Kapitel 1
Aufwachen ist das Schlimmste: jene ersten bruchstückhaften Sekunden des Bewusstwerdens, in denen ich versuche, die Einzelteile wieder zusammenzusetzen und mich daran zu erinnern, wer ich bin. Das meine ich nicht nur im physischen Sinn - denn der Umzug aus einem schmuddeligen ehelichen Zuhause in den Außenbezirken der Central Line in eine schicke Bude in Shoreditch entschädigt für manches. Es geht vielmehr darum, wer Ich bin, und zwar mit einem großen I. Meine Verwandlung von einer vor Bequemlichkeit blinden Ehefrau zu einem verstörten Single binnen neun Monaten habe ich noch nicht verkraftet. Es kommt einer Verbannung auf eine sehr weit entfernte Galaxie gleich, ohne Vorwarnung, die es erlaubt hätte, wenigstens einen Ersatzslip und eine Zahnbürste mitzunehmen.
Genug. Wenn ich eins schnell lerne, dann, dass Selbstmitleid fatal ist, zumal an einem Tag wie diesem, da ist dafür keine Zeit. Ich wälze mich aus dem Bett, der rechte Fuß drückt sich in ein halb geschmolzenes Kit Kat, das ich, wie ich mich verschwommen erinnere, in den frühen Morgenstunden hinuntergeschlungen habe, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf den Teppich und hoffe inbrünstig, dass es sich dabei nicht um eine Antiquität handelt. Mit seinem Blumenmuster und dem muffigen Geruch könnte er sowohl ein 5-Pfund-Schnäppchen aus einem Trödelladen als auch ein liebevoll aus einem siamesischen Palast des siebzehnten Jahrhunderts importiertes Sammlerstück sein. Wenn man mit Milly zusammenlebt, weiß man nie genau, ob man nicht ein Erbstück in Händen hält.
Ich habe heute das Vorstellungsgespräch aller Vorstellungsgespräche vor mir, ein Versuch, einen Job zu finden, der meinem an einen fröhlichen Sturzflug von der Klippe erinnernden Privatleben wieder etwas Halt geben könnte. Sollte es mir gelingen, einen Platz in Oscar Retfords Küche zu ergattern, wäre das die Mühe jahrelangen Karottenwürfelns und Geflügelausweidens wert. Kindisch drücke ich mir unter der Dusche die Daumen und versuche den teuren Lotionen zu widerstehen, die Milly dort herumstehen hat, und bleibe bei meiner ätzenden Karbolseifen-Hausmarke. Ich weiß nicht viel, dass ich diesen Job mehr als jeden anderen Job in der Geschichte der Jobsuche haben will, weiß ich allerdings mit absoluter Gewissheit.
Obwohl mir noch vier Stunden bleiben, um mein Outfit zu perfektionieren, zerbreche ich mir jetzt schon den Kopf darüber. Ich bin erst seit ein paar Wochen hier, doch mein Schlafzimmer sieht bereits aus wie ein Ramschladen, in dem sich die Besitztümer eines ganzen Hauses türmen. Hinter einem schiefen Turm aus Kisten zerre ich einen Spiegel hervor und begutachte kritisch meinen ersten Versuch. Wenn ich doch nur wüsste, ob Oscar selbst die Überprüfung vornimmt. Ich bin zwar keine Schlampe (denn wenn ich eine wäre, dann eine äußerst erfolglose mit meiner Bettbilanz von einem Mann in zehn Jahren), aber auch ich kann mich der Tatsache nicht verschließen, dass es nicht schaden kann, wenn mein Anblick gefällt. Wenn ich mich allerdings bei irgendeiner gehässigen stellvertretenden Küchenchefin vorstellen soll, die sich ihr Eigengewicht in Form von Gebäck einverleibt hat, wird sie sich von dem schwarzen Fummel à la Mad Men, den ich gerade herausgezogen habe, nicht beeindrucken lassen. Vielleicht aber doch, überlege ich und taste nach der verirrten Fleischrolle, die sich klammheimlich in meiner linken Gesäßhälfte eingenistet hat. Kummer sollte einen doch eigentlich klapperdürr machen, oder? Eine Bohnenstange war ich noch nie, aber meine Begeisterung für mitternächtliche Fressattacken, die selbst die der Fünf Freunde übertreffen, rächt sich schrecklich an meinem Hinterteil.
Aber ist es wirklich nur mein Hinterteil, das mir entgleitet? Mit einem kritischen Blick auf mein Gesicht versuche ich mich zu vergewissern, ob es tatsächlich noch aussieht wie meins. Sie kennen doch sicher die Frauen, die diese unglaublich verführerischen schmalen Katzenaugen haben? Meine erinnern, wie ich fürchte, eher an Hundeaugen, Cocker-Spaniel-Augen, um genau zu sein. Sie sind dunkelbraun, fast schwarz, unter schweren Lidern. Doch es freut mich, sagen zu können, dass mir die passende feuchte Nase und der wedelnde Schwanz fehlen. Ich habe eine Stupsnase - keinesfalls elegant, aber auch kein Zinken, der manche Gesichter wie Stonehenge aussehen lässt. Ich bin keine Schönheit im Stil von Vivien Leigh, allerdings gab mir der Umstand, dass ich verheiratet war, doch das Gefühl, so weit akzeptiert zu sein, dass ich mir keine allzu großen Sorgen machen musste. Seit ich jedoch allein bin, habe ich das Gefühl, von meinem Gesicht ständig infrage gestellt zu werden. Ist dies ein Gesicht, das noch einmal die Liebe erwecken wird? Würde Dom, wenn er mir jetzt begegnete, sich genauso zielsicher auf mich stürzen wie beim ersten Mal, oder wäre ich nichts weiter als ein Gesicht in der Menge? Als ich es direkt vor den Spiegel bringe, um es daraufhin zu untersuchen, ob meine Stirn Falten aufwirft, taucht Milly auf, elegant in einem rosa Schlafanzug. Dessen Oberteil, das an eine Korsage erinnert, legt allerdings die Vermutung nahe, dass gleich jemand kommt, um sie zum Nachmittagstanztee abzuholen.
