Schweitzer Fachinformationen
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Trimethylaminoxid.
Vom ersten Tag meiner Unfreiheit an wurde ich von Worten verfolgt.
Ich kannte dieses Phänomen vorher nicht, hielt es zunächst für eine vorübergehende Erscheinung und schenkte ihm wenig Beachtung.
Doch ich irrte mich.
Die Worte besetzten meinen Kopf, kontrollierten mein Bewusstsein, wann immer sie wollten, und ließen sich keinerlei Zensur unterwerfen. Was sie bedeuteten, war vollkommen gleichgültig. Es genügte eine Handvoll Konsonanten, und schon nisteten sie sich in meinem Gehirn ein wie hungrige Parasiten.
Selbst heute, an meinem letzten Tag, lässt mich mein aktueller Wortverfolger nicht in Frieden. Ich lenke mich mit der Vorstellung ab, die ich schon tausendmal in meinem Kopf durchgespielt habe.
Es ist mir ein wenig unangenehm, denn normalerweise bin ich nicht so sentimental. Doch meine beste Version beginnt damit, dass die Küche sich ein besonderes Frühstück für mich ausgedacht hat, vielleicht mit einem Ei oder einem frischen Brötchen. In einer Vase steckt eine kleine Margerite, die auf einer echten Wiese gepflückt wurde, das ist wichtig, nicht von einer Blumenfarm, die letztlich auch nur ein Pflanzengefängnis ist. Eine rote Papierserviette liegt auf dem Tablett. Die kleinen Aufmerksamkeiten deuten darauf hin, dass an diesem Tag alles anders sein wird.
Nach dem Frühstück kommt Karen, meine Lieblingsschließerin, und macht als Erstes einen ihrer absichtlich schlechten Witze. Zum Beispiel, dass meine Entlassung verschoben wurde. Ich tue zunächst so, als ob ich darauf reinfallen würde, und spiele Erschrecken. Dann lachen wir zusammen, und ich überreiche ihr mein Abschiedsgeschenk. Einen Delfin, den ich in den letzten Wochen in der Werkstatt geschnitzt habe. Karen möchte einmal in ihrem Leben auf den Florida Keys mit Delfinen schwimmen, das hat Sie mir einmal anvertraut. Sie wird ihn zu Hause auf ein Regal voller verstaubter Gebilde stellen. Ich werde rot und weiß nicht, wohin ich blicken soll. Wir verabschieden uns rau, aber herzlich.
Aufrecht wie eine Majestät schreite ich durch die Flure. Vereinzeltes Lachen, Sprüche. Tränen? Nein, Tränen nicht. Das würde zu weit gehen.
Draußen scheint natürlich die Sonne. Eine Woge von Glück flutet meinen Körper (wie das ist, würde ich gern wissen), als ich durch das Tor in die Freiheit trete. Satte Technicolor-Farben. Ich gehe beschwingt ins Aus. Happy End.
Dabei mag ich keine kitschigen Filme. Aber mein Abschied von diesem Ort kann gar nicht kitschig genug sein.
Es ist noch viel zu früh. Draußen ist es noch dunkel. Bald werden sie das Licht einschalten. Ich richte mich auf und setze mich an den Bettrand. An der Zellenwand hat sich eine meiner Vorgängerinnen verewigt: Ich will endlich wieder raus! Etwas weiter unten steht: Ich schrie. Die Wände hatten keine Ohren. Das ist für ein mitteleuropäisches Gefängnis ein wenig zu dramatisch, finde ich.
Es fing alles mit einer Feuchtigkeitscreme an: Crème teintée hydratante. Sie stand in der Untersuchungshaft auf dem kleinen Bord über meinem Waschbecken, und ich konnte sie aus fast jedem Winkel meiner Zelle sehen.
Ich saß auf dem Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch: Crème teintée hydratante, ich stand am vergitterten Fenster, starrte in den steinernen Gefängnishof und drehte nur ein ganz klein wenig den Kopf: Crème teintée hydratante, ich ging abends zu Bett und setzte mich auf die Bettkante: Crème teintée hydratante.
Wo immer ich auch war, es gab kein Entkommen. Die einzige Möglichkeit war, direkt vor dem Waschbecken zu stehen und ihr den Rücken zuzukehren. Dann starrte ich auf die vollgekritzelte Wand und dachte: Crème teintée hydratante.
Bald erledigte sich das Problem von selbst, denn ich konnte mir die teure Crème nicht mehr leisten. Nivea ist als Wortverfolger völlig ungeeignet. Es fehlen die harten Konsonanten, die sich im Kopf einnisten könnten. Niiveahhh. Das gehauchte Versprechen einer Schneekönigin auf ewigen Seelenfrieden, den man im Gefängnis garantiert nicht findet.
Ich dachte, dass das ganze Wortverfolgungsproblem sich damit erledigt hätte. Aber bald wurde ich eines Besseren belehrt.
Doch das größte Problem in der Haft war die Zeit. Während die Leute draußen ständig das Gefühl haben, die Zeit sei etwas, was ihnen zwischen den Fingern zerrinnt, ist die Zeit hier drin ein zäher Teig, der sich zwischen zwei verklebten Händen immer weiter ausdehnt. Nach einer Phase der quälenden Langeweile, die auf Dauer in eine chronische Niedergeschlagenheit geführt hätte, beschloss ich, diese Zeit und mein erlahmtes Gehirn mit neuem Wissen anzufüllen.
