KAPITEL 1
Modena
Das exakte Geburtsdatum von Enzo Ferrari ist bis heute umstritten. Laut offizieller Dokumente ist er am 20. Februar 1898 zur Welt gekommen, doch Ferrari behauptete immer, es sei der 18. Februar gewesen - der Tag, an dem ihm seine Mutter bis zu ihrem Tod im Jahr 1965 stets ein Geburtstagstelegramm schickte, das mit den Worten »Deine dich liebende Mutter« schloss.1 In seiner Autobiografie führte er die Diskrepanz von zwei Tagen zwischen seiner Geburt und deren Eintragung auf besonders starke Schneefälle zurück, die seinen Vater daran gehindert hätten, das Standesamt in Modena zu erreichen.2 Diese Version wurde zu Ferraris Lebzeiten von allen akzeptiert.
Wenn man sich allerdings Unterlagen anschaut, werden für diesen Zeitraum nirgends starke Schneefälle in Modena erwähnt. Die Wetteraufzeichnungen der Stadt beschreiben den 18. Februar als »kalt und regnerisch«, erwähnen aber keinen Schnee. Tatsächlich war der Winter 1898 einer der wenigen des 19. Jahrhunderts, in dem in Modena überhaupt kein Schnee fiel.3
Und dann ist da noch die Tatsache, dass Enzos Vater das Standesamt der Stadt niemals erreichte. Die Geburt von Enzo Anselmo Giuseppe Maria Ferrari wurde von der Hebamme Teresa Allegretti angemeldet. Dass die Registrierung erst am frühen Nachmittag des 24. Februar anstatt in den ersten Stunden nach seiner Geburt stattfand, ist die wahrscheinlichste Ursache für den Datierungsfehler.4
Die echte Frage muss also lauten, warum die Registrierung, mangels starker Schneefälle, erst sechs Tage nach Enzos Geburt erfolgte, obwohl die Gesetze eine Eintragung unverzüglich nach der Geburt vorschrieben. Die Antwort findet sich direkt auf der Geburtsurkunde - handschriftlich vom Standesbeamten verfasst und über viele Jahre von allen übersehen. Nachdem er »die Geburt überprüft« hatte, befreite er die Hebamme davon, »mir das Kind wegen seines Gesundheitszustands zu zeigen«.5 Der kleine Enzo wurde erst sechs Tage nach seiner Geburt registriert, weil sein Überleben bis dahin ungewiss war. Zu dieser Zeit starb in Italien jedes vierte Kind vor seinem fünften Geburtstag und der Tod von Neugeborenen in den ersten Stunden oder Tagen nach der Geburt war nicht ungewöhnlich.
Die Geschichte vom schweren Schneefall klingt so, als hätten die liebevollen Eltern sie erfunden, um ihren Sohn vor der nackten Wahrheit zu schützen, warum er seinen Geburtstag am 18. Februar feiert, während in den offiziellen Papieren der 20. Februar steht. Möglicherweise hat Enzo irgendwann die Wahrheit erfahren, doch zu diesem Zeitpunkt war die Geschichte vom Schneefall mit ihren romantischen Verwicklungen und den zwei Geburtsdaten bereits Teil seiner Legende, sodass er es vielleicht einfach vorzog, die Dinge so zu belassen, wie sie waren.
Wenn also im amtlichen Dokument der Zeitpunkt seiner Geburt mit 3 Uhr morgens am Sonntag, dem 20. Februar 1898, angegeben ist, können wir davon ausgehen, dass Enzo Ferrari bereits am Freitag, dem 18. Februar, frühmorgens zur Welt kam.
Enzo wurde unweit seines Elternhauses in der kleinen Kirche Santa Caterina, auf der anderen Seite der Bahngleise, getauft.6 Er erhielt den Namen Enzo Anselmo, doch der zweite Name wird in Italien selten erwähnt und taucht normalerweise nur in offiziellen Papieren auf. Anselmo Chiarli war sein Patenonkel, ein Freund seines Vaters, der zusammen mit seinen Brüdern ein erfolgreiches Weingut in Modena bewirtschaftete.7
Enzos Vater Alfredo war ein Schlosser aus dem benachbarten Städtchen Carpi, wo Enzos Großvater unter der Kolonnade des Portico del Grano mit Blick auf den zentralen Platz eine kleine Drogerie führte.8 Alfredo wurde am 15. Juli 1859 geboren9, in dem Jahr, in dem Modena ins Königreich Italien aufgenommen wurden. Nachdem er eine Lehre in einer Schlosserei in Carpi beendet hatte, heiratete er und zog nach Modena, um in der Gießerei Rizzi bald zum technischen Direktor aufzusteigen. Mit mühsam erspartem Geld eröffnete er einige Jahre vor Enzos Geburt eine eigene Schlosserei.10
Alfredo achtete auf seine Kleidung und trug einen großen Schnurrbart, wie es damals üblich war. Obwohl er viel Aufmerksamkeit in seine Arbeit steckte, lud er seine Familie gern ins Theater ein und fand auch an der Musik Geschmack. In seiner Jugend hatte er Cello gespielt und im Haus gab es ein Klavier.11 »Er pflegte eine gute Kultur«,12 schrieb an seine Geschäftspartner Briefe in klarer, fester Handschrift, mit der er teilweise die Literatur des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts nachahmte. So schrieb er beispielsweise »7mber« statt »September« (»sieben« heißt auf Italienisch »sette«, im römischen Kalender war der September der siebte Monat).13
Bei Enzos Geburt war Alfredo ein wohlhabender mittelständischer Unternehmer, der Brücken und Überdachungen für die Eisenbahn baute. Vierzig Jahre nach der Vereinigung des Königreichs Italien wuchs das staatliche Eisenbahnnetz rapide an und Alfredo Ferrari, ein rastloser Arbeiter und sorgfältiger Verwalter, profitierte davon. Sein Unternehmen beschäftigte je nach Auftragslage zwischen zehn und dreißig Arbeiter.14
Die direkt neben dem Wohnhaus der Familie erbaute Schlosserei war etwa 90 Meter lang und mit einem Wellblechdach geschützt.15 An der Backsteinfassade war ein Schild angebracht: Costruzioni Meccaniche Alfredo Ferrari. Ein paar große Türen führten in einen begrünten Innenhof und zwei Fensterreihen ließen Tageslicht in die ansonsten unbeleuchtete Werkstatt.
