Schweitzer Fachinformationen
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Mehr als fünfzehn Jahre lang blieb Mutter weg. Als sie wieder auftauchte, übergab sie mich meinen Großeltern. Ich war noch keine zwei Jahre alt. Danach habe ich nie mehr von ihr gehört.
Am 1. August 1980 verbringt mein Großvater die Nacht schlaflos in seinem Büro. Er schreibt letzte Anweisungen nieder, zum Umgang mit allem, was ihm an Besitz noch geblieben ist.
Auf liniertem Papier verfasst er mit Durchschlag in zweifacher Ausfertigung eine Vollmacht. Das Haupthaus, den Grundbesitz, die Geschäfte, die Lastwagenflotte überlässt er dem Schicksal. Gemeint ist damit die entgeltlose Nutzung aller Güter der Queiroz da Fonseca durch Caculeto, seine rechte Hand seit Silva Porto. "Kümmere dich gut darum - bis auf Weiteres", schließt er. Das ist alles, was er von Caculeto als Gegenleistung erwartet.
Die militärischen Auseinandersetzungen im Hochland hatten an Intensität zugenommen und mit der Bombardierung des wichtigsten Zwischenpostens hatte sich die Knappheit an Lebensmitteln und Treibstoff zum dramatischen Mangel gesteigert. Nicht einmal die Verbindungen meines Großvaters in höchste Kreise des Militärs hatten es ihm ermöglicht, die Vorräte so weit aufzufüllen, dass sie für die Versorgung der Familie gereicht hätten. Meiner Großmutter Elisa gegenüber klagte er, man ernähre sich nur noch vom "Staub des Krieges".
Die Hoffnung, dass Rosa zurückkommen würde, war längst vergeblich, vielleicht sogar lebensgefährlich geworden. Die Gewehrschüsse auf die Schaufenster seines Geschäfts vor gerade einmal acht Tagen hallten Großvater noch in den Ohren. Resigniert fügte er sich in die Einsicht, dass Gefühle für undankbar gewordenes Fleisch und Blut nun dem Umzug der Familie nach Lissabon nicht mehr im Weg stehen durften. Sollte ihm etwas zustoßen, hätte Elisa niemanden mehr. Fünf Jahre nach Ausbruch des Bürgerkriegs waren die wenigen nahen Bekannten, die sie überhaupt noch in Angola hatten, längst in die Hauptstadt Luanda geflohen.
Wie er es sich an eiskalten, frühen Augustmorgen zur Gewohnheit gemacht hatte, öffnet Großvater das Bürofenster. Er sieht gern den dichten Nebel des cacimbo hereinziehen und sich mit dem Zigarettenrauch mischen, den er in die Luft bläst.
"Eine Unverschämtheit!", ruft er empört aus. "Ich mache, was ich will, und nicht, was andere von mir verlangen. Ich mache nicht, was andere von mir verlangen", wiederholt er noch drei Mal mit kräftiger Stimme und spürt, wie sich vor Wut seine Muskeln verhärten. Immerhin, seinen Stolz haben die Schüsse ihm nicht nehmen können.
"Das ist eine Kampfansage. Diese Hurensöhne. Wofür halten sie sich?!", fragt er, ohne darauf eine Antwort zu finden.
Mühsam setzt er sich wieder hin und sagt nichts mehr.
Mit seiner eckigen großen Hand streicht er sich über den Bart, drückt befangen den rechten Daumen aufs Kinn und kneift die Augen zu. Gleichzeitig drückt er mit dem Zeigefinger gegen den Steg seiner Hornbrille mit den großen Gläsern. Der Finger versucht - als sei dies irgendwie möglich - auf die Schwerkraft der Tränen zu wirken, die ihm nun übers Gesicht fließen. Er zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche, wischt sich die Augen trocken. Dann versucht er, ebenfalls mit dem Taschentuch, die blauen Farbspuren vom Durchschlagpapier von seiner Hand zu entfernen.
Nach und nach wird er ruhiger. Er bleibt kurz still auf dem Stuhl sitzen, die Augen starr auf den Standaschenbecher gerichtet. Kippen der Marke AC, halb geraucht, liegen darin zwischen der Asche verbrannter Papiere. Er greift nach dem Benzinfeuerzeug, klappt es auf, dreht mit dem Finger das Zahnrad über dem Feuerstein, richtet die Flamme noch einmal auf den Teil der vertraulichen Unterlagen, der sich bis dahin noch geweigert hatte zu verbrennen. Als alles zu Asche geworden ist, nimmt er einen letzten Schluck aus dem Whiskyglas und wischt über den Schreibtisch.
"Gleich geht es los", denkt er mit einem Blick auf die Uhr. Es ist zwanzig vor sieben. Die nächtliche Ausgangssperre ist schon vorbei.
Er steckt das Feuerzeug, die Zigaretten, den Füllfederhalter in seine linke Hemdtasche. Dann schließt er das Fenster, nimmt seine Aktentasche und sein Magnum-Gewehr. Er steckt den Schlüssel von außen ins Schloss der Bürotür und lässt ihn dort stecken.
Durch die Stille im Haus hallt sein militärischer Schritt noch lauter. Als er das große Zimmer betritt, packt dort Großmutter Elisa gerade die letzten Sachen ein. Großvater hat den Eindruck, sie habe abgenommen; mager ist sie wie ein Kleiderhaken. In den siebenunddreißig Jahren, in denen sie jetzt verheiratet sind, sieht er Elisa zum ersten Mal ohne Ehering. Er sagt nichts. Es ist nicht der Augenblick für Empfindlichkeiten.
