Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Sie hatten Martinas Jeep genommen. Lucas alter Flavia hätte auf den kurvigen Bergstraßen länger gebraucht. Veluzzo war ein von der übrigen Welt nahezu abgeschnittenes Bergdorf in einer Gegend, die einem Niemandsland glich. Hinter Pra' da Bont verlief die Via Leonardo da Vinci, ein tiefes, unzugängliches Tal umgehend, über Veluzzo bis Sermerio, das bereits auf der gegenüberliegenden nördlichen Seite des Tals lag. Veluzzo war vielleicht das ursprünglichste Dorf, das rund um den Gardasee noch existierte. Hier wohnten ausschließlich Einheimische, die von der Landwirtschaft lebten, und das größtenteils für den Eigengebrauch. Tourismus gab es nicht. Das Tal war ein unerschlossener Kessel, waldreich, felsig, steil. Luca hatte sich vorhin insgeheim gewundert, als Pasquale sagte, er sei auf dem Weg nach Veluzzo und deshalb komme er vorbei. Über Tignale wäre Pasquale mit Sicherheit schneller dort gewesen. Luca wischte den Gedanken wieder fort, denn es war ihm zu mühsam, Pasquale eine Absicht, über die er nur spekulieren konnte, zu unterstellen. Wenn es überhaupt Absicht gewesen war.
Er blickte durch die Frontscheibe auf die Schlucht auf Martinas Seite. Doch die schmalen Bäume, die die Straße säumten, versperrten vollständig den Blick in die Tiefe. Es war fast ärgerlich, nicht sehen zu können, was sich dahinter verbarg. Seit sie Cadignano passiert hatten, war ihnen kein einziges Auto mehr entgegengekommen. Martina fuhr recht zügig, sodass sie die Strecke in zwanzig, fünfundzwanzig Minuten zurücklegen würden. Trotzdem kam ihm die Fahrt endlos lang vor. Sie schwiegen wie vorhin auf dem Balkon, doch Luca hatte viele Fragen, die ihm im Kopf herumschwirrten, die zu stellen er sich aber nicht traute. Warum war er mitgefahren? Hatte er sich nicht heute Nachmittag erst geschworen, nie wieder in einer Polizeisache mitzumischen? Warum hatte Martina ihn dabeihaben wollen? War es, weil sie jetzt ein Paar waren? Weil sie seine Unterstützung brauchte? Oder hatte sie ähnliche Motive wie Pasquale? Aber welche waren das? Warum hatte er nicht einfach abgelehnt?
Ein klebriger, schwerer Kloß steckte plötzlich in seinem Hals. Er schluckte, aber es wurde nicht besser. Noch waren sie auf der Sonnenseite, doch hinter Sermerio würde es dunkel werden, und er fürchtete, dass sein ungutes Gefühl und der Kloß dann nur noch größer werden würden.
»Wann kommt es denn endlich?«, fragte Martina nach einer Weile.
»Hinter der nächsten Biegung geht es wieder bergauf, dann zweigt irgendwann eine kleine Straße in den Serpentinen ab.«
Es wurde dunkler, die Schatten wuchsen und ließen bald gar nicht mehr daran glauben, dass irgendwo hinter den Bergen noch die Sonne scheinen könnte. Kühler wurde es auch. Martina kurbelte am Lenkrad, als die Serpentinen begannen. Luca meinte, ganz entfernt eine Polizeisirene zu hören. Er fragte sich, warum sie das Radio nicht eingeschaltet hatten. Es hätte die Fahrt mit Sicherheit verkürzt und die Stille etwas erträglicher gemacht. Vielleicht hätte er dann die Sirene überhört. Doch jetzt war es zu spät, um es noch einzuschalten. Dort vorn tauchte schon das Hinweisschild auf. Man hätte es auch verpassen können, es war zur Hälfte von einem Ast verdeckt.
Luca streckte den Zeigefinger aus, und Martina setzte den Blinker. Die Straße, auf die sie nun kamen, war noch enger und holpriger. Steil ging es hoch, um zwei Kurven, über eine Brücke und in einen Wald hinein. Hinter einem Felsen, der mit Drahtgitter gesichert war, tauchte das Ortsschild von Veluzzo auf. Links der Straße, am Berghang, standen die ersten Häuser. Sie waren weiß gestrichen, doch bereits schmutzig und ergraut. Das Dorf schmiegte sich an den Berg, war mit ihm verwachsen und stapelte sich treppenartig am Fels nach oben. Sie folgten einer Linkskurve, und rechts endete die Leitplanke. Das einzige Restaurant oder Café des Ortes befand sich direkt an der Straße. Kaum dass es in Sicht kam, erkannten sie auch schon die ersten Polizeiwagen, die links in einer kleinen Gasse parkten, die sich eng zwischen den kleinen Häusern hindurchschlängelte.
Martina trat auf die Bremse, und sie blieben unentschlossen in der Mitte der Straße stehen. Ein alter Mann tauchte gebückt im Türrahmen des Cafés auf. Sein Bart war ebenso grau wie die Häuserfassaden. Weit und breit war kein Parkplatz in Sicht.
»Fahr hier an den Rand und mach den Warnblinker an«, schlug Luca vor.
Martina quetschte den Jeep an den rechten Straßenrand. Die Reifen quietschten am hohen Bordstein.
Sie stiegen aus und betraten die Gasse, gingen an den Streifenwagen vorbei und immer höher hinauf, dorthin, wo man Stimmengewirr und klagende Laute von den Hauswänden widerhallen hören konnte.
Etwa zwanzig Meter weiter oben hatte sich eine Traube von Einheimischen gebildet. Leise und mit gesenkten Köpfen wurde miteinander gesprochen. Kinder standen auf den schmalen Balkonen zwischen aufgehängter Wäsche und starrten auf die Szene zu ihren Füßen.
