeigehen warf Brathwaite einen Blick in den Nebenraum. Ein paar Gestalten gingen durch das Dunkel und bestrichen mit dem Licht ihrer Lampen die verwahrloste Wohnung. Nur einzelne Fetzen wurden aus der Finsternis gerissen: ein Stück Wand mit abgerissener Tapete, eine altmodische Deckenlampe, der seltsam verdrehte Arm einer weiteren Leiche.
»Hier, hier drüben!«
Er folgte der Stimme bis zum nächsten Opfer.
Brathwaite schloss die Augen. Er hatte so etwas schon viel zu oft gesehen.
Er war bei 40 Grad in einer winzigen Wohnung in der South Bronx gewesen, wo zwölf Einwanderer aus Puerto Rico auf 20 Quadratmetern zusammengepfercht gehaust hatten und der Vater vom minderjährigen Sohn vor den Augen seiner Brüder mit einer Machete zerstückelt worden war.
In Chinatown hatte er zehn Tote im Kühlraum eines chinesischen Restaurants gefunden, die alle Spuren stundenlanger Folterungen aufwiesen. Zum Abtransport hatte nur ein einziger Leichenwagen zur Verfügung gestanden und um alle Leichen hineinzubekommen, hatten sie einigen die Arme und Beine brechen müssen. Währenddessen wurde vorne im Gastraum völlig ungerührt weiter gekochtes Hundefleisch serviert.
Einmal hatte er den luftdichten Laderaum eines Lastwagens, der drei Wochen auf einem einsamen Parkplatz in der Wüste gestanden hatte, unvorbereitet geöffnet und darin die Leichen von zwanzig erstickten mexikanischen Einwanderern gefunden. Als er sich danach auf dem Klo des Rastplatzes übergeben hatte, entdeckte er dort neben der Toilettenschüssel den abgeschnittenen kleinen Finger irgendeines armen Teufels.
Der Anblick, der sich ihm hier bot, war also für ihn nicht sonderlich erschütternd, dennoch ertrug er ihn heute kaum. Er hatte einmal zu oft solche Szenen gesehen, den säuerlichen Duft von Leichen gerochen, die sachlichen Mienen der Kriminaltechniker betrachtet und die Blitzlichter der Tatortfotografen.
Seit den Geschehnissen vor sieben Jahren war Brathwaite ständig müde. Er war müde, wenn er aufwachte, müde, wenn er das Büro betrat, müde, wenn er ins Bett ging. Er hatte schon versucht, vierzehn Stunden oder mehr zu schlafen oder nur drei Stunden oder gar nicht, aber egal, was er probierte, er fühlte sich nur noch müder. Das Einzige, was ihn ein wenig wachrüttelte, war ein Anblick wie dieser.
Als er die Augen wieder öffnete, stand Gaveston vor ihm.
»Alles in Ordnung, Brathwaite?«
»Nein, nichts ist in Ordnung.« Brathwaite beleuchte den Körper, der inmitten des Wohnzimmers auf dem Boden lag. »Männlich oder weiblich?«
»Wissen wir noch nicht. Haben Sie so etwas schon mal gesehen, Brathwaite?«
»So was Ähnliches, ja.«
Der Fotograf schoss Bilder für die Akten. Mit steifen Schritten ging er um den Leichnam herum, sorgsam darauf achtend, auf nichts zu treten.
Später war es stets seltsam, die Aufnahmen zu sehen, festgehalten vom sachlich-nüchternen Auge der Kamera. Die präzise Dokumentation des unaussprechlichen Grauens. Aufgerissene Augen, Hände, zu Krallen geformt, seltsam weiße Glieder mit blauen Malen, wie aus Wachs. Leichen sahen ein wenig aus wie Schaufensterpuppen. Sie ähnelten Menschen, aber sie waren keine mehr.
»Dort drüben ist noch eine weitere Leiche. Das Stadium der Verwesung lässt darauf schließen, dass sie schon drei oder vier Tage dort liegt. Der Gestank ist keinem aufgefallen. Man hat uns erst angerufen, als ein Stockwerk tiefer das Leichenwasser durch die Decke tropfte.«
Das Licht der Taschenlampen glitt über den verstümmelten Körper vor ihnen. Leichen hatten etwas Unbeteiligtes in ihren Gesichtern. Sie sahen aus, als wären sie unendlich weit entfernt von der Welt der Lebenden. Sie schliefen nicht, sie waren in einer fremden Dimension. Irgendetwas hatten sie erkannt, wonach alle anderen ewig suchten.
Ein wenig beneidete Brathwaite sie.
»Brathwaite, haben Sie die Schweinerei im Bad schon gesehen?« Einer von der Spurensicherung stand in der Tür des hell erleuchteten Badezimmers. In seinem weißen Schutzanzug und dem Licht eines Flutstrahlers sah er aus wie ein hell strahlender Engel des Todes. Hinter ihm konnte man die grellweißen, mit Blut beschmierten Kacheln sehen.
