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II. Die Störung ordnen
Einen Roman schreiben
Das Konzept wäre so gewesen: ich fange immer mit einer Szene aus meinem gegenwärtigen Alltag an (»die Umstände des Schreibens« usw.) und entwickle davon ausgehend ein Thema. Wie ich es ja auch mit fiktionalen Texten mache.
Der Einstieg diesmal wäre die Irritation im Zusammenhang mit einem Behördentermin gewesen, und wie man (ich), um es auszuhalten, anfängt, einen Gegentext zu produzieren, eine Formel, mit der die Störung, die die Realität ist, besprochen wird, um das Destruktive darin in etwas Konstruktives umzuwandeln. Den Text finden, der die Störung ordnet.
Dann aber ist Folgendes passiert:
dass ich schon 20 Seiten hatte, aber immer noch nichts zum eigentlichen Thema gesagt, sondern stattdessen ausschließlich darüber geklagt habe, was mich alles am Schreiben hindert.
Zusammengefasst: alles.
Die Welt.
Zusammengefasst kannst du dein Eigenes gefunden haben, aber das bedeutet noch lange nicht, das bedeutet keineswegs, nicht im Geringsten, dass deswegen etwa Extraraum und Extrazeit im Universum dafür entstanden wäre. Nix. Stattdessen: Tage, an denen sich alles und jeder dagegen verschworen zu haben scheint, dass du dein Eigenes tust. Von früh um 5, wenn du denkst, ihnen zuvorkommen zu können, bis um Mitternacht, wenn du schließlich aufgibst: Gezerr und Geschrei, wohin du dich auch wendest. »Panik ist der Zustand dieser Welt.« Selbstzitat.18 Sie arbeiten nicht absichtlich daran, dir auch noch die letzten 45 Minuten wegzunehmen, die dir heute noch geblieben sind. Das geschieht quasi nebenbei.
Es gibt weder mehr Raum noch mehr Zeit dafür, es ist nur da, was immer da war: das ununterbrochene Strömen der Welt, und das Wenigste davon ist so, dass es die Klarheit der Gedanken und der Empfindungen fördert. Zwischen dir und der Welt besteht die ungleiche Situation, dass sie: ist, während du: versuchst, etwas zu tun19. Das war von Anfang an so, es hatte bloß eine andere Gestalt. Die Welt, aus der ich kam, war im Vergleich reizarm, dafür war ihre Struktur in ihrer Repressivität so wirksam, dass man einen beträchtlichen Teil seiner Kraft dazu brauchte, sich dagegen abzuschotten. Die Welt, in der ich heute lebe, ist reich an Reizen und von ihrer Struktur her freiheitlich, was dazu führt, dass man einen beträchtlichen Teil seiner Aufmerksamkeit braucht, um sich einen Überblick wenigstens über Teilbereiche zu verschaffen.
Zu wenig Information/zu viel Information.
Die Arbeit, die du leisten musst in der Unfreiheit?/die Arbeit, die du leisten darfst in der Freiheit.
Sich gegen die Freiheit abzuschotten wäre absurd. Dafür bin ich nicht aus der SELTSAMEN MATERIE ausgezogen. Ich bin aus der SELTSAMEN MATERIE ausgezogen, um anwesend sein zu können in meinem Leben, in meiner Zeit. Ich habe neben der Unfreiheit des Systems auch die Unfreiheit der Kindheit hinter mir gelassen und darf nun flexiblere und lebendige Strategien entwickeln, um der Störung zu begegnen. Mit meinen Möglichkeiten haben sich auch meine Ansprüche geändert. Die Formel muss sich jetzt nicht mehr nur eignen, um der Enge zu entkommen, sie soll Aussagen über die Komplexität der Gegenwart treffen können, die nicht nur für dich selbst und für den Moment brauchbar sind, sondern auch für andere und über den heutigen Tag hinaus. (Bitte, nicht schießen, ich denke dabei lediglich an ein etwas erweitertes Heute. Die paar Jahre, bis man sich wieder neu anpassen muss. Fünfjahrespläne machen. Dreijahrespläne. Einjahresverträge helfen in der Regel nicht weiter.)
Ja, häufig erscheint es so, dass nicht mehr Platz auf der Welt für dich da ist als der, den dein Körper notgedrungen einnimmt, der 6 Meter breite Gehsteig reicht nicht aus, um »in Ruhe« von A nach B zu kommen, und es ist keine Minute mehr übrig vom Tag, aber du: tue es trotzdem. Erst ein Buch, dann das nächste, und wenn das fertig ist, das danach. Denn in Wahrheit ist so viel Platz da, wie dein Geist für dich in Besitz nimmt.20
»Ach«, sagte Katja Lange-Müller, »ein erstes Buch ist schnell geschrieben.«
Wann stimmt das, wann nicht?
Eins ist wahr: wenn es so wie bei mir ist, dass nämlich das erste Buch der Orientierung bezüglich des Mitgebrachten dient, wird es erst das zweite sein, in dem man tatsächlich anfangen kann, eine neue Ordnung zu installieren. Um es wieder mit den Begriffen der Märchentheorie zu sagen: das ist der Punkt, an dem der jugendliche Held alle Aufgaben, die er als solcher erfüllen musste, erfüllt und seine Belohnung (die Prinzessin und das Königreich oder zumindest die Aussicht auf die Nachfolge des alten Königs) erhalten hat. Nun muss er sich als der junge König etablieren, das heißt, herausfinden, wie er sein neu gewonnenes Reich am besten regieren kann. (Darüber erzählen die Märchen aber meist nicht. »Und er wurde ein weiser und gerechter König«, und fertig. Den Rest dürfen wir selber herausfinden. Wie man der junge König wird. Und dann, was noch viel schwieriger ist, so schwierig, dass es gar nicht alle schaffen: wie man der weise alte König wird. - Ein törichter Greis ist aus gutem Grund deprimierender als ein törichter Jüngling.)
