Prolog
Dorothy Wilson stemmte eine Hand in die Hüfte und starrte den Bürgermeister von Vallantine an, als wäre er gerade aus einem der berühmten Pfirsichbäume der Stadt gestürzt und hätte sich dabei mehrfach den Kopf angestoßen. Denn ehrlich . seine Worte ergaben absolut keinen Sinn.
Um Geduld bemüht und in der Hoffnung auf etwas Erleichterung in der schwülen Hitze fächelte sie sich mit der Aktenmappe, die er ihr gereicht hatte, Luft zu. Die historische Bibliothek besaß keine Klimaanlage. Oder sonst irgendwelche modernen Annehmlichkeiten, um ehrlich zu sein. Die Bibliothek war vom Stadtgründer William Vallantine 1875 für seine Frau Katherine erbaut worden, weil sie ein Bücherwurm gewesen war. Das atemberaubende, wenn auch ziemlich heruntergekommene Gebäude im alten Kolonialstil befand sich seitdem im Familienbesitz.
Es gab kaum einen Ort auf Erden, den Dorothy mehr liebte. Und jetzt schien der Bürgermeister den Verstand verloren zu haben, weil er gerade behauptete, die Bibliothek gehöre ihr. Na ja, ihr und ihren zwei besten Freundinnen.
«Gunner Davis, bei allem gebotenen Respekt, aber ich glaube, Sie sind verrückt geworden.»
Er bedachte sie mit einem vernichtenden Blick und zog seine Hose höher - zumindest versuchte er es. Sein runder Bauch verhinderte das jedoch recht effektiv. Aber dies war eine seiner Gewohnheiten, wenn er zum Punkt kommen wollte oder etwas zu sagen hatte. Was eigentlich immer der Fall war. Gunner Davis war ein wirklich netter Mensch, aber auch ein Wichtigtuer.
«Miss Wilson, ich versichere Ihnen, ich bin absolut bei klarem Verstand.» Er fuhr sich mit den dicklichen Fingern durch sein schütteres weißes Haar, das schweißnass an seinem Kopf klebte. Auch der Kragen seines weißen Polohemds war nass geschwitzt. «Als Anwalt von Sheldon und Rosemary Brown habe ich die Papiere persönlich nach ihren Wünschen aufgesetzt.»
Er war einer von nur wenigen Anwälten in der Stadt, praktizierte aber kaum mehr, seitdem er vor zwanzig Jahren Bürgermeister geworden war. Er unterhielt immer noch seine Kanzlei auf der Belle Street und nahm Aufträge an, doch der Großteil seiner Klienten hatte seine besten Jahre um den Vietnamkrieg herum erlebt. Dorothy wusste in der Tat, dass Sheldon Brown, Nachkomme von William Vallantine, ein Klient von Gunner war. Allerdings .
«Er ist nicht tot. Und dasselbe gilt für seine Frau Rosemary.» Es fühlte sich seltsam an, Ms. Fillmore beim Vornamen zu nennen. Sie war Dorothys Lehrerin gewesen. Ihre Lieblingslehrerin, genau genommen. «Ich habe beide gestern an der Eisdiele gesehen. Fit wie ein Paar Turnschuhe. Und selbst wenn sie gestorben wären . wieso sollten sie die Bibliothek uns hinterlassen?»
Der Bürgermeister schob das Kinn vor. «Sie haben Ihnen einen Brief geschrieben. Er liegt in der Aktenmappe. Sie sind die Einzige, die heute aufgetaucht ist, also dürfen Sie den anderen die frohe Nachricht überbringen.»
Die anderen waren ihre besten Freundinnen seit . eigentlich ihrer Geburt. Schon ihre Mütter hatten sich näher gestanden als Schwestern. Sie hatten den ersten Buchclub in der Stadt gegründet. Dorothy und ihre Freundinnen waren sogar nach Romanheldinnen aus den Südstaaten benannt worden. Die Einwohner hatten die drei Mädchen die Bookish Belles, die Bücherschönheiten, getauft, noch bevor sie in den Kindergarten gekommen waren. Rebecca hatte Vallantine direkt nach der Highschool verlassen, um aufs College zu gehen, und dann woanders ihre Karriere begonnen. Sie kam nur ein paarmal im Jahr zurück in die Stadt, um ihre Großmutter zu besuchen. Scarlett lebte ebenfalls noch in Vallantine, und so, wie Dorothy ihre Freundin kannte, verspätete sie sich wahrscheinlich nur. Vielleicht.
Die ganze Sache war seltsam. Die Browns waren nicht verstorben. Himmel, in einer Stadt dieser Größe hätte Dorothy noch nicht mal ihren morgendlichen Kaffee austrinken können, bevor sie erfuhr, wann und wie - und zwar ohne sich danach erkundigt zu haben. Sie hätte die Neuigkeit von ungefähr hundert Leuten zugetragen bekommen, denn es wäre das Stadtgespräch gewesen. Die Bibliothek hatte sich immer im Besitz der Vallantine-Nachfahren befunden, und ein Brief für Dorothy und ihre Freundinnen klang verdächtig danach, als wären die beiden umgezogen. Oder weitergezogen. Oder irgendwas.
Sie drückte eine Hand an ihre schweißfeuchte Stirn. «Ich bin verwirrt.»
«Die Sache ist ziemlich klar, Miss Wilson. Sie, Rebecca Moore und Scarlett Taylor sind jetzt die stolzen Besitzerinnen der Vallantine-Bibliothek.»
«Mr. Davis», stieß sie seufzend hervor, «das ist in etwa so klar wie der Ogeechee.»
