1. KAPITEL
Acht Jahre zuvor .
Lina hastete über den Innenhof zum Hauptgebäude der Universität. Sie kam zu spät zum Anmeldetermin, aber sie hatte erst ihren Leibwächter abhängen müssen. Mal wieder. Er saß unten in der Bücherei und las ein Buch über das Alte Ägypten, in der festen Überzeugung, dass sie mit ihrer Studiengruppe in einem der Räume im zweiten Stock zusammensaß. Wenn der arme Mann wüsste, wie viele Stunden er in der Bücherei zugebracht hatte, während sie ganz woanders steckte, würden sie beide erhebliche Probleme bekommen.
Dieser Trottel war viel zu leicht zu überlisten. So leicht, dass es an ihrem Ego nagte. Für ihn bewiesen ihre guten Noten eindeutig stundenlanges Lernen. Natürlich lernte sie, aber längst nicht so intensiv, wie er glaubte. Doch wie ihr Vater und viel zu viele Männer in ihrem Land, war auch ihr Leibwächter der felsenfesten Überzeugung, eine Frau könne derart gute Noten nur mit enormer Anstrengung und außerordentlichem Einsatz erzielen. Alle ihre Leibwächter dachten so. Nachdem Lina das herausgefunden hatte, war sie ihrem Vater regelrecht dankbar, dass er darauf bestanden hatte, ihr Leibwächter aus Marwan zuzuteilen.
Bereits seit ihrem sechsten Lebensjahr lebte Lina in Amerika, und sie hatte sich oft über die Einstellung ihrer marwanischen Leibwächter aufgeregt. Dann war sie an die Universität gekommen und hatte festgestellt, wie mühelos sie für eine gewisse Zeit ihre Freiheit genießen konnte, alles unter dem Deckmantel des Politikstudiums. Sie lächelte. Das Leben mochte nicht perfekt sein, aber es machte auf jeden Fall Spaß.
Ihr Lächeln erlosch, als sie gegen eine harte Felswand prallte, die sich als Mann verkleidet hatte. Sie stolperte und landete rückwärts mit dem Po im Gras. "Uff!"
"Alles in Ordnung?"
Wow! Die Felswand hatte auch eine Stimme. Eine Stimme, die ihr ein Prickeln über die Haut jagte.
Sie sah auf, an fast zwei Metern reiner Muskelmasse empor, bis ihre Augen aufeinandertrafen. Seine waren grau, dunkel und geheimnisvoll. Im Moment jedoch war alles in ihnen deutlich zu erkennen. Sorge stand darin. Sorge um sie.
Nett.
Ihr Lächeln kehrte zurück, sie streckte ihre Hand aus. "Sicher. Hilfst du mir auf?"
"Klar." Er ergriff ihre Hand.
Vielleicht hatten Funken gesprüht, als ihre Hände sich berührten, das konnte Lina nicht mit Sicherheit sagen. Denn als er sie mit Schwung vom Boden hochzog, landete sie an seiner Brust, und ihre Sinne explodierten. Ihr überrumpelter Geist registrierte nur noch den halb verzogenen Mund, und sie fragte sich, wie er aussehen mochte, wenn er richtig lächelte. Wahrscheinlich würde sie das nicht überleben.
"Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?" Jetzt wirkte er ehrlich besorgt.
Was ihr unglaublich gut gefiel. "Mir geht's großartig", versicherte sie.
"Kannst du allein stehen?"
Sah sie etwa aus, als bräuchte sie Hilfe?
"Natürlich."
"Könntest du dann vielleicht loslassen? Ich meine, nicht, dass ich mich über engen Körperkontakt beschwere .", meinte er amüsiert.
"Ja, ich sollte jetzt wohl loslassen", nickte sie, doch ihr Körper wollte nicht gehorchen.
Er lachte. "Ich heiße Sebastian Hawke."
Sein Lachen jagte einen weiteren Schauer über ihren Rücken. Lina starrte wie hypnotisiert auf seinen Mund. Schön, sie hatte also sein Lächeln überlebt, ihr Verstand aber offensichtlich nicht.
Ganz eindeutig übte dieser Mann eine zerstörerische Wirkung auf ihr Hirn aus.
"Und du heißt?"
"Oh, ich ." Eine überaus zerstörerische Wirkung! "Lina Marwan." Ihren vollen Namen, Lina bin Fahd al Marwan, benutzte sie schon lange nicht mehr.
"Schön, dich kennenzulernen, Lina." Sanft schob er sie von sich.
