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Veilchenpralinen
Der Laden hatte schon geschlossen. Für gewöhnlich machte er später zu, so gegen neun Uhr, wenn nicht noch ein Nachzügler kam, weshalb sie dann ein paar Minuten länger warten mussten, ehe sie das Rollo herunterlassen konnten. Auch an diesem Trauertag war hier nichts anders gewesen. Andrea, der schon sein halbes Leben hier arbeitete, ging als Letzter, als die Nacht bereits hereingebrochen war.
»Buonanotte, bella . Versuch, dich etwas auszuruhen«, riet er mir mit traurigem Lächeln, drückte mir einen Kuss auf die Wange und den Schlüsselbund in die Hand.
So hätte Nonna es gewollt. Sie hatte immer voller Stolz erzählt, dass der Laden in den knapp hundert Jahren seines Bestehens nur an den Weihnachtstagen geschlossen gewesen war. Der Laden war ihr Heim, ihr Leben. Ich seufzte. Dieser Ort hier roch nach Zuhause, er roch nach ihr. Es war ein einzigartiger Geruch, salzig und süß zugleich; nach Holz und Kaffee, nach Gewürzen und Schokolade, nach Geräuchertem .
Meine langsamen Schritte hallten in dem leeren Raum wider. Im Vorbeigehen strich ich mit den Fingerspitzen über den kalten Marmor des Tresens. In diesen Räumen reiste ich in der Zeit zurück, nicht nur in meine Kindheit, sondern auch sehr viel weiter, in eine andere Epoche, in ein anderes Jahrhundert. Der Laden hatte sich in den letzten hundert Jahren nur wenig verändert. Alles war noch wie früher, die Zementfliesen, die verzierte Holzdecke, die Kristallleuchter, die Eichenwandschränke mit den Holztafeln im Art-déco-Stil, die von Hand bemalten Steindosen, die geflochtenen Körbe und die Holzkisten sowie die alte Waage und die von den Kunden bewunderte Kasse der Marke National mit ihrer filigranen Verzierung und den Tasten, die an die einer alten Schreibmaschine erinnerten.
»Komm, Gianna. Hilf mir, die Ravioli in die Theke zu stellen.« In meinem Kopf hörte ich die Stimme meiner Großmutter ganz deutlich, als stünde sie hier mit ihrer makellos weißen Schürze und den mehlbestäubten Händen, nachdem sie die Vitrine mit den frischen Nudeln bestückt hatte. Ich lächelte. Doch auch das Lächeln konnte meine Tränen nicht aufhalten. Es war mir egal; jetzt, da ich hier allein war, störten mich die Tränen nicht. Den ganzen Tag über hatte ich nicht geweint, hatte ich mich beherrscht, und ich spürte, wie das Weinen mich erleichterte. Da meine Nase lief, suchte ich in meiner Tasche nach einem Taschentuch. Die Tasche war viel zu klein und so voll, dass ich meine Hand kaum hineinbekam, um darin herumzuwühlen.
»Immer wenn man den Pflegestift sucht, findet man das Taschentuch, und mit dem Handy ist es das Gleiche.«
Ohne aufzusehen, erkannte ich Carlos Stimme und fühlte mich ein wenig beschämt. »Gianna, du bist hart wie Stein, du weinst nie.« Das hatte ich, seit ich denken konnte, so oft gehört, dass ich es inzwischen selbst glaubte oder zumindest vorgab, es zu tun.
»Scheißtasche .«, murmelte ich und zwang mich, meine Stimme fest und gelassen klingen zu lassen.
»Hier.«
Ich nahm das Taschentuch, das er mir reichte, sah noch immer verlegen nach unten, wischte mir unbeholfen über Nase und Wangen und meinte, diese Geste müsste ausreichen, um meine Tränen versiegen zu lassen. Wütend stellte ich dann aber fest, dass dem nicht so war, dass ich das Weinen nicht kontrollieren konnte; ich, die ich immer alles unter Kontrolle hatte, insbesondere was meine Gefühle betraf.
Während ich diesen angespannten Monolog mit mir selbst führte, nahm Carlo mich in den Arm.
»Komm schon . hör auf, immer die Starke zu spielen.«
Diese Worte reichten aus, dass ich mich von meiner Traurigkeit übermannen ließ. Ich kuschelte mich in die Arme meines Bruders und gab mich dem Schmerz hin, den wir beide empfanden.
Wenige Minuten später hatte ich mich beruhigt, auch ohne dagegen anzukämpfen, und war in einer Art Benommenheit versunken. Wir hatten uns auf den Boden gesetzt, an unseren Lieblingsplatz hinter den Gemüsekisten, den Rücken an die Schubladen mit den Klebebändern gelehnt, unter dem Regal mit den Konserven, die passata und anderes Gemüse enthielten. Hier hatten wir uns als Kinder versteckt, um uns Streiche auszudenken, hatten Kronkorken geschnippt oder gerätselt, welche Haarfarbe der nächste Kunde haben würde, der hereinkam.
Ich hatte die Schuhe ausgezogen. Mit Pfennigabsätzen über die Pflastersteine des Friedhofs zu laufen, war eine Tortur gewesen, und meine Füße schmerzten. Barfuß, kraftlos, die Schminke nach den Tränen im Gesicht verschmiert, als wäre ich nach einer durchzechten Nacht gerade aufgewacht, suchte ich Trost bei einem Teller Veilchenpralinen. Carlo hatte sie aus dem Kühlregal geholt und darauf vertraut, dass sie unseren Schmerz etwas lindern würden.