Ich schrieb noch, wie im 1. Frankfurter Vortrag berichtet, an der letzten Erzählung in SELTSAME MATERIE, als ich erkannte, dass die in diesem ersten Buch angewendete Methode ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hatte und ich auch zum Thema das meiste, das ich zu sagen gehabt habe, gesagt habe und ich nun bereit (hungrig) war, eine reifere Methode an einem größeren Thema anzuwenden.
Sich umschauen: Was ist noch da? Was weiß ich darüber? Mit welchen Mitteln kann ich mich dem annähern?
Von meiner Beobachtungsposition aus - 28 Jahre alt, davon 19 im kommunistischen Ungarn und 9 in Ostberlin nach dem Mauerfall - war Folgendes zu sehen:
1. Die Wanderbewegung aus Osteuropa in den Westen. Darunter jene, die gegangen waren, weil sie es nun konnten und wollten (ich), und die anderen, die gegangen waren, weil sie es mussten. »Plötzlich bricht etwas auf oder aus, sagen wir: ein Bürgerkrieg, und das war's dann: sieh zu, dass du Land gewinnst.«21
An dieser Stelle war es, dass Abel Nema hereinkam und sich auf das Futon unter der Dachschräge gegenüber setzte. Unter der Dachschräge ist es dunkel, es gibt überhaupt viele dunkle Ecken in diesem Dachgeschoss, sie haben es geschafft, ein Dachgeschoss dunkel auszubauen, es liegt grauer Teppichboden, eine Rumpelkammer mit Staffelmiete. Wobei immer noch fünfmal so viel Licht hereinkommt wie in das Loch im zweiten Hinterhof, in dem du vorher gewohnt hast. Beide, das zerklüftete Dachgeschoss und den nach Wurstwaren riechenden Hinterhof, wirst du später als Wohnung für Abel Nema bestimmen, als er schon genug Körper haben wird, dass er irgendwo auch wohnen muss. Im Moment reicht ihm ein diffus beleuchteter Fleck in einer Ecke, und ich schaue mich weiter um.
Was ist noch da?
2. Die sprunghafte Veränderung im technologischen Bereich, die eine neue Art der Kommunikation und somit der Produktion und des Handels ermöglichte, »was eine ganz große neue Story ist«, wie mein Bankberater gesagt hätte, als er noch mein Bankberater war. (Das Platzen der New-Economy-Blase spülte später auch ihn davon, jetzt weiß ich von ihm nur noch in Form von Herrn Pecka in den Darius-Kopp-Romanen.)
Hier kam Darius Kopp herein, in der einen Hand ein Pizzastück, in der anderen ein halbes Glas lauwarmen Whiskys. Er warf sich, ohne A.?N. zu beachten, neben ihn auf das Ledersofa unter der Dachschräge und schaltete den Fernseher an, N24, um zu sehen, wie die Aktien stehen. 1999 standen sie noch gut.
Darius Kopp sah zu dieser Zeit noch ganz anders aus als später. Wenn ich's mir recht überlege, hatte er nur Whisky in der Hand, keine Pizza, und er hörte erst beim zweiten Glas damit auf, mit den unteren Zähnen am Glasrand zu schaben. Abel Nema war schon so, wie er bis zum Schluss blieb. Saß da, die Beine etwas femininer übereinandergeschlagen, als mir das an einem Mann gefällt, die Arme verschränkte er auch etwas merkwürdig, die Knie in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Ellbogen, seine weißen Hände leuchteten durchs Zimmer.
Was ich zu diesem Zeitpunkt schon von ihm wusste, war, dass er sich im Wesentlichen aus zwei Beobachtungen zusammensetzte:
1. Einem ungarischen Studenten, nennen wir ihn Gábor, der dringend eine Aufenthaltserlaubnis brauchte, aber so lange zögerte, seine deutsche Freundin um die Ehe zu bitten, bis er die Frau nicht mehr richtig leiden konnte und tatsächlich nur mehr eine Scheinehe hätte eingehen können.
2. Aus einem Linguisten und Hobbymusiker, nennen wir ihn Attila, der zu der ungarischsprachigen Minderheit in der Vojvodina gehörte, bei Ausbruch des Balkankriegs weder in die serbische noch in die kroatische Armee eingezogen werden wollte und so in Berlin hängen blieb.
Einer, der wollte, einer, der musste, aber beide, Attila und Gábor, hatten ein Anpassungsproblem, wie sie Migranten haben, das zu einem Problem der Identität wird: egal, ob du darauf bestehst, der zu werden, der du wirklich bist, oder ob du darauf verzichtest, um besser integriert zu sein: du hast auf jeden Fall ein schlechtes Gewissen. Das Gefühl, falsch zu sein und das Falsche zu tun.- Was Darius Kopp anbelangte (damals lief er noch vornamenslos unter dem Nachnamen »Krebs«), war es so, dass ich...
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