Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Der schmutzig gelb beleuchtete Tunnel spuckte ihn aus wie ein Riesenfisch einen alten Angelköder. Helles Licht schlug ihm entgegen, und er setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Sie waren in zehn Minuten verabredet. Er lag gut in der Zeit und würde sogar etwas zu früh dort sein.
Er fuhr an der Segelschule vorbei, in deren Hinterhof alte Boote wie aufgebahrt standen. Brüchiges Holz, abplatzende Farbe, rostiges Metall unter einer trockenen Staubschicht. Es sah aus wie ein Friedhof. Ein Mann saß im Schatten eines Baumes vor dem Eingang und las in der Zeitung, an dem kleinen Kai rechts warf ein Fischer seine Angel aus. Der Monte Baldo war über den türkisfarbenen Teppich aus eisglattem Wasser hinweg klar und deutlich zu erkennen. Es war ungewöhnlich windstill heute. Aber meistens frischte es gegen Nachmittag auf.
Während er im Schritttempo durch den Ort fuhr, spürte er die unheilvolle Präsenz der dunklen, mächtigen Wand über ihm. Sie war wie eine finstere Gestalt, übergroß und tödlich, die nur darauf wartete, aus dem Hinterhalt anzugreifen. Seine Nackenhaare sträubten sich, Kälte breitete sich unter seiner Haut aus. Er fühlte sich so klein wie eine Küchenschabe, die jeden Moment zertreten werden konnte. Dreihundertfünfzig Meter hoch und senkrecht wie mit dem Messer geschnitten ragte die Steilwand von Campione über allem auf.
Der gesamte Ort ist dem Tod geweiht, dachte er, als er ausstieg.
Sein Equipment lag im Kofferraum. Ein Stück zu Fuß über die kleine Piazza, dann in das rote Haus. Zweiter Stock. Der Name auf der Klingel war vergilbt.
»Buongiorno, Luca.« Signora Muro lächelte ihn freundlich an. Sie war ehrlich erfreut über seinen Besuch, das konnte er ihr ansehen.
»Buongiorno«, entgegnete Luca und stellte seine beiden Koffer im Flur ab.
»Heiß heute«, sagte sie und wischte sich ihre Hände am schwarzen Rock ab.
»Ja, kein Wind«, bestätigte Luca.
»Kommen Sie.« Sie wies mit einer einladenden Geste ins Wohnzimmer. »Wollen Sie erst mal einen Kaffee?«
»Gern.«
Luca nahm Platz, und Signora Muro verschwand in der Küche, wo sie wohl schon alles vorbereitet hatte, denn sie kam kurz darauf mit einem gefüllten Tablett zurück. Sie goss den Kaffee ein und prostete ihm zu. Doch da hatte sich ihr Lächeln bereits abgeschwächt, und ihre leidvollen Fältchen um den Mund vertieften sich. Sie wusste, dass sie nun bald wieder über den Tod ihrer Tochter sprechen musste.
Luca trank schlürfend einen Schluck Kaffee. Es war angenehm kühl in der Wohnung. Sie hatte die hölzernen Fensterläden geschlossen. Lichtstreifen fielen durch die Lamellen.
»Und, kommen die Touristen immer noch?«, fragte er.
»Ja, die Stammgäste, wie man hört. Aber in den meisten Fällen sind es Tagesausflügler. Bleiben wollen die wenigsten, auch wenn es so billig ist.«
»Die Mutigen sind wohl mehr die jungen Leute, was?«
»Ja, das stimmt. All die Wassersportler .«
Aus ihrem Mund klang das so, als hätte sie das Wort kürzlich in einer Zeitschrift gelesen und benutzte es nun, um gebildeter zu klingen. Sie trank und stellte die Tasse etwas zu laut ab.
»Ist schon wieder lange her, dass ich da war«, sagte Luca. Er sagte es so beiläufig, als wäre er ihr Enkel oder ein Neffe.
»Ja, die Zeit vergeht .« Sie senkte den Blick, ohne den Satz zu beenden, und Luca konnte nicht sagen, ob sie meinte, dass die Zeit schnell oder langsam verging.
»Ich würde heute gern ein paar Aufnahmen machen. Wir können erst mal so sitzen bleiben und weiterreden. Später hätte ich gern, dass Sie alltägliche Dinge tun, so wie sonst auch, und ich nehme Sie dabei auf. Wäre das in Ordnung?«
Sie schürzte die Lippen. »Ja, schon.«
Luca trank seinen Kaffee aus.
»Schön, dann hole ich mal meine Sachen.«
Sie nickte nur und wartete ergeben.
Luca kehrte mit zwei Kameras zurück, von denen er eine auf einem Stativ positionierte und Signora Muro über den Sucher in die richtige Einstellungsgröße brachte. Sie ordnete sich mit verlegenen Handbewegungen die Haare. Die zweite Kamera stellte er neben seine Knie, um eine Nahaufnahme zu ermöglichen.
»Soll ich schon abdecken?«, fragte sie.
»Nein, lassen Sie nur«, sagte Luca und schenkte sich eine zweite Tasse ein. Die Kameras liefen bereits. So wollte er Signora Muro die Angst vor der Aufnahme nehmen. Sie sollte sich nicht beobachtet fühlen, um sich so natürlich wie möglich zu verhalten. »Der ist viel besser als diese neumodischen Kaffees, die man jetzt überall bekommt«, lobte er und entlockte ihr damit ein Lächeln.
»Ich ziehe vielleicht weg«, presste sie nach einer Pause hervor und begann das Gespräch so quasi von allein.
»Ach, wirklich?« Luca war überrascht.