»Buonasera«, grüßte Luca die Gruppe, die augenblicklich verstummte und ihn und Martina mit abschätzigen Blicken musterte.
»Polizei«, sagte Martina nur und zeigte ihren Ausweis vor.
Eine der Frauen deutete nach rechts in ein Gässchen. Die Häuser standen hier so dicht beieinander, dass man sich auf den Balkonen die Hand reichen konnte. Überall waren die hölzernen Fensterläden noch geschlossen. Aus einigen Häusern drangen Fernsehgeräusche, eine Frauenstimme sang, und die Wäsche über ihren Köpfen flappte im abendlichen Wind.
Luca und Martina passierten einen Hofeingang. Hinter dem bogenförmigen Holztor standen drei Männer beisammen und rauchten. Fünf Meter weiter hörten sie schnelle Schritte eine Treppe herunterkommen, und ein Carabiniere sprang auf die Straße. »Hier, bitte!«, rief er und winkte die beiden heran.
Luca sah nach oben. Pasquale stand mit versteinerter Miene auf einem der Balkone. Er hatte seine Anzugjacke ausgezogen, trug aber noch den Hut. Jetzt erkannte Luca das Lied, das von irgendwo aus einem Lautsprecher tönte. »O mio babbino caro«, eine Arie aus der Oper »Gianni Schicchi«. Eine seltsame Musik an so einem Ort, dachte Luca.
Martina ging voraus, und sie folgten dem Beamten in einen schummrigen Hausflur. Es roch nach gekochtem Fleisch, Knoblauch und Zigarettenrauch. Im Treppenhaus war es erstaunlich kühl. Die steinernen Stufen glänzten feucht.
»Es ist im ersten Stock«, informierte sie der Carabiniere und drehte sich dabei kurz zu Martina um. Unter seinen Armen und am Rücken waren Schweißflecken zu erkennen.
Je höher sie kamen, desto deutlicher trat ein weiterer Geruch in Lucas Nase. Ein Geruch, der ihm sagte: Geh nicht weiter, dreh einfach um und verschwinde aus dem Haus. So schnell du kannst. Die weinende Frau, wo immer sie sich auch befand, klagte und jammerte in einem fort und stieß Worte aus, die Luca kaum verstehen konnte.
Die rechte Tür im ersten Stock stand offen. Aus der Wohnung drang dieser fürchterliche Geruch nach Eisen, und auch die Arie, die inzwischen wieder von vorn begonnen hatte, kam von hier. Luca hielt sich unwillkürlich eine Hand vor die Nase. Noch im Türrahmen blieb er stehen.
»Da seid ihr ja«, sagte Pasquale, der aus einem der Zimmer auf sie zustrebte. »Ich möchte -«
»Pasquale, was wird das hier?«, hörte Luca sich aufgebracht fragen. »Ich weiß nicht, was ich hier soll. Das hier hat nichts mit mir zu tun. Ich bin kein -«
»Ich weiß, ich weiß«, fiel Pasquale ihm ins Wort. »Aber ich brauche euren Rat. Der Selbstmord ist kein Selbstmord, wie ihr euch ja denken könnt. Er ist . ungewöhnlich, will ich mal sagen.«
Keine zehn Pferde kriegen mich da rein, dachte Luca. Die Tür zu dem Raum, aus dem Pasquale gekommen war, stand offen wie ein Mund. Ein Mund, der ihm zurief, dass er verschwinden sollte.
»Er ist da drin.« Pasquale deutete mit dem Daumen über seine Schulter.
»Ich bleib hier im Flur«, stellte Luca fest und verschränkte die Arme vor der Brust.
Martina setzte sich langsam in Bewegung. »Ich geh mit«, flüsterte sie ihm zu und ging auf leisen Sohlen Pasquale hinterher. Im Türrahmen stehend blieb ihr Blick an etwas haften. Sie gab einen erstickten Laut von sich und verschwand aus Lucas Sichtfeld. Die Musik spielte immer weiter. Das dritte oder vierte Mal inzwischen.
Luca war jetzt allein im Flur. Er musste einen Würgereiz unterdrücken, weil dieser verdammte Gestank in seine Nase drang wie eine dicke, breiige Flüssigkeit. Er wollte sich gar nicht ausmalen, woher er stammte. Dumpf konnte er die Stimmen von Martina und Pasquale unter der Musik vernehmen. Und aus der Küche kam ein Klappern. Er machte vorsichtig zwei Schritte und lugte um den Türrahmen herum. Der Carabiniere saß mit dem Rücken zu ihm auf einem Küchenstuhl, den Kopf gesenkt und schwer atmend. Von einem zweiten Carabiniere keine Spur. Luca zog sich zurück und horchte hinaus in den Hausflur. Die Stimme der Frau war schwächer geworden, nun konnte er auch die Stimme eines Mannes hören, der versuchte, die Frau zu beruhigen. Sie mussten in der Wohnung über ihnen sein. Aber diese ständige Musik machte einen fast verrückt. Warum konnte man das nicht endlich abstellen?
»Luca?«
Er fuhr herum. Martina stand in der Tür.
»Was ist?«
»Kannst du mal kommen?«
»Ich geh da nicht rein.«
Sie nickte, und Luca ging auf sie zu, stoppte aber eine gute Armlänge von ihr entfernt.
»Es ist ein Mann, man hat ihm die Kehle durchgeschnitten«, sagte sie. »Aber das ist nicht alles, der Mörder hat noch etwas hinterlassen.«
»So, was denn?«
»Sagt dir der Titel >Das Dorf der Verdammten< etwas?«
»Nein, was soll das sein?«
»Ein...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.