Schweitzer Fachinformationen
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»Sie ist schön.«
»Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Hör schon auf, sie sieht umwerfend aus.«
»Sie braucht Hilfe.«
»Die Arzthelferin hat gesagt, sie würden in fünfzehn Minuten zurückrufen.«
Ich liege mit geschlossenen Augen da und lausche. Sie sind in der Küche, wo ich sie bei meinem ersten Blick durchs Fenster sah, und ich bin in dem kleinen Wohnzimmer auf der Vorderseite des Hauses. Seine Stimme klingt zuversichtlich, selbstbewusst. Sie spricht zögerlicher, leiser. Nach meinem Ohnmachtsanfall an der Türschwelle bin ich auf dem Sofa wieder zu mir gekommen und habe ein paar Worte mit der Frau gewechselt, die übrigens Laura heißt. Ich versicherte ihr, dass mir nichts weiter fehlen würde und ich nur ein paar Minuten die Augen schließen müsste, bis sich der Schwindel legen würde. Das war vor fünf Minuten.
»Geht es Ihnen wieder besser?«, fragt Laura, die eben ins Wohnzimmer kommt.
»Ein bisschen«, antworte ich. »Vielen Dank.«
Sie hat eine große Tasse mit frischem Pfefferminztee in der Hand. Mir wird bewusst, dass mein Blusenärmel nach oben gerutscht ist und das Lotos-Tattoo zur Hälfte zu sehen ist.
»Der ist für Sie«, sagt Laura und stellt den Tee auf dem niedrigen indischen Tisch vor dem Sofa ab. Die Tasse ist mit einer gezeichneten Yogakatze in der Stellung des Kriegers bedruckt. Unwillkürlich strecke ich den Rücken durch.
»Wir haben die Arztpraxis hier im Ort angerufen«, fährt Laura fort und sieht dabei auf mein Handgelenk. »Die Ärztin will gleich zurückrufen.«
»Danke«, sage ich wieder mit schwacher Stimme.
»Immer noch schwindlig?«
»Ein wenig.«
Ich beuge mich vor und greife nach dem Tee. Laura ist Anfang dreißig. Sie trägt dreiviertellange Leggins und ein fluoreszierendes Sporttop, als wollte sie gleich joggen gehen; und sie ist in Form: groß und geschminkt, das Haar zu einem straffen Knoten zusammengefasst, leuchtende Haut. Fast zu gut, um wahr zu sein, wären da nicht die auffälligen Ringe unter ihren Augen.
»Tony sagt, Sie hätten geglaubt, das sei Ihr Haus«, erklärt sie mir möglichst fröhlich. Ich trinke einen Schluck heißen, honigsüßen Pfefferminztee und wünsche mir, er würde die eisige Furcht in meinem Magen vertreiben. »Er meinte, Sie wollten einen Schlüssel holen. Von unseren Nachbarn.«
Sie bringt ein kurzes Lachen heraus, hält dann inne und dreht sich weg.
»Es ist mein Haus«, flüstere ich, während ich meine Hände an der Tasse zu wärmen versuche.
Ich spüre, wie sie sich sträubt. Nicht sichtbar - dafür kommt sie mir zu freundlich vor -, es ist nur eine ganz leichte Kalibrierung. Tony, der offenbar zugehört hat, tritt in die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche.
»Danke für den Tee«, versuche ich herzlich zu bleiben. »Und dass Sie einen Arzt angerufen habe. Bestimmt geht es mir gleich wieder besser.«
»Nicht wenn Sie immer noch glauben, dies wäre Ihr Haus«, erklärt Tony. Er lächelt, aber in seinem Tonfall liegt ein Anflug von Besitzanspruch. Mein Tattoo ist immer noch sichtbar. Nach ein paar Sekunden ziehe ich beiläufig den Ärmel nach unten, um es zu bedecken.
Ich nehme noch einen Schluck Tee und schaue mich in dem niedrigen Raum um. Nirgendwo liegt ein Staubfusel, alles steht an seinem Platz. Ein großer, in die Wand eingelassener Kamin mit einem integrierten Holzofen; auf der einen Seite ein Stapel Scheite, rund wie Gebetsrollen und akkurat aufgeschichtet; eine Kollektion von Yoga- und Selbsthilfebüchern in einem kleinen Regal, der Größe nach geordnet; ein hölzernes Solitaire-Brettspiel mit allen Kugeln in Position. Selbst die Raumduftstäbchen aus der Seychellen-Kollektion der The White Company stehen in perfektem Abstand zueinander. Die Ausstattung mag ungewohnt sein, aber die Proportionen des kleinen Hauses sind mir vertraut.
»Ich bin hergekommen, weil .« Das tiefe Gefühl in meiner Stimme überrascht mich, und ich zögere kurz. »Meine Arbeit hat mich in letzter Zeit sehr gefordert. Und heute, nach dem Rückflug von einer Konferenz, ist auf dem Flughafen meine Handtasche verschwunden. Ich wollte das melden, aber auf einmal fiel mir nicht mehr ein, wie ich heiße.« Wieder halte ich inne.
»Aber jetzt wissen Sie es wieder?«, fragt Laura und wendet sich an Tony. »Wir haben alle unsere blonden Momente.«
Tony wendet den Blick ab.
Ich schüttele den Kopf. Ich weiß meinen Namen nicht mehr. »Das Einzige, woran ich mich am Flughafen erinnern konnte, war meine Adresse. Ich dachte, wenn ich es nur hierherschaffe, in mein Haus, diesen Zufluchtsort, würde sich alles andere schon finden. Und das Einzige, was mir geblieben war, war das Zugticket hierher. Es war in meiner Tasche.«
»Ihren Koffer hatten Sie auch noch.« Tony deutet zur Haustür, wo er aufrecht stehend wartet, mit hochgerecktem Griff. »Wo war denn diese Konferenz?«, fragt er. Inzwischen klingt Tony interessierter, weniger abweisend.