»Ich werde nicht jünger, und dieser Ort .« Sie drehte ihre Handflächen nach oben und betrachtete sie, so als könnte sie darin lesen, was sie tun sollte. »Es ist schwer zu erklären. Campione ist im Grunde gar kein Ort mehr. Es ist so was wie eine Piazza geworden. Nein, das ist der falsche Ausdruck. Campione ist wie . wie ein Vergnügungspark, ja. Die Leute kommen hierher, um zu baden, zu segeln und zu surfen. Leben tut hier niemand mehr, alles steht leer. Und am Abend, wenn sie wieder fort sind, herrscht überall diese Stille .«
Luca versuchte sich zu entspannen und lehnte sich langsam zurück. Er wollte jetzt keine Fragen stellen und gab ihr einfach etwas Zeit.
»Wissen Sie, es sieht ja ganz hübsch aus, wenn hier abends alles beleuchtet ist. Aber es ist tot.«
Sie erschrak über diesen Ausdruck und zuckte zusammen.
»Ich habe eine Cousine oben in Vesio. Ich ziehe zu ihr. Sie hat noch etwas Platz in ihrem Haus, seit ihr Mann gestorben ist.«
»Dann sind wir ja bald Nachbarn, ich wohne auch oben. In Pregasio«, sagte Luca freundlich, aber Signora Muro blieb ernst.
»Es war ein Zeichen damals, die Lawine. Ich soll hier nicht mehr sein. Niemand sollte das.«
»Ein Zeichen?«, wiederholte Luca und beugte sich vor.
Signora Muro nickte nachdenklich. »Gott hat diesen Ort verlassen, und wir sollen das auch. Ich bete jeden Tag zu ihm. Immer wieder fragte ich ihn, warum er Lucia zu sich geholt hat, aber ich bekam keine Antwort. Bis ich verstand, dass er mir längst etwas mitgeteilt hatte. Campione ist etwas Besonderes. Es war mein Leben. Mein Mann und ich haben hier gearbeitet. Jetzt ist er tot, meine Tochter auch, und ich sollte nicht mehr hier sein.«
»Sind Sie Gott böse?«
Sie blickte auf. Ihre Augen waren feucht und gerötet.
»Ich war es. Oh, ganz bestimmt. Aber wir müssen uns fügen und seine Zeichen deuten. Es hat alles einen Sinn, wissen Sie? Vielleicht erkenne ich ihn jetzt noch nicht. Aber später .«
»Hilft Ihnen das, den Tod Ihrer Tochter zu verarbeiten?«
»Ja.«
Es war eine kurze Antwort, und er sah, dass sie ins Grübeln gekommen war, also hakte er nicht weiter nach. Ihre Tochter war das einzige Todesopfer der Steinlawine gewesen. Sie hatte in einem Restaurant gearbeitet und war nach Feierabend noch spät allein auf der Straße unterwegs gewesen. Sie hatte es wohl kommen hören und war geflüchtet, doch ein Felsbrocken verletzte sie am Kopf, und sie fiel ins Koma. Nach einem Monat im Krankenhaus war sie schließlich gestorben, ohne zuvor noch einmal aufgewacht zu sein. Inzwischen erinnerte nur noch der gesperrte Tunnel an die Katastrophe. Und ein Metallgitternetz, das man an der Steilwand befestigt hatte, um die Geröllmassen davon abzuhalten, im Ort weitere Verwüstungen anzurichten. Nachdem die alte Spinnerei, die hier jahrelang die Wirtschaft bestimmt hatte, geschlossen und teilweise abgerissen worden war, hatte diese Lawine dem Ort, der sich eigentlich neu hatte erfinden wollen, vor zwei Jahren den zweiten Todesstoß versetzt. Eine Segeluniversität hatte kurz zuvor eröffnet, und neue Häuserblocks waren entstanden, die von Studenten und Sportlern genutzt werden sollten. Doch nun befand sich dieses Areal in der gefährdeten Zone, und das ganze Projekt lag brach. Hunderte von hochmodernen Apartments warteten hinter verschlossenen Fensterläden auf Touristen, Bewohner, die niemals kommen würden. Luca verstand Signora Muros Entscheidung nur zu gut. Er war sehr erleichtert, dass sie von hier wegzog.
»Vielleicht haben wir diesen Ort immer falsch behandelt«, sagte sie in die Stille hinein.
»Inwiefern?«
»Wir haben ihn ausgebeutet, aber nicht so behandelt, wie es ihm zusteht, denke ich.«
In der Tat war Campione eine einzigartige Sehenswürdigkeit. Doch im Grunde war das Sehenswerte nicht mehr als das, was es jetzt bedrohte: Erosion. Der Ort war eine Geröllablagerung der Berge. Eine heruntergegangene Lawine, die wie eine kleine Insel im Wasser des Gardasees lag. Es war der Lauf der Natur, nicht mehr und nicht weniger. Doch diesen Gedanken behielt er natürlich für sich, versuchte, ihn hinter einer verständnisvollen Miene zu verstecken.
»Sie glauben nicht an Gott, nicht wahr?«, fragte sie, und Luca stellte überrumpelt fest, dass ihre Frage ihn traf.
»Nicht so, wie Sie es tun«, antwortete er.
»Es sind die Zeichen, auf die Sie achten müssen«, sagte sie und hob den Zeigefinger. »Wehren Sie sich nicht dagegen. Es würde Ihr Leid nur verlängern.«
Luca konnte nicht anders, als ein abschätziges Lächeln zu unterdrücken. Wovon sprach die alte Dame? Es ging hier nicht um ihn. Er hatte kein Leid erfahren.
»Ich räume jetzt ab«, sagte sie und erhob sich. Luca besann sich noch einen Moment lang und nahm dann seine Kamera vom Stativ, um Signora Muro per Hand zu filmen. Statt ihr...
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