Schweitzer Fachinformationen
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»Und wie geht's Robs blöder Schwester?« Die englische Stimme war tief mit einem ganz leichten schwedischen Akzent.
Hannah, die gerade die riesigen Stapel mit Kisten voller neuer Ware betrachtet hatte, schnellte herum, und ihr Blick fiel auf einen hochgewachsenen mageren Mann in der Mitte ihres Ladens, der Hannah-Anna-Butik. Der Schneeregen an jenem winterlichen Oktobernachmittag in Stockholm hatte auf seinem schwarzen Mantel weiße Tupfer hinterlassen. Die Kapuze war zurückgeschoben und gab den Blick auf verstrubbeltes, blondes Haar frei, die Augen waren von einem intensiven Blau.
Sie starrte ihn an. »Nico?« Als er lächelte, verflog jeder Zweifel. »Nico Pettersson!« Ihre Teenagerjahre in Cambrigdeshire mochten fast zwei Jahrzehnte zurückliegen, aber dieses schiefe Lächeln und seine Belustigung darüber, dass Rob und sie sich gegenseitig liebevoll als »idiotischer Bruder« beziehungsweise »blöde Schwester« bezeichneten, waren unverändert. Sie war sich unsicher, ob sie ihm die Hand geben oder ihn umarmen sollte, und lächelte ihn einfach strahlend an. »Wow, was für eine tolle Überraschung! Unglaublich, dass du einfach so vorbeikommst!«
Die Winterkälte konnte ihm hier drinnen nichts mehr anhaben, und so knöpfte Nico seinen Mantel auf und zog sich den Schal vom Hals. »Du bist wirklich der einzige Mensch, den ich kenne, der Hannah Anna heißt. Wie nennt man so ein Wort noch mal, das sich vorwärts genau so liest wie rückwärts?«
»Palindrom.« Sie verdrehte die Augen. »Hab ich meiner verrückten Mum zu verdanken - und meinem Dad, der immer gemacht hat, was sie wollte. In den Englischstunden musste mein Name immer als Beispiel herhalten, aber wenigstens ist er hübsch, und man kann ihn sich gut merken. Hannah Anna Goodbody. Wer könnte den vergessen?«
Er grinste. »An deine Familie erinnere ich mich noch gut. Sie waren supernett zu mir.«
»Und du warst Robs bester Freund«, sagte sie. Wie exotisch dieser schwedische Junge damals gewesen war, der mit ihrem älteren Bruder und den anderen Kindern aus Middledip rumgehangen hatte. Er hatte eine internationale Schule besucht, und so war sein Englisch bereits gut gewesen, als er mit vierzehn zu ihnen ins Dorf zog. Sein Dad, Lars Pettersson, war gekommen, um das Eishockey-Team Peterborough Pirates zu trainieren, und vier Jahre lang war Nico das Aushängeschild der Peterborough Plunderers gewesen, der Juniorenmannschaft, in der auch schon Rob mitspielte. Dann hatte Nico ein Sportstipendium der Minnesota State University bekommen und war nach Amerika gegangen. Hannah, die auf dem Eis sicher genug gewesen war, um beim Kindertraining auszuhelfen, hatte es vermisst, ihn über die Eisbahn rasen zu sehen, wenn er voller unbewusster Anmut mit seinen Kufen beim Bremsen, Wenden und Drehen schimmernde Kristalle aufwirbelte. Vier Jahre jünger als er, war sie damals gerade alt genug gewesen, um sich zu fragen, ob sie dabei war, sich in ihn zu verlieben, als er auch schon wieder aus ihrem Leben verschwunden war. Sie hatte noch gewusst, dass er die USA ein Jahr früher als geplant verlassen und in Schweden seinen Abschluss gemacht hatte. Dann war auch zwischen Rob und ihm der Kontakt abgebrochen.
Gerade betrachtete er die Regale und Ständer voller bunter Schals, schimmernder Gürtel und schicker Lederhandtaschen, qualitativ hochwertige Geschenkartikel. »Verstehe, ein Shop für luxuriöse Accessoires mitten in der Altstadt. Echt beeindruckend.«
»Luxusartikel sind hier begehrt, es läuft ganz okay«, sagte sie. Eigentlich kam sie gerade so über die Runden, aber die Weihnachtssaison stand vor der Tür, und sie war optimistisch. Albin, ihr Freund, war Fundmanager, bei ihm liefen die Geschäfte mehr als nur okay, und deshalb stand auch sein Name im Mietvertrag. So hatte sie sich nicht mit Bürgschaften herumschlagen müssen, wo sie ja auch keine schwedische Staatsbürgerin war. Aber in der letzten Zeit hatte sie sich gefragt, ob sie nicht eine andere Lösung hätte finden sollen. Ihre Beziehung war so seltsam geworden, Spaß und Zuneigung gab es plötzlich nicht mehr. Besorgt und verunsichert, versuchte sie, mit Albin ins Gespräch zu kommen, aber er ließ sie immer wieder abblitzen und schob seinen Job vor. Und sobald es um seinen Job ging, schlug er neuerdings sofort einen herablassenden Tonfall an und sagte etwas von »superfordernd« und »stressig«. Dabei war er nur zwei Jahre älter als sie, nämlich zweiunddreißig. Und so hatte sie wenig Lust, das Thema Beziehung mit ihm zu diskutieren, aber unterschwellig ließ es sie nicht los.
In Nicos blauen Augen stand ein Lächeln. »Wie lustig, dass du ausgerechnet in meiner Heimat gelandet bist. Så du talar svenska nu?
