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Schimpansen putzen die Zähne toter Artgenossen. Krähen meiden Orte, an denen sie Kadaver gefunden haben. Elefanten sammeln wie besessen Elfenbein. Wale tragen ihre Toten wochenlang durch das Meer. Dennoch glaubt der Mensch beharrlich, dass nur er allein in der Lage ist, sich einen Begriff von der eigenen Sterblichkeit zu machen. Denn seit jeher verstellt die anthropozentrische Perspektive den Blick auf die Vielfalt im Umgang mit dem Tod auf unserem Planeten. Dabei lassen sich derart viele faszinierende Reaktionen auf den Tod beobachten, die unseren zwar nicht gleichen mögen, doch trotzdem von Verständnis handeln.
Das Schweigen der Schimpansen verbindet philosophisches Nachdenken mit den aktuellsten Erkenntnissen aus der Verhaltensforschung und der vergleichenden Psychologie. So präsentiert Susana Monsó eine neue wissenschaftliche Disziplin: die vergleichende Thanatologie. Und sie zeigt eindrücklich, dass wir, wenn es um Tod und Sterben geht, vielleicht nur ein Tier unter vielen sind.
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Das Schweigen der Schimpansen
Im November 2009 veröffentlichte die Zeitschrift National Geographic ein Foto, das Laien wie Fachleute gleichermaßen in seinen Bann schlug. Es zeigt Dorothy, eine etwas über vierzigjährige Schimpansin, die in einer Schubkarre liegt, befördert von zwei Menschen. Im Hintergrund drängt sich eine Gruppe von sechzehn Schimpansen hinter einem Zaun, sie alle starren, ein jeder von ihnen, auf ihre Gefährtin. Der Grund, warum das Foto so viele faszinierte, war die Tatsache, dass Dorothy gestorben war und ihre Artgenossen, mit denen sie die letzten acht Jahre in der Schimpansen-Rettungsstation Sanaga-Yong in Kamerun zusammengelebt hatte, sich offenbar versammelten, um von ihr Abschied zu nehmen.
Monica Szczupider, die Fotografin, die den Moment festhielt, beschrieb ihn so: »Schimpansen sind nicht still. Sie leben in Gruppen, sind gesellig, laut, echte Schreihälse, ihre Aufmerksamkeitsspanne ist normalerweise relativ kurz. Aber sie konnten den Blick nicht von Dorothy wenden, und ihr Schweigen sprach Bände, mehr als alles andere.«1 Aber was genau besagte es? Kann es sein, dass die Schimpansen etwas Ähnliches empfanden wie wir, wenn wir den Tod eines geliebten Menschen betrauern? Konnten sie verstehen, was mit Dorothy geschehen war? Wussten sie vielleicht, dass es früher oder später auch ihnen selbst passiert?
Abbildung 1: »Die trauernden Schimpansen« (The grieving chimps), Foto von Monica Szczupider.
Das Foto fand ein so breites Echo, dass nicht wenige Wissenschaftler beschlossen, ähnliche Fälle, die sie im Laufe der Jahre beobachtet und in ihren Schubladen hatten, zu veröffentlichen; andere schenkten nun dem Verhalten der von ihnen untersuchten Tiere, sobald der Tod ins Spiel kam, eine sehr viel größere Aufmerksamkeit. Es war die Geburtsstunde einer neuen Disziplin, der vergleichenden Thanatologie, die sich vornimmt zu erforschen, wie Tiere auf verstorbene oder dem Tod nahe Individuen reagieren, welche physiologischen Prozesse ihren Reaktionen zugrunde liegen und was ihr Verhalten uns über die geistigen Zustände der Tiere sagt. Zwar lag der Fokus ursprünglich auf den Primaten, aber in den letzten Jahren ist die Zahl der Publikationen explosionsartig gestiegen, und es erscheinen immer mehr Artikel, in denen es um Spezies geht, die weit entfernt sind von Affen und Menschenaffen, um Elefanten etwa, Wale, Pferde, Krähen und sogar Insekten.
Das Interesse an der Frage, wie Tiere mit dem Tod umgehen, ist Teil eines wachsenden wissenschaftlichen Trends, um herauszufinden, inwieweit andere Tiere über Fähigkeiten verfügen, die man traditionell einzig und allein dem Menschen zuschreibt. Immer zahlreichere Studien lassen den Schluss zu, dass viele Tierarten zumindest in rudimentärer Form aufweisen, was bisher als Garant galt für die menschliche Einzigartigkeit, eine Fähigkeit zur Unterscheidung von Mengen ebenso wie Rationalität, Moral, Sprache oder Kultur.2 Der Gedanke, der Mensch sei eine gesonderte, weit über das Tier hinausreichende Spezies, wird von Tag zu Tag weniger plausibel. Und so wird auch die Frage, ob Tiere eine Vorstellung von der Sterblichkeit haben, immer bedeutsamer, denn über Jahrhunderte hat sich der Mensch als die einzige Spezies begriffen, die - Segen oder Fluch - mit einem Verständnis vom Tod aufwarten kann.
