Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
"Und du, wann stirbst du wohl?" Das steht auf dem Zettel, den die junge Lehrerin Raquel an ihrem ersten Tag an der neuen Schule findet. Kurz nachdem sie erfahren hat, dass ihre Vorgängerin Viruca sich das Leben genommen hat. Warum, kann ihr keiner erklären. Wurde Viruca wirklich von ihren Schülern in den Tod getrieben, wie ihr Exmann behauptet? Raquel hat schon bald Grund genug, diese gewagte Hypothese zu glauben. Denn die Schüler scheinen mit ihr das gleiche perfide Spiel zu wiederholen - bis auch sie mit den Nerven völlig am Ende ist ... Eine beängstigend realistische Geschichte, die mit harmlosen Schülerstreichen beginnt und sich zu einem atemberaubenden Psychothriller entwickelt Ausgezeichnet mit dem Premio Primavera 2016
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Gründe für den schlimmsten Stress folgende sind: der Tod eines geliebten Menschen, das Ende einer Liebesbeziehung und ein Umzug.
Der Tod eines geliebten Menschen: passt. Oder besser gesagt: passt genau.
Umzug: der, den mein Mann und ich gerade in Angriff nehmen. Wir geben unsere Wohnung im Montealto-Viertel von A Coruña auf, wo wir die letzten sechs Jahre gelebt haben.
Das Ende einer Liebesbeziehung: Das sehe ich kommen, wenn wir uns verdammt noch mal nicht einigen können, was wir wegwerfen und was wir behalten sollen.
»Diesen Mantel hast du nicht mehr angezogen, seit du auf der Uni warst.«
»Den hat mir aber mein Vater geschenkt. Viele Erinnerungsstücke an ihn habe ich ja nicht.«
»Germán, hatten wir nicht verabredet, dass es jetzt langsam reicht mit dem: >Mein Vater ist vor Kurzem gestorben<?«
»Aber es ist doch nicht einmal vier Monate her .«
»Okay, dann probier ihn mal an. Wenn du wirklich meinst, dass er dir noch steht, dann kommt er in die Umzugskisten.«
Germán zieht ihn über und blickt in den Spiegel.
»Na, wie findest du ihn?«, fragt er. Im Spiegel sieht er etwas, das ihm nicht gefällt, fährt sich mit der Hand übers Haar und seufzt missmutig. »Es werden immer weniger. Ich glaube, ich habe während der Monate im Krankenhaus viele verloren. Niemand sagt dir etwas über die Begleiterscheinungen, wenn dein Vater krank ist.«
»Du wirst schon keine Glatze kriegen.«
»Das will ich hoffen. Gefällt dir der Mantel?«
Ich schaue ihn an und weiß nicht genau, was ich antworten soll.
»Er sieht entsetzlich aus«, gibt er sich geschlagen. »Hast du dich tatsächlich in mich verliebt, als ich dieses Ding anhatte?«
»Eher, als du es ausgezogen hast.«
Germán beginnt, den Mantel mit übertrieben lasziven Bewegungen auszuziehen und trällert dabei eine anzügliche Melodie.
»Tut mir leid, die Wirkung ist nicht mehr die gleiche«, sage ich mit gespieltem Ernst. »Mein Höschen ist ganz trocken.«
Germán muss lachen. Ein ansteckendes Lachen. Vielleicht sind wir deshalb nach zwölf Jahren noch zusammen. Weil wir manchmal miteinander lachen können. Dabei fällt es mir seit der Geschichte mit seinem Vater von Tag zu Tag schwerer, ihm ein Lächeln zu entlocken. »Die Geschichte mit seinem Vater« ist nichts anderes als dessen Tod. Komisch, wie wir versuchen, den Tod aus unserem Leben herauszuhalten, sogar aus der Sprache. Die Geschichte mit seinem Vater.