»Was machst du denn um Himmels willen?«, erkundigt sie sich verständlicherweise.
»Wenn du nicht wüsstest, wie alt ich bin, was würdest du sagen? Wenn wir bei 10 Years Younger mitmachen würden?«
»Was ist denn 10 Years Younger?«
Milly, deren Vater von einem Marinestützpunkt zum nächsten versetzt wurde, wurde während ihrer Kindheit und Jugend um den ganzen Globus geschippert, was aber merkwürdigerweise eher nicht dazu beigetragen hat, sie besonders welterfahren zu machen. Viele ihrer Ausdrücke sind den Schwarzweißfilmen entlehnt, die ihre Mutter sich in schwermütiger und nostalgischer Sehnsucht nach England anzusehen pflegte, und ihre Kenntnis der Popkultur weist krasse Lücken auf. Unsere Mütter waren Schulfreundinnen, und wann immer Milly und ihre Mutter wieder mal nach England flüchteten, wohnten sie bei uns. Ich freute mich jedes Mal schon wochenlang im Voraus darauf und hakte die Nächte ab, die ich noch schlafen musste, bis Milly kam und ich endlich ein Mädchen als Gegengewicht zu meinen zwei älteren Brüdern an meiner Seite hatte. Ihre Eltern haben sich inzwischen in eine gottverlassene Ecke von Schottland zurückgezogen, aber dafür gesorgt, dass Milly für die vielen berufsbedingten Abwesenheiten mit dieser tollen Wohnung entschädigt wurde. Eigentlich würde ich ihr ihren Status als Scheckbuchhippie gern verübeln, doch sie ist so großzügig und bar jeder Großspurigkeit, dass ich gern darauf verzichte. Außerdem empfinde ich es immer als zweifelhaften Segen, keine finanzielle Not zu kennen: Die Arbeit bekommt dadurch leicht etwas Sinnentleertes, egal wie schwer man schuftet. Milly ist diesbezüglich ein Paradebeispiel: Sie ist blitzgescheit, hat aber, beruflich gesehen, nie ihr Glück gefunden. Im Lauf der vergangenen Jahre hat sie eine Reihe von ehrenamtlichen Tätigkeiten innegehabt, ohne dort übers Teekochen hinauszukommen und etwas Dauerhaftes und Lohnendes für sich zu entdecken.
»Es läuft nicht mehr im Fernsehen«, antworte ich und löse meinen verschwitzten Schädel vom Spiegel. »Es ging dort um Leute mit gelben Grabeszähnen, denen ein neues Leben verpasst wurde. Jetzt sag schon, kann ich so zu einem Vorstellungsgespräch gehen?«, frage ich und werfe mich in Pose. »Knapp daneben ist auch vorbei, oder?«
»Nein, es ist hübsch«, sagt sie und hält dabei ihren Kopf schief, sodass ihre blonden Locken wie eine Schaumwolke um ihr hübsches rundes Gesicht hüpfen. Dies unterstreicht das Gefühl, dass sie schwebt und nicht geerdet ist - als könnte eine plötzliche Windböe sie erfassen und mit sich reißen. Bevor ich hier wohnte und nur auf Besuch herkam, kam sie mir manchmal vor wie ein Würfel, der durch diesen riesigen Raum rollt, ohne es je zu einer Sechs zu schaffen.
»Ist es zu viel?« Dabei ziehe ich eine Fleischrolle hoch und lasse sie wieder fallen. Ich frage mich, wie viel sie wohl wiegen mag. Vielleicht emanzipiert sie sich ja und beginnt eigenständige Operationen von meiner linken Hüfte aus in Gang zu setzen. »Ich habe mir einfach überlegt, dass ich es mit meinen weiblichen Reizen versuchen sollte, wenn ich mich bei Oscar vorstellen soll. Sie geben den Kerlen den Vorzug, also muss ich mir was einfallen lassen, womit ich punkten kann.«
»Das Kleid sieht toll aus, aber... na ja, du scheinst dich darin nicht besonders wohlzufühlen. Es sieht eher aus, als würde es dich tragen.«
Ich vollführe noch einmal die Hochzieh- und Fallenlassbewegung, aber Milly winkt ab.
»Du kannst dich darin sehen lassen, diesbezüglich brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, ergänzt sie. »Es geht vielmehr darum, dass du kostümiert wirkst.«
Ich betrachte mich erneut und mustere mich aus kritischer Distanz. Manchmal kommt mir mein ganzes Leben vor wie eine Kostümierung, als säße ich mit einer Horde lockerer Typen auf einer gruseligen Halloweenparty fest, von denen keiner bereit ist, mir ein Taxi zu rufen. Die Party hat kein Ende, ein Nach-Hause-Gehen gibt es nicht.
Hör auf, weise ich mich scharf zurecht, mit Milly zusammen zu sein hat nichts Gruseliges. Die liebe Milly, ich bin ihr so dankbar, dass sie mich bei sich aufgenommen hat, dass ich zu ihr in die Wohnung kommen kann. Und das nicht auf burschige lesbische Weise, verstehen Sie, sondern weil man Freundschaften nur schlecht pflegen kann, wenn man Arbeitszeiten hat wie ich. Der Versuch, die letzten drei Monate in drei Stunden bei drei Gläsern Wein durchzuhecheln, ist eher ein Partyspiel als eine bedeutungsvolle soziale Interaktion, weshalb der tägliche...