Allerdings besaß die Gefängnisbibliothek ein seltsames Sortiment willkürlich zusammengestellter Themengebiete. Vermutlich stammten die Bücher aus diversen Nachlässen. Es gab unzählige Bildbände aus den 1970er-Jahren über die Sehenswürdigkeiten von Paris, die norwegischen Fjorde oder die unbekannten Pfade Tibets. Am Anfang machte ich den Fehler, sie auszuleihen. Bald litt ich unter einer Unzufriedenheit, die vermutlich auch Menschen hinter der Mauer gespürt haben: eine Sehnsucht nach fernen Ländern, die das Unerreichbare in einen Stand der übertriebenen Verehrung hob. Nichts schien mir auf einmal erstrebenswerter, als in das Paris der Siebzigerjahre zu fahren. Bald fühlte ich mich regelrecht krank vor Sehnsucht. Reisefieber. Also ließ ich die Folianten lieber in der Bibliothek.
Liebesromane und Krimis kamen aus naheliegenden Gründen ebenfalls nicht infrage. Daher blieb ich bei Fachbüchern. Ich entlieh ein Fremdwörterbuch, ein Fachbuch über Evolution, eines über Gehirnforschung. Am größten war aber der Nachlass eines Meeresbiologen. Ein völlig ungefährliches Gebiet, wie mir schien. Doch bald stellte ich fest, dass am Beispiel der Meeresfische die ganze Brutalität des Lebens geschildert wurde. Ich war abgestoßen, aber auch fasziniert. Von nun an widmete ich mich den Weltmeeren und ihren Bewohnern.
Alle Fachbücher lieferten zugleich Stoff für neue, komplizierte Wortverfolger. Sie nisteten sich in meinem Kopf ein, und ich wurde sie tagelang nicht mehr los. Am schlimmsten waren die unnützen Ausdrücke, die man im Alltag, zumal in einem Gefängnis-Alltag, nicht gebrauchen kann.
Heteromorphopsie. Eine Störung, bei der der gleiche Gegenstand von jedem Auge anders wahrgenommen wird.
Xenophyophoren. Träger fremder Körper.
Exaption. Die Nutzung einer Eigenschaft für etwas, wofür sie ursprünglich nicht gedacht war.
Von den meisten Wörtern weiß ich nicht einmal mehr, was sie bedeuten. Sie wurden zu bedeutungslosen Worthülsen, die in meinem Kopf pochten und den Rhythmus der langen Hafttage vorgaben.
Seltsamerweise wurde ich aber nie von Begriffen verfolgt, die etwas mit dem Gefängnis zu tun haben. Strafgefangener, Justizvollzugsanstalt, Freiheitsentzug. Ihnen fehlt schlicht die parasitäre Poesie.
Eine Mitgefangene hat mir einmal erzählt, dass sie in den mehr als zwanzig Jahren ihrer bisherigen Haft ausschließlich von dem Namen Schalck-Golodkowski verfolgt wurde. Das muss eine schlimme Folter gewesen sein. Schalck-Golodkowski, Schalck-Golodkowski, Schalck-Golodkowski. Sie war im Westen aufgewachsen und konnte sich das Mysterium dieser Belästigung nicht erklären.
So war das mit den Wortverfolgern. Sie meldeten sich nicht an. Kamen als ungebetene Gäste, die einfach nicht mehr gehen wollten. Saßen Tage, Wochen oder Monate in der eigenen Wohnstube und beschlossen schließlich, ganz zu bleiben. Und es gab keine Wortepolizei, die man anrufen konnte, damit sie auf der Stelle aus der eigenen Stube entfernt und mit einem Kontaktverbot belegt wurden.
Die Schlüssel zu den Zellentüren rasseln, meine Tür wird geöffnet, die Essensausteilerin reicht mir ein Tablett. Das Frühstück besteht wie immer aus Graubrot, Margarine, ekelhaft süßer Marmelade, die vielleicht noch nie eine Frucht gesehen hat, und einem Kaffee. Sie nennen es zumindest Kaffee, aber in Wahrheit ist es ein Aufguss von Zutaten, die es nicht verdient haben, in einem Atemzug mit Kaffee genannt zu werden. Manchmal glaubte ich, den Geschmack von Teer zu erkennen. Dann war es doch wieder die Bitterkeit der Zichorie. So muss Kaffee direkt nach dem Krieg geschmeckt haben. Kein Wunder, dass sich die Mädchen mit amerikanischen Soldaten einließen, um im Tausch Seidenstrümpfe und ein Pfund echten Bohnenkaffee zu bekommen.
Auf dem abwaschbaren Tablett in Grau: keine Blume, kein Zeichen, nichts. Ich bleibe zögernd stehen. Vielleicht hat sie mich verwechselt?
»Ist noch was?«, knurrt die Essensausteilerin. Ich stehe ihr im Weg.
»Nein, nein, alles gut! « Ich leiste mir ein Lächeln. Am letzten Tag kann ich mir das gerade mal erlauben. Sie runzelt misstrauisch die Stirn und schiebt den Wagen rabiat weiter. Ich springe zurück, damit sie mir nicht über die Zehen fährt.
Früher war Nichtstun unerträglich für mich, aber wenn man überhaupt etwas im Gefängnis lernt, dann ist es das...
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