Sie lachte und antwortete auf seine Frage, ob sie Schwedisch spreche: »Ja, jag klarar mig. Ja, ich komme klar. Ursprünglich bin ich hergekommen, um bei IKEA zu arbeiten, aber in England hatte ich meinen eigenen Laden und dann habe ich schnell gemerkt, dass ich gerne wieder meinen Namen auf dem Schild über der Tür stehen haben wollte.« Auch wenn ihr Tonfall unbeschwert klang, war ihr eine unerfreuliche Tatsache nicht entgangen.
Nico war nicht mehr der Goldjunge von damals.
Er war auffallend mager, seine Wangenknochen traten stark hervor, sein ganzes Gesicht war ausgezehrt. Auf seinem abgetragenen Sweatshirt prangte ein Fleck, groß wie eine Landkarte, seine Jeans waren schmuddelig. Die schweren Arbeitsschuhe, die er trug, sahen so aus, als hätte er sie aus einem Altkleidercontainer gezogen; er war unrasiert, die Fingernägel schwarz vor Dreck und sein Haar zu lang und ohne Schnitt.
Was war nur aus diesem strahlenden, exotischen Jungen geworden, der damals jeden in seinen Bann gezogen hatte? Groß, schlank und sportlich, war er für die Jungs ein Idol gewesen und für die Mädchen ein Schwarm.
»Und was machst du so?«, fragte sie. Dann schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht gerade harte Zeiten durchmachte und eine derart direkte Frage nur ungern beantwortete. Sie unterbrach sich hastig. »Hast du schon was vor? Ich wollte heute Abend die neue Ware auspacken und umdekorieren. Deshalb mache ich jetzt kurz zu, um noch eine Kleinigkeit zu essen. Warum kommst du nicht mit, dann können wir ein bisschen reden?« Sie drückte sich eilig an ihm vorbei und drehte das Türschild von öppet auf stängt. Er verströmte einen Geruch nach Erde und Vegetation, der sie zurückschrecken ließ, nicht vor ihm, aber vor dem Gedanken, er könnte die Nächte unter freiem Himmel verbringen. Bei diesem Schneeregen musste das fürchterlich sein. Sie erschauderte. Das hier war ihr dritter Winter in Schweden, und in Albins Wohnung an der begehrten Straße Nybrogatan hatte sie bereits einen ganzen Schrank voller Mäntel, Schals, Stiefel zum Wandern und für den Schnee sowie haufenweise Thermokleidung.
Und was hatte Nico gegen die Winterkälte?
Ihr Lächeln musste mittlerweile aufgesetzt wirken, und sie suchte hinter dem Tresen Zuflucht. »Ich könnte dir erzählen, wie es Rob so geht . und so weiter.« Ihr Redefluss verebbte. Falls Nico sich in Stockholm wirklich gerade nur so über Wasser hielt, war es vielleicht nicht sehr taktvoll, ihm von Robs Liebesglück mit seiner umwerfenden Verlobten Leesa in Cambrigdeshire zu erzählen. Aber sollte sie ihn nicht trotzdem wenigstens zu einer warmen Mahlzeit einladen? Dann war ein Fast-Food-Snack unter alten Freunden ungezwungener als ihn in das schicke Apartment in Östermalm mitzunehmen, das aus Steuergründen der Firma von Albins Mutter überschrieben war.
»Ich sehe nicht gerade ordentlich aus«, sagte er und blickte stirnrunzelnd an seinen kaputten Jeans herunter, die nicht wirklich modisch waren. Er knöpfte seinen Mantel wieder zu, als wäre ihm gerade wieder bewusst geworden, wie er aussah.
Die Vorstellung, dass er, hungrig und ausgezehrt wie er war, wieder in die eiskalte Abenddämmerung verschwinden könnte, war Hannah unerträglich. »Macht überhaupt nichts.« Sie dimmte das Licht herunter und hakte sich bei ihm unter. »Ich esse nicht gern allein. Ich hänge dann nur bei Instagram rum oder antworte auf E-Mails. Ein bisschen zu plaudern ist schön.«
Sie dachte einen Augenblick lang schon, er würde ablehnen, aber er murmelte, »okay«, und ließ sich bereitwillig aus dem Laden dirigieren, und während sie die Tür abschloss, wartete er, ganz in seinen Mantel verkrochen und die Hände in den Taschen vergraben.
Der Schneeregen stach Hannah ins Gesicht, aber ihr war klar, dass die Kälte der späten Oktobertage nichts war im Vergleich zu Schnee und Eis, die der kommende Winter bringen würde. Sie zog die Kapuze hoch, lief die Köpmangatan hinunter, bevor Nico doch noch seine Meinung ändern konnte, und plaudernd überquerten sie den Stortorget, einen mit Kopfsteinpflaster bedeckten Platz, auf dem bald der Weihnachtsmarkt stattfinden würde. Die hohen kunstvoll verzierten Gebäude in Salbeigrün, Aprikosen- und Ockergelb, die schmalen Häuserfronten mit geschwungenen Giebeln, erinnerten sie an das Bild auf der alten Quality-Street-Dose, die ihre Großmutter in der Küche aufbewahrte.
»Ich bin gerade erst dabei, mein Geschäft aufzubauen. Meine Assistentin Julia, die an diesem Wochenende frei hat, spricht neben Schwedisch auch Deutsch und English, und so können wir uns mit den meisten Touristen verständigen. Sie ist ein absoluter Glücksfall.« Dieser Satz stammte eigentlich von Albin, er hatte Julia nämlich auch gefunden, vielleicht war sie in seinen Augen deswegen ein Glücksfall. Julia, in Schwedisch wie Yule-ee-ah ausgesprochen, mit Betonung auf der ersten Silbe, war eine hübsche...
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