«Falls Sie mich brauchen, ich bin in meinem Büro.» Damit nickte er und watschelte durch die offene Tür davon.
Sie starrte ihm hinterher. «Was zur Hölle .?» Sie warf die Hände in die Luft und sah sich um.
Das Erdgeschoss der Bibliothek hatte ungefähr hundert Quadratmeter, mit noch mal rund fünfzig Quadratmetern im ersten Stock. Eine schmiedeeiserne Wendeltreppe mit wunderschönem Geländer führte nach oben in die offene zweite Ebene, wo das Licht durch ein großes Buntglasfenster fiel, auf dem ein Buch im Gras unter einem Pfirsichbaum dargestellt war. Die Decke war mit Kupferplatten verkleidet, und die Bodendielen aus Kirschholz stammten noch aus der Bauzeit. In der Mitte des Erdgeschosses erhob sich ein Marmortresen, groß genug, dass zwei Leute bequem daran arbeiten konnten. An der rechten, linken und hinteren Wand standen deckenhohe Bücherregale.
Das waren die Highlights der Bibliothek.
Allerdings hing ein leichter Geruch von Staub und Schimmel in der Luft. Die Bodendielen hätten schon vor zwei Jahrzehnten abgeschliffen werden müssen, und die Spinnweben an dem großen Bleiglas-Kronleuchter hatten inzwischen eigene Spinnweben entwickelt. Die Rohre und Elektroleitungen stammten noch vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. In der oberen Etage blätterte an vielen Stellen der Putz von der Wand, und Dorothy war sich nicht ganz sicher, wie viel Stabilität die griechischen Säulen dort noch boten, nachdem eine davon sich gefährlich nach links neigte.
Sheldon Brown hatte getan, was er konnte, um das wunderschöne alte Gebäude zu erhalten. Aber ihm hatten die finanziellen Mittel gefehlt . und die Spendensammlungen in der Stadt hatten auch nicht viel eingebracht. Diese Tatsache hatte ihm das Herz gebrochen, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Aber er hatte es versucht. Mit aller Kraft.
Als Kind hatte Dorothy hier viele Stunden verbracht, war in Büchern versunken, verloren zwischen den Regalen. Sie hatte nach Katherine Vallantines Geist gesucht, der laut den städtischen Legenden die Bibliothek heimsuchte. Dorothy war ihm nie begegnet, und sie vermutete, dass auch niemand anders ihn je gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte der Bürgermeister die Geschichte erfunden, um Touristen anzulocken.
Zugegeben, sie hatte oft davon geträumt, die Bibliothek zu übernehmen. Zusammen mit ihren Freundinnen. Aber das war weder wahrscheinlich noch möglich gewesen, weil sie keine Nachfahren der Familie Vallantine waren.
Stirnrunzelnd senkte sie den Blick auf die Aktenmappe, die der Bürgermeister ihr gegeben hatte, und klappte sie auf. Darin befanden sich drei Ausgaben der Besitzurkunde. Sie wirkten echt. Außerdem fand sie einen Gebäudeprüfbericht, ein Schätzgutachten und einen Briefumschlag. Sie nahm den Umschlag heraus, öffnete ihn und las den Brief darin.
An unsere Bücherschönheiten!
Vor langer Zeit haben drei Mädchen einer Lehrerin und einem Bibliothekar geholfen, die Liebe zu finden. Und das habt ihr innerhalb dieser Wände getan, die vor einem Jahrhundert von einem Gentleman erbaut wurden, der seine Frau so sehr angebetet hat, dass er ihr einen persönlichen Rückzugsort schenken wollte.
Wir möchten, dass diese Liebe fortbesteht, dass sie in der nächsten Generation weiterlebt. Aber für diese Aufgabe ist nicht jeder geeignet. Nachdem wir keine eigenen Kinder haben und wir nur euretwegen unser persönliches Happy End gefunden haben, haben wir euch erwählt. Niemand liebt und respektiert diesen Ort mehr als ihr drei jungen Damen. Unsere geliebte Bibliothek ist gefüllt mit Bänden voller Wissen und aufregenden Abenteuern, die nur darauf warten, erkundet zu werden. Ihr versteht, wie wichtig das ist und was das wirklich bedeutet. Wir halten euch für am besten geeignet, dieses Vermächtnis in Ehren zu halten, und sind uns sicher, dass ihr die Bibliothek auf eine Weise restaurieren werdet, wie es uns nicht möglich war. Ihr dürft damit tun, was auch immer ihr für richtig haltet.
Was uns angeht: Wir treten das große Abenteuer an, die Welt zu erkunden. Wir wissen nicht, wie lange wir unterwegs sein werden, aber eines Tages werden wir mit Sicherheit zurückkehren. Wenn es so weit ist, werdet ihr uns und dem Vallantine-Vermächtnis ohne Zweifel alle Ehre gemacht haben. In dieser Aktenmappe befindet sich unser Beitrag, der euch bei der Finanzierung helfen soll. Gunner Davis kann alles erklären. Wir sind euch unglaublich dankbar und sehr stolz zu sehen, zu was für wunderbaren jungen Frauen ihr herangewachsen seid.
Fröhliche Lesestunden wünschen euch
Sheldon & Rosemary Brown
Wow. O Gott! Dorothy war schockiert, und Zweifel stiegen in ihr auf, wenn auch begleitet von Hoffnung.
Mit tränenverschleierten Augen sah sie ein weiteres Mal in die Mappe - und hätte sie fast fallen lassen. Hinter den Besitzurkunden kam ein Verrechnungsscheck zum Vorschein, der auf...