Die vergleichende Thanatologie - die Untersuchung der Beziehung der Tiere zum Tod - ist eine Fachrichtung an der Schnittstelle zwischen Ethologie und vergleichender Psychologie. Die Ethologie ist der Zweig der Biologie, der sich der Erforschung des Verhaltens von Tieren widmet, und mit der vergleichenden Thanatologie teilt er eine Vorliebe für Feldstudien in mehr oder weniger natürlicher Umgebung. Die vergleichende Psychologie wiederum versucht, in Experimenten den geistigen Fähigkeiten von Tieren auf den Grund zu kommen, und vergleicht hierzu, wie verschiedene Spezies mit ähnlichen Problemen umgehen und welche kognitiven Mechanismen sie zu deren Lösung einsetzen. Die vergleichende Thanatologie teilt mit diesem Fach das Interesse an der Psychologie der Tiere, auch schöpft sie aus vielen ihrer Studien, um die Diskussion darüber zu bereichern, wie Tiere Sterblichkeit erleben und verstehen.
Allerdings hat das vorliegende Buch keine Ethologin geschrieben und auch keine Psychologin, sondern eine Philosophin. Das mag meine Leser und Leserinnen überraschen, wenn ihr Bild vom Philosophen dem eines älteren, bärtigen und pfeiferauchenden Mannes entspricht, der in seinem Sessel sitzt und über den Sinn des Lebens nachdenkt. Ich will nicht leugnen, dass eine solche Beschreibung auf einige von uns zutrifft, in Wahrheit aber ist die Philosophie eine sehr heterogene Disziplin, und Philosophen unterscheiden sich nicht nur erheblich in Alter, Geschlecht und Herkunft, viele von uns verwenden ihre Zeit auch auf Themen - ob Klimawandel, Terrorismus, Videospiele, Medizin oder Pornos -, die nicht zu dem gängigen Bild dessen passen, worüber ein Philosoph so grübelt.
In der Vielfalt der Themen, mit denen die Philosophie sich befasst, spiegeln sich einige Besonderheiten, die dieses Fach von anderen unterscheiden. Im Gegensatz zu anderen Zweigen der Natur- und der Geisteswissenschaften gibt es hier keinen festgelegten Untersuchungsgegenstand. Philosophieren lässt sich über alles Mögliche, denn die Philosophie ist eine Methode, eine Art, die Welt zu betrachten und über sie nachzudenken, nicht das Studium dieses oder jenes konkreten Phänomens. Was es Philosophen erlaubt, in einen ständigen Dialog mit anderen Wissensgebieten zu treten, sich locker von einer Disziplin in eine andere zu bewegen, nichts als gegeben anzusehen, jede Annahme infrage zu stellen und innovative und belebende Sichtweisen zu eröffnen, die als Katalysator dienen können für jegliche Debatte.
Mein Buch fügt sich ein in einen relativ jungen Zweig der Philosophie, die Tierphilosophie mit ihren Fragen nach den geistigen Fähigkeiten von Tieren. Zwar reicht die Philosophie des Geistes bis ins antike Griechenland zurück, wenn nicht noch weiter, doch im Laufe der Geschichte hat sie sich fast ausschließlich auf den menschlichen Geist bezogen. Die Tierphilosophie nimmt für sich in Anspruch, den Geist der Tiere nicht nur zu studieren, um uns selbst besser zu verstehen, sondern auch als ein Ziel an sich, da sie davon ausgeht, dass die Psychologie anderer Spezies auch unabhängig von dem, was sie uns über unsere eigene lehren kann, von Interesse ist. Zugleich steht diese Disziplin im Dialog mit den Naturwissenschaften, reflektiert die Methoden, mit denen wir das Verhalten und die Kognition anderer Spezies untersuchen, zeigt mögliche Voreingenommenheiten auf, die unsere Sicht verzerren, und nimmt sich vor, größere begriffliche Klarheit zu schaffen.
Die vergleichende Thanatologie, als eigenes Fachgebiet kaum zehn Jahre alt, bedarf dringend eines philosophischen Blicks, um verborgene Annahmen, die sich nachteilig auf die Forschung auswirken, zu identifizieren und die Bedeutung von Schlüsselkonzepten zu klären. Konkret soll es in diesem Buch darum gehen, jene anthropozentrischen Vorurteile zu erkennen und auszuräumen, die der Erforschung des Verhältnisses von Tieren zur Sterblichkeit im Weg stehen. Das Schlüsselkonzept, auf das ich mich dabei konzentriere, gleichsam das Rückgrat meiner Argumentation, ist das Konzept vom Tod. Was genau bedeutet es, den Tod zu verstehen, ihn zu begreifen? Ist die Vorstellung, der Begriff, das Konzept vom Tod etwas Binäres, ein Alles-oder-nichts, oder können wir es als ein Spektrum auffassen, als etwas, was einen höheren oder geringeren Grad an Komplexität zulässt? Wäre es sinnvoll, von verschiedenen Konzepten vom Tod zu sprechen, in denen die Perspektiven verschiedener Spezies ihren Platz haben?
Zu einem nicht unwesentlichen Teil geht es mir in diesem Buch daher um eine begriffliche Analyse. Was nicht heißen soll, dass eine bloß sprachliche Klärung das Ziel wäre, denn durch eine solche Analyse lassen sich Schlussfolgerungen über die Welt ziehen. Wollen wir zum Beispiel herausfinden, ob Experimente, die ein altruistisches Verhalten bei Tieren zeigen, ein Beleg dafür sind, dass Tiere eine Moral haben, müssen wir von einer klaren Definition dessen ausgehen, was es bedeutet, moralisch zu sein. Das Gleiche gilt auch hier. Durch eine Analyse dessen, was es bedeutet, ein Konzept vom Tod...
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