Ich merke, wie mir die Tränen einschießen, und tue nichts, um sie aufzuhalten. »Das weiß ich nicht mehr.«
»Schon okay«, sagt Laura und setzt sich neben mir aufs Sofa. Ich merke, dass ich froh bin über den Arm, den sie um meine Schultern legt. Es war ein schwieriger Tag.
»Es müsste ein Gepäckanhänger am Griff sein«, sagt Tony und geht zum Koffer.
»Der ging unterwegs verloren. Noch bevor ich den Koffer vom Gepäckband nahm.«
Er sieht mich an, während mir die Stimme versagt. Ich sehe mich wieder in der Ankunftshalle auf einem abgestellten Gepäckkarren sitzen und auf dieselben fünf, sechs Koffer starren, die vor mir Karussell fuhren. Bis irgendwann meiner auftauchte, vor einem großen, unförmigen, in blaues Plastik und Packband gehüllten Paket. Kurz leuchtete in meinem Kopf ein Bild von Fleur auf, mit eingefaltetem Körper wie ein Schlangenmensch, nichts als Ellbogen und Knie.
»Und Sie können sich absolut nicht erinnern, wo diese Konferenz war?«, fragt Tony.
»Möglicherweise in Berlin.« Wieder treibt ein Bild von Fleur an die Oberfläche: wild tanzend und mit strahlenden Augen. Ich blinzele, und sie ist verschwunden, in schwarzer Tiefe versunken.
»Berlin?«, wiederholt er, unfähig, seine Überraschung zu verhehlen. »Das ist doch ein Anfang. Fluglinie?«
»Ich kam am Terminal 5 an.«
»British Airways. Wissen Sie noch, um welche Uhrzeit?«
»Heute Morgen.«
»Früh?«
»Ich weiß es nicht. Tut mir leid. Ich bin direkt hierhergefahren. Vielleicht am späten Vormittag? Frühen Mittag?«
»Und Sie wissen nicht mehr, wie Sie heißen?«
»Tony«, mischt sich Laura ein.
Ich fange wieder an zu schluchzen, denn wenn jemand anderes es ausspricht, klingt es viel schlimmer. Ich muss stark bleiben, einen Schritt nach dem anderen tun. Laura nimmt mich wieder in den Arm.
»Ich weiß nur, dass ich hier zu Hause bin«, sage ich und tupfe mit dem Taschentuch, das sie mir hinhält, meine Augen trocken. »Im Moment kann ich mich ausschließlich daran erinnern. An mein Heim.«
»Aber Sie wissen, dass das unmöglich ist«, wendet Tony ein. »Ich kann Ihnen die Kaufurkunde zeigen.«
»Schon okay«, fällt ihm Laura ins Wort und schaut wieder zu Tony auf, der sich daraufhin uns gegenüber auf ein zweites Sofa fallen lässt. »Wir sollten die Polizei rufen«, schlägt sie vor. »Ihre Telefonnummer hinterlassen - falls Ihre Tasche am Flughafen abgegeben wird.«
Es bleibt still, während ihre Worte sich wie Staub im Raum setzen und von den uralten Schamottesteinen am Kamin absorbiert werden, bis nichts mehr davon übrig ist.
»Das würde wohl wenig bringen, oder?«, meint Tony nach ein paar Sekunden deutlich leiser. »Nicht solange sie nicht weiß, wie sie heißt.«
Wieder Schweigen. Ich muss ihnen alles erzählen, was ich über dieses Haus weiß, alle Details nennen, die ich mir ins Gedächtnis rufen kann.
»Mein Schlafzimmer ist oben links auf dem Flur, das zweite Zimmer gegenüber ist gerade groß genug für ein Doppelbett«, beginne ich. »Daneben ist das Bad - Duschkabine in der Ecke, eine Badewanne unter dem Fenster. Hinter dem Bad gibt es noch ein kleines Zimmer, eher eine Kammer als ein Schlafzimmer, und darüber einen Speicher.«
Laura sieht Tony an, der mich ungläubig anstarrt.
»Hinten im Garten steht ein Backsteinhäuschen, wie geschaffen für ein Arbeitszimmer«, fahre ich fort. »Und im unteren Bad gibt es noch eine Dusche.«
Ich will noch weiterreden, ihnen von der Speisekammer neben der Küche erzählen, aber da läutet das Telefon.
»Das wird die Arztpraxis sein«, sagt Laura und nimmt das Telefon von dem Kaffeetisch vor uns. Ich ahne, dass sie froh über die Unterbrechung ist.
Ich sitze still da, während Laura der Ärztin von der Unbekannten erzählt, die eben vor ihrem Haus aufgetaucht ist und behauptet, sie würde darin wohnen. Tony ist wieder aufgestanden und massiert ihr den Rücken, während sie redet. Ich wende den Blick ab, schließe die Augen. Das alles ist zu viel für mich.
»Genau, sie sagt, dass sie sich nicht erinnern kann, wie sie heißt . wo sie war . Sie behauptet, dass sie hier wohnen würde . Das habe ich sie nicht gefragt.« Sie deckt das Telefon mit einer Hand ab. »Die Ärztin fragt nach Ihrem Geburtsdatum?«
Lauras Miene lässt darauf schließen, dass sie schon weiß, wie zwecklos diese Frage ist. Ich schüttele den Kopf.
»Weiß sie auch nicht.« Laura hört eine Weile zu und spricht dann weiter:...
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