Alfredo erledigte alle Aufgaben, die in seinem Unternehmen anfielen: als Manager, Konstrukteur, Buchhalter, Schreibkraft .16 Enzo sollte diese Lektion niemals vergessen: Wichtig ist, »die Dinge zu ordnen [und] über alles sorgfältig Buch zu führen«.17 Für den jungen Enzo war sein Vater ein lebendes Beispiel für Pflichterfüllung und starken Individualismus - vor allem als Geschäftsmann. Alfredo zog es vor, allein und vollständig autonom zu arbeiten statt in Partnerschaften, auch wenn dadurch das Risiko genauso geteilt würde wie der Gewinn. Seine Philosophie wurde durch das geschäftliche Credo unterstrichen, das Enzo erlernte und niemals vergessen würde: Um erfolgreich zu sein, sollte man keinem Partner Rechenschaft ablegen müssen, sondern unabhängig sein. Als er seine eigene Firma gründete, erinnerte sich Enzo daran, was ihn sein Vater gelehrt hatte - in lustiger Abwandlung, aber mit ernsten Absichten: Die Anzahl der Partner in jeder Firma muss immer eine ungerade Zahl sein - und möglichst »weniger als drei«. Damit war genau das gemeint, was sein Vater gemeint hatte: Keine Geschäftspartner!
Seine Mutter Adalgisa war eine geborene Bisbini. Eine wunderschöne Frau mit langem, dunklem Haar und markanten Gesichtszügen. Sie war freundlich und charmant und erweckte auch nach ihrer Hochzeit mit Alfredo Aufmerksamkeit bei anderen Männern.18 Sie wurde am 3. Juni 1872 im Dorf Marano sul Panaro, etwa 20 Kilometer südlich von Modena geboren.19
Adalgisa lehrte Enzo einfache Lebensweisheiten: »Ein Mensch, der gesund ist, ist reich, ohne es zu wissen.«20 Vor allem aber vermittelte sie ihm die festen Grundsätze, niemals aufzugeben, in der Arbeit stets einen Schutz vor den Rückschlägen des Lebens zu finden und im morgigen Tag immer einen neuen Anfang zu sehen.21 Es sollte auch eine schwierige und turbulente Beziehung werden, aber 67 Jahre lang war seine Mutter Enzos wahrer Bezugspunkt.
Das Familienleben war alles andere als harmonisch. Der Altersunterschied von fast dreizehn Jahren zwischen Alfredo und Adalgisa sorgte für ständige Tumulte innerhalb und außerhalb des Hauses. Beide waren mit ausgeprägten und starken Persönlichkeiten gesegnet und sie stritten sich oft und heftig - über nahezu alles und auf theatralische Art und Weise. Enzo gab selbst zu, dass die ständigen Streitigkeiten und unflätigen Ausdrücke einen großen Einfluss auf sein Wesen und seine Persönlichkeit hatten.22
Enzos Bruder Alfredo - genannt »Dino« - war eineinhalb Jahre älter als er. Die beiden Brüder teilten sich einen ungeheizten Schlafraum im zweiten Stock des Hauses neben der Werkstatt. Im Erdgeschoss befand sich ein großer Lagerraum für Werkzeuge und andere wichtige Dinge, darüber die Wohnung mit vier Zimmern. Trotz seiner Lage am Rande einer norditalienischen Stadt mit 50.000 Einwohnern hatte das Grundstück noch immer ein stark ländliches Flair. Hinsichtlich des Grundrisses und der Möblierung war das Haus spartanisch. Der einzige Luxus, den sich Alfredo, abgesehen von seinem geliebten Klavier, leistete, war eine Treppe aus rotem Marmor. Die Erinnerung an die »rosa« Marmortreppe sollte Enzo stets in Erinnerung bleiben.23
Enzo war keineswegs ein »schwieriger Junge«, allerdings bei Weitem nicht so diszipliniert...