»Ich komme gleich«, rief er ihm zu.
»Bringen Sie jede Menge Plastikbeutel mit! So was habe ich noch nicht gesehen.«
Sie gingen die paar Meter zu der nächsten Leiche. Gaveston beleuchtete ihren unteren Bauchbereich. Die hier war weiblich. Eindeutig.
»Sie war schwanger. Achter Monat ungefähr. Durch diese Bauchwunde wurden ihr anscheinend die Organe entnommen.«
Brathwaite wollte näher herantreten, doch Gaveston hielt ihn zurück.
»Vorsicht, nicht in das Zeug treten!«
Brathwaite leuchtete auf den Boden. Eine breiige Masse schimmerte in einer Pfütze vor ihm.
»Was ist das?«
»Wissen wir noch nicht. Aber Vorsicht, Ihnen klebt jetzt etwas davon an den Schuhen. Wollen wir mal ins Badezimmer?«
Brathwaite nickte und ging auf das Licht zu.
Die Gerichtsmediziner in ihren weißen Schutzanzügen und den Atemmasken sahen ein wenig aus wie Astronauten. Er hatte sich oft gefragt, weshalb sie solche Masken trugen. Er benutzte keine. Brathwaite atmete den Dreck des Mordes in vollen Zügen ein.
Im Badezimmer war ein Scheinwerfer aufgestellt, der alles mit grellem Licht flutete. Wenn die Techniker an der Lampe vorbeigingen, warfen sie riesige Schatten, die kurz den Raum verdunkelten. Dann brach das Licht wieder hervor und tauchte alles in unerbittliche Helligkeit.
In der Mitte des Badezimmers lag der Rest einer weiteren Leiche. Zwei Typen von der Spurensicherung schabten mit kleinen Spateln rötliches Zeug von den Kacheln.
Brathwaite liebte Forensiker. Sie betrachteten das gewaltige Chaos, das sich ihnen bot, diesen Wahnsinn aus Blut, Knochensplittern und abgrundtiefer Verzweiflung, diesen Wirrwarr aus Scheiße und Schmerz, als eine Sinfonie aus ineinander verschlungenen Strukturen. Als Komposition aus Blut und Qual. Doch vor allem als Grundlage für weitergehende Ermittlungen, als wissenschaftliches Rätsel, das untersucht, vermessen und katalogisiert werden konnte. Sie setzten sich nicht schreiend, heulend oder den Verstand verlierend neben den Leichnam einer vierzehnjährigen Massenvergewaltigten, der man zum Abschluss den Schädel eingeschlagen hatte. Stattdessen entnahmen sie Gewebeproben aus der Scheide, suchten in der aufgeplatzten Hirnschale nach Spuren der Tatwaffe, analysierten die Faserreste auf dem zerrissenen Slip und sammelten Spermaspuren vom geschändeten Körper, um die DNS der dreizehn verschiedenen Täter zu sichern. Die blutige Toilettenschüssel, gegen deren Rand man ihren Schädel so lange gehämmert hatte, bis sie endlich tot war, schien für sie nur ein interessanter Fundort von Spuren. Sie tüteten das Grauen in kleinen Plastikbeutelchen ein, machten den Schrecken unter UV-Licht unsichtbar, platzierten ihre lächerlichen Schildchen neben jeden Fund, kartographierten den Horror und analysierten das Entsetzen. Sie kamen an, stellten ihre riesigen Taschen ab und machten sich sofort daran, den Irrsinn wegzuermitteln. Sie spurensicherten die Verzweiflung weg und zogen sich dabei Gummihandschuhe über, um nicht in Kontakt mit der infektiösen Wirklichkeit zu kommen. Ihre Plastikschutzbrillen machten sie blind für den Wahnsinn, der sie umgab.
Der ganze Kram nützte oftmals zwar ohnehin nichts, viel zu oft kamen die Täter wegen irgendeines Verfahrensfehlers nach dem Prozess wieder auf freien Fuß, aber zumindest fühlten die Forensiker sich besser.
Brathwaite hatte sich vorgenommen, auch so an die Wirklichkeit heranzugehen. Sich die Realität durch Ermittlungen vom Leib zu halten, einen Schutzanzug gegen das Leben an sich zu tragen, doch heute gelang es ihm nicht.
Mit Blut war ein Buchstabe auf die Kacheln über der Badewanne geschrieben worden. Brathwaite wurde kalt. Er musste sich abwenden, wollte augenblicklich sterben, doch er war zu müde dafür.
Im Spiegel über dem Waschbecken sah er sich selbst im grellen Licht. Sein Hemdkragen war leicht verrutscht, man konnte die Narben sehen. Auch diesen Anblick hätte er sich gern erspart.
Gaveston trat neben ihn.
»Alles völlig verrückt, oder? Und dieses Zeichen an den Kacheln, sagt Ihnen das was?«
»Ja, das sagt mir was.«
»Was ist das? Der Buchstabe X vielleicht?«
Brathwaite hatte das Zeichen sofort erkannt. Es...
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