Tere meint, ich klinge wie eine alte Schachtel, wenn ich über meine Beziehung zu Germán spreche. Eine alte Schachtel von mindestens fünfundvierzig. Sie findet nämlich alles alt, was oberhalb unseres eigenen Alters von vierunddreißig liegt. Deshalb hat sie sich jetzt darauf verlegt, mit ein oder zwei Typen pro Woche ins Bett zu steigen. Sie will das letzte Jahr nutzen, das ihr noch vor dem körperlichen Verfall bleibt. Ich antworte dann, dass ich immerhin schon seit dem zweiten Jahr an der Uni mit Germán zusammen bin. Zwölf Jahre liegen hinter uns, eine Hochzeit, zwei Fehlgeburten, der Tod seines Vaters, der Tod meiner Mutter, vier Umzüge, seine zweieinhalb Jahre ohne Job, die immer länger zu werden scheinen. Obwohl er nie zugeben würde, dass er arbeitslos ist. Eigentlich schreibt er ja, nur dass er nicht schreibt und, weil er nicht schreibt, immer depressiver wird. Dieser Beschreibung müsste man noch eine hässliche Geschichte hinzufügen, die wir beide aber lieber vergessen wollen. Wir versuchen das so sehr, dass ich manchmal denke, unsere Ehe beschränkt sich nur noch darauf: zu vergessen, was geschehen ist. Wir erwähnen es nicht mal mehr. Theoretisch haben wir es längst vergessen. Beide glauben wir verbissen, dass es ein gemeinsames Leben danach gibt, und das probieren wir jetzt auch. Vielleicht ist es bitter, das zuzugeben, aber der Tod meiner Mutter und der seines Vaters haben uns dabei geholfen, durchzuhalten. In den schwierigsten Momenten haben wir uns gegenseitig sehr gebraucht.
Zu diesen beiden Tragödien kommen noch meine Versuche, die Abschlussprüfung als Lehrerin zu bestehen. Und jetzt die Reiserei, diese Vertretungsjobs, die ich an den entlegensten Schulen überall in Galicien übernehme. Denn ich habe zwar die Prüfung nicht bestanden, bekam jedoch ausreichend gute Noten, um als Vertretung zu arbeiten. Wenn eine Lehrkraft drei, vier Wochen oder auch ein paar Monate ausfällt, springe ich ein. Ich bin Vertretungslehrerin. Tere hat mir sogar ein T-Shirt drucken lassen: »Vertretungslehrerin - nicht zu entmutigen«.
Ja, stimmt genau. Was soll ich denn sonst auch machen? Meine Arbeit macht mir halt Spaß, selbst wenn ich die Schüler nie so lange unterrichten kann, wie ich möchte. Es hat mich nicht von Anfang an zum Lehrerberuf hingezogen. Im Gegenteil, eigentlich wollte ich nie an die Schule. Doch als ich das Unterrichten dann ausprobierte, fand ich schnell Gefallen daran. Vielleicht geht es mir irgendwann wie so vielen Lehrern, der Beruf hängt mir zum Hals raus, ich sehe, wie die Jahre vergehen, wie ich alt werde und die Schüler im Gegensatz zu mir noch immer genauso jung und energiegeladen sind. Aber im Moment kann ich mir das nicht vorstellen. Und außerdem gibt es ja auch Lehrer, die bis zum Schluss mit Begeisterung dabei sind, oder? Warum soll ich nicht eine von denen sein?
Diesmal habe ich Glück gehabt. Ich übernehme eine Vertretung von fast sieben Monaten. Das ist über ein halbes Schuljahr. Da werde ich mich wie eine echte Lehrerin fühlen. Mehr als sechs Monate, in denen ich die Schüler sich entwickeln sehe, ihnen weitergeben kann, was ich weiß. Das ist vielleicht nicht besonders viel, aber ich denke, zwei, drei Sachen kann ich ihnen schon beibringen. Wenigstens ist es lang genug, um in ihnen die Liebe zur Literatur, zu den Büchern zu wecken. Okay, okay, ich bleibe besser auf dem Teppich, ich klinge ja schon wie der Lehrer aus dem Club der toten Dichter. Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden, und dass ich schon ein gewisses Alter erreicht habe - »Dreiundreißig ist kein gewisses Alter, meine Liebe, ein gewisses Alter beginnt mit sechzig«, würde Tere sagen -, macht mich zu einem ziemlich realistischen Menschen.