Wir beide liebten Veilchenpralinen, alle waren verrückt danach. Es waren die einzigen in Barcelona, vermutlich die einzigen weltweit. Früher, während der Glanzzeit des Ladens, waren die Leute, nur um Veilchenpralinen zu kaufen, aus allen Teilen des Landes und sogar aus dem Ausland angereist. Das Rezept dafür stammte von unserer Urgroßmutter, und sie hatte es ihrer Tochter, unserer Nonna, vererbt, genau wie fast alle anderen Rezepte. Jede Woche hatte Nonna sie in einer alten kupfernen Gussform zubereitet, und dann hatte das gesamte Hinterzimmer nach geschmolzener Schokolade und einer Veilchencreme geduftet, die einem Parfüm für Nase und Gaumen gleichkam.
Ich nahm eine Praline und biss mit den Schneidezähnen hinein, begann so mit dem Ritual, das ich mir angewöhnt hatte. Die dünne Schicht dunkler Schokolade splitterte mit einem Knacken und gab die samtweiche Creme frei, die in meinen Mund floss. Ich schloss die Augen und genoss den süßen Geschmack der Blumen und den leicht bitteren des Kakaos. Was für ein Genuss nach den salzigen Tränen!
»Wer wird jetzt die Pralinen machen? Wer wird sich um all das hier kümmern? Was sollen wir nur ohne sie tun?«
Diese letzte Frage kam höchst ungelegen. Ich wünschte, ich hätte sie nicht gestellt. Als könnte die Tatsache, es nicht auszusprechen, in diesem Moment die Realität des Todes meiner Großmutter zurückhalten. Als wäre nichts passiert. Als würde es weitergehen wie zuvor. Ich fürchtete, erneut loszuweinen. Also erstickte ich mein Schluchzen mit einer weiteren Praline.
Natürlich hatten wir beide gewusst, dass unsere Großmutter nicht für immer bei uns sein würde. Aber wir hatten diese Tatsache zum Schutz unserer eigenen naiven Gefühle verdrängt und unser Leben weitergelebt. Und nun wurden wir mit dieser Realität voll vertagter Entscheidungen konfrontiert, vor allem aber mit der bei Waisen typischen Sehnsucht und dem Gefühl des Verlassenseins, die es uns unmöglich machten, an etwas anderes zu denken. Schließlich war Nonna nicht nur unsere Großmutter gewesen, sondern auch unsere Mutter, unser Vater . unsere einzige Familie. Sie war die Säule, die das Geschäft am Laufen hielt: Die Cucina dei Fiori, ein geschichtsträchtiger Name für den hundertjährigen Laden italienischer Lebensmittel und Spezialitäten gegenüber dem Mercat de la Boqueria.
Nonna war unsere einzige Bezugsperson gewesen. Genau wie unsere Urgroßmutter, die wir bisnonna nannten, denn wir unterhielten uns in der Sprache unserer Vorfahren. In unserer Erinnerung war sie immer schon sehr alt, aber voller Energie gewesen, wenn sie zwischen der Konditorei und dem Tresen des Ladens herumhantierte und den Angestellten oder auch ihrer Tochter Anweisungen erteilte, wie ihre Rezepte korrekt ausgeführt werden mussten. Sie verfügte über eine Autorität, die ihr die Gründung des Ladens in den 1920er Jahren verliehen hatte.
An unsere Mutter hingegen konnte vor allem ich mich nicht erinnern. Auch Carlo vermutlich nicht, obwohl er ein paar Jahre älter war. Sie war gestorben, als wir beide noch sehr klein waren. Von ihr wussten wir nur das, was Nonna uns erzählt hatte. Und unsere Großmutter hatte, was ihre Tochter anging, sehr klare Worte gefunden. Sobald wir Teenager waren und ein besseres Verständnis von der Welt und ihren Widersprüchen hatten, sobald Carlo begann, die Vergangenheit zu beschönigen, klärte sie uns nach und nach über unsere Mutter auf.
Sie erzählte uns davon, wie sie vor ihrem 18. Geburtstag von zu Hause abgehauen war. Wie es schien, war sie mit einem angeblich holländischen Freund durchgebrannt, um in einer Hippiekommune auf Formentera zu leben. Von dort war sie mit einundzwanzig Jahren zurückgekommen, den Namen des Holländers auf der Schulter tätowiert, im sechsten Monat schwanger, und jede ihrer Poren hatte den unangenehmen Geruch von Marihuana verströmt. Sie hatte ihr Kind zur Welt gebracht, angefangen, im Laden auszuhelfen, und mit den Drogen aufgehört. Es hatte ganz den Eindruck gemacht, als wäre sie zur Vernunft gekommen. Doch nach wenigen Monaten war sie erneut schwanger, wieder ohne jede Spur des Vaters. Daraufhin war ich zur Welt gekommen. Unsere Mutter hatte an postnatalen Depressionen gelitten. Sie war erneut verschwunden, zunächst nur für ein paar Tage, dann für mehrere Wochen. Sie war immer nur dann zurückgekommen, wenn sie Geld brauchte . Nonna hatte sofort gewusst, dass sie rückfällig geworden war. Eines Abends war dann das Auto, mit dem sie unterwegs war, von der Straße abgekommen und in eine Schlucht gestürzt, wobei es sich mehrfach überschlagen hatte, bis nur noch ein unförmiger Haufen Blech übrig war. Sie war mit einem Mann unterwegs. Beide hatten Kokain und Alkohol im Blut.
Das waren die unschönen Schilderungen von meiner Mama . Es fühlte sich eigenartig an, sie »Mama« zu nennen, das war ein viel zu inniges Wort...
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