"Liebe Elisa, in zehn Minuten müssen alle beim Jeep sein", befiehlt er und schlägt die Tür wieder zu.
Als Großmutter mit mir und ihren Töchtern, meinen Tanten, beim Jeep ist, stehen die Koffer schon da, alle warten in ihren Autos. Wir sollen eskortiert werden, von acht Männern in drei Geländewagen.
Dass alles so lange braucht, liegt an den Schatten, die uns verfolgen. Es sind Dona Bia, Hermínia und Cândida. Sie gehen hinter uns, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, mit erhobenen Armen, die Handflächen offen zum Himmel. Sie weinen und stimmen ein trauriges Singen an. Sie hoffen noch auf ein Wunder.
In einer letzten Umarmung zum Abschied wechseln Arme die Körper, Gesichter die Augen und wiederum diese die Seele.
Trotz aller gut gemeinten Beteuerungen meines Großvaters ist den Frauen klar, dass es kein Wiedersehen geben wird. Man nimmt nur mit, was man auch tragen kann. Dona Bia, Hermínia und Cândida wären Übergepäck für die Queiroz da Fonseca. Auf dem Aufbruch unserer Familie lastet der Tod derer, die uns das Leben gaben und die wir zurückließen.
Großvaters capangas hatten vereinbart, die Fahrzeugkolonne über Schneisen abseits der großen Straßen zu führen, um Hinterhalte und die gefürchteten Claymore-Antipersonenminen zu meiden. Als wir schon unterwegs sind, kommt von Großvater über das Funkgerät und zum Erstaunen aller die Anweisung, auf die Hauptstraße einzubiegen.
"Wir fahren ins Dorf des soba", sagt er und alle wundern sich. Seine Anweisung nicht zu befolgen oder nach Gründen zu fragen wagt niemand.
Je näher wir dem Dorf kommen, desto deutlicher wird, dass das offensichtlichste Zeichen des Krieges die Stille ist, die sich über alles gelegt hat. Selbst das trockene Gras rechts und links der Straße hält den Atem an.
Im Auto bleibt hartnäckig nur mein Weinen zu hören. Mit weit aufgerissenem Mund schüttelt mein Kopf hin und her, sucht vergeblich nach Hermínias Ammenbrust. Meine Tanten und Großmutter versuchen, mich zu beruhigen, meine Verzweiflung bringen sie nicht zum Verstummen. Hermínia und ihre Brust sind nicht mitgekommen.
Es ist zwanzig nach acht. Der Morgennebel hat sich um diese Zeit schon verzogen. In der Ferne sieht man, was von dem mächtigen Afrikanischen Feigenbaum, der mulemba, des soba noch übrig ist. Das einst üppige grüne Blätterdach ist nur noch eine dürre Krone.
"Der Krieg verschlingt unsere Würde, lange bevor wir ihn selbst spüren", denkt António mit Blick auf den Baum.
Großvater steigt als Erster aus dem Geländewagen. Er macht den Kofferraum auf und zieht einen schweren Leinensack heraus. Er sagt uns, wir sollten ebenfalls aussteigen und mit ihm kommen. Großmutter, Tante Francisca und Isaltina gehorchen. Caculeto will eifrig - "Die Damen sind bei mir sicher" - mitkommen, das Schießgewehr in der Hand, aber Großvaters Zeigefinger malt augenblicklich eine Art Kreis in die Luft. Caculeto versteht die einfache Geste - "Wer hat gesagt, dass du etwas tun sollst?" -, macht kehrt und setzt sich wieder hinters Steuer.
Soba Katimba kommt seinem Freund lächelnd entgegen. Noch bevor er Großvater mit einer Umarmung begrüßt, verleiht er seiner Freude Ausdruck:
"Oh kizua kia kufua kimoxi."
Großvater erwidert das Sprichwort:
"Man stirbt nur an einem Tag, zwei Mal stirbt niemand."
Sie umarmen sich und küssen sich rechts und links auf die Wange.
"Diese cabíris werden getötet", versichert der soba.
"Ich bin wie das Kudu, die Antilope. So schnell kriegen sie mich nicht.", erklärt Großvater.
Mein Schreien wird lauter und nun auch von wildem Gestrampel begleitet.
"Das Kind will die Erde spüren", sagt Katimba und deutet auf den Boden.
Es stimmt. Kaum hat man mich ins Gras gesetzt, höre ich auf zu weinen.
Katimba blickt voraus und sieht Widrigkeiten auf seinen Freund zukommen:
"Die Tochter gerät nach der Mutter .", knurrt er mit zusammengebissenen Zähnen und meint mich.
Nach ausgiebiger Begrüßung begeben sich Großvater und Katimba unter den Feigenbaum. Der massive Ebenholzstuhl des soba steht nicht mehr da. Auch keine Sitzgelegenheiten mehr für die Besucher.
Großvater geht wie Katimba in die Hocke und lehnt sich gegen den Stamm des mulemba.
Diesmal geht es bei seinem Besuch nicht um die übliche Schachpartie mit dem soba.
"Haka!", ruft Katimba aus und setzt sich nun ganz auf den Boden. "Es ist so ermüdend", fährt er mit seinem Lamento fort. "Kinder von unterschiedlichen Vätern, aber doch aus dem gleichen Bauch. Sie kämpfen gegeneinander, vergewaltigen ihre...
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