Die Vertretung ist außerdem und zu Germáns Freude an einer der zwei Schulen in seinem Heimatort, und zwar genau an der, wo er Schüler war. Zufall? Schicksal? Oder passiert das manchmal einfach so?
Und deshalb ziehen wir jetzt um. Germán kommt mit. So haben wir es beschlossen. Besser gesagt, er hat es beschlossen. Doch eins der Geheimnisse, um eine Ehe am Leben zu erhalten, ist es, in der Mehrzahl zu sprechen, auch wenn einer eine Entscheidung trifft und der andere nicht ganz einverstanden ist. Wenn du im Plural sprichst, glaubst du schließlich selbst, dass es eine gemeinsame Entscheidung war, und kommst besser damit klar.
Außerdem muss ich meinem Mann eins zugestehen: Germán ist schon das ganze letzte Jahr über ein bis zwei Mal pro Woche nach Hause gefahren, erst, um seinen kranken Vater zu pflegen, und dann, um sich um seine Mutter zu kümmern. Er hat es satt, dauernd unterwegs zu sein. Dies ist eine tolle Gelegenheit für uns beide, um in angenehmer Umgebung noch einmal neu anzufangen. Germáns Heimatort ist eine Kleinstadt mit zwölftausend Einwohnern tief in der galicischen Provinz, eine Gegend voller Geschichte, nebelverhangen, mit vielen Brücken aus der Römerzeit, vielen heißen Quellen, viel Grün, ein paar Barockklöstern, viel Fremdenverkehr im Sommer, aber im Grunde ein Dorf. Ah, und von der Krise gebeutelt: Einst ging es den Leuten dort gut, weil es eine große Konservenfabrik gab. Die machte aber pleite, und das ganze Städtchen gleich mit. Alles in allem haben sechstausend Menschen in der Region ihre Arbeit verloren. Die Arbeitslosenquote ist die höchste im ganzen Land. Und man darf den Ort niemals »Dorf« nennen, da sind sie beleidigt. Für sie ist es eine Stadt. Germáns Familie lebt fast komplett dort. Trotz des Dramas mit meinem Schwiegervater gibt es für Germán keine bessere Umgebung als seine Familie. Man muss zugeben, sie haben immer zusammengehalten, und die Stürme des Lebens haben sie noch mehr zusammengeschweißt. Sie können Krach haben, sich anschreien, sich die schlimmsten Sachen an die Köpfe werfen, doch nichts kann sie auseinanderbringen. Ich glaube, Germán muss in der Nähe seiner Leute sein, um das Andenken seines Vaters zu wahren und den Verlust zu verkraften. Darin sind wir ziemlich verschieden.
Insgeheim fürchte ich, wenn man mich nach den sieben Monaten an eine andere Schule versetzt, beschließt Germán, dass es jetzt reicht mit der Umzieherei und wir einfach in seinem Heimatort bleiben sollten. Vielleicht fällt ihm sogar ein, ein für alle Mal das Schreiben zu vergessen und in den Familienbetrieb einzusteigen. Ich dränge ihn zwar nicht dazu, aber es fällt mir schwer, ihn leiden zu sehen. Seine Unfähigkeit, mehr als eine halbe Seite pro Tag zu Papier zu bringen, lässt ihn schier verzweifeln. Die fehlende Inspiration versetzt ihn in einen Zustand der Lähmung, aus dem er nur schwer wieder herauskommt. Und während er sich anfangs immer auf mich gestützt hat, um diese düsteren Phasen zu überwinden, funktioniert das jetzt nicht mehr richtig. Er hat das Gefühl, ich kritisiere ihn zu viel. »Schon gut, Frau Professor .«, sagt er dann. Deshalb möchte er seine Familie in der Nähe haben, bei ihr fühlt er sich geborgen. Dort ist er wieder der Sohn, der immer alles richtig macht, der Talentierte, der Klassenbeste und der Klügste der Familie. Und wenn wir vielleicht doch noch Kinder bekommen, dann wäre es, so meint er, auf jeden Fall...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.