Mit Mühe und Not schaffte sie es, nicht wieder auf ihn zuzutreten und Körperkontakt zu suchen. So war das also, wenn man sich zu einem Mann hingezogen fühlte. Da konnte sie nur froh sein, dass sie auf eine Mädchenschule gegangen war.
Kontakt zu gleichaltrigen Jungen hatte Lina nie gehabt, dazu wachte ihre Familie zu streng über sie. In den anderthalb Jahren, die sie jetzt an der Uni war, hatte sie zwei Freunde gehabt. Mit ihnen hatte sie sich in ihrer erstohlenen Freizeit getroffen und Händchen gehalten, aber keiner der beiden hatte eine solche Wirkung auf sie ausgeübt wie Sebastian Hawke. Trotzdem hatte sie sich oft gefragt, wie es sich wohl anfühlte, einen Jungen zu küssen. Nur in Gedanken, natürlich. Jetzt wollte sie sehr konkret wissen, wie es war, Sebastian Hawke zu küssen.
Der Wunsch war so stark, dass ihre Lippen kitzelten. Und die grauen Augen musterten sie wissend, so als könnte Sebastian ihre Gedanken lesen.
Die Turmuhr schlug zur Viertelstunde. Lina zuckte zusammen. "Mist. Ich komme viel zu spät. Hoffentlich erwische ich noch einen Platz für den Kajak-Trip." So ganz hatte sie noch nicht ausgeknobelt, wie sie ihren Leibwächtern und ihrer Familie in drei Wochen für ein ganzes Wochenende entkommen sollte, aber sie war fest entschlossen, den Kajak-Ausflug mitzumachen.
"Du fährst Kajak?", fragte er verblüfft.
"Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Leider komme ich nicht oft dazu." Entschieden marschierte sie auf das Hauptgebäude zu.
Wie selbstverständlich lief er neben ihr her. "Wo hast du das gelernt?"
"Auf der High School." Manchmal hatte es auch Vorteile, das weibliche Kind eines Königs im Mittleren Osten zu sein.
Zuerst hatte sie sich schrecklich gefühlt, als ihre Eltern sie im zarten Alter von sechs Jahren zu Verwandten nach Amerika geschickt hatten. Doch später war ihr klar geworden, dass das Desinteresse ihrer konservativen Eltern Töchtern gegenüber für sie einen Vorteil bedeutete. Zu Hause hätte sie noch weniger Freiheiten gehabt. Kajak fahren, was sie in dem Eliteinternat für Mädchen gelernt hatte, wäre in Marwan undenkbar gewesen.
"Dauert dieser Kajak-Trip nicht das ganze Wochenende?"
"Richtig. Nimmst du auch daran teil?" Die Hoffnung in ihrem Blick ließ sich nicht verbergen, als sie den großen, dunkelhaarigen Mann neben sich ansah.
Sebastian verkniff sich einen Fluch. Die süße kleine Prinzessin steckte voller Überraschungen. Die erste Überraschung hatte er erlebt, als er seine neue Schutzbefohlene über den Hof hatte rennen sehen, obwohl sie doch angeblich mit ihrer - ausschließlich weiblichen - Studiengruppe zusammensitzen sollte. Nur gut, dass er sie überhaupt gesehen hatte, sonst wäre er ebenso ahnungslos über ihren wahren Aufenthaltsort wie ihr unfähiger Leibwächter. Der Mann brauchte dringend Training von Hawke Investigations!
"Ich bin noch nie Kajak gefahren", erklärte er. "Aber ich würde es gern lernen." Das war eine glatte Lüge, denn er verspürte nicht die geringste Lust dazu. Aber er hatte schon einmal in einem Kanu gesessen. Auch wenn es nicht unbedingt sein Ding war, so würde er doch eine gute Figur auf dem Wasser abgeben.
Ein Mann musste eben tun, was ein Mann tun musste, um einen Auftrag zu erledigen. Und sein Auftrag lautete, ständig in der Nähe von Prinzessin Lina bin Fahd al Marwan zu bleiben.
Ihr Lächeln war umwerfend. "Wenn wir uns beeilen, sind vielleicht noch zwei Plätze frei."
In Gedanken listete Sebastian alle Optionen auf, die sich anboten. Erstens: Er konnte sie so lange hier festhalten, bis sie den Termin verpasste. Zweitens: Mit einem einzelnen Anruf konnte er dafür sorgen, dass sie nicht an diesem Trip teilnahm. Drittens: Er konnte seinem Instinkt folgen und mit ihr zusammen den Großteil des Wochenendes auf einem Kajak verbringen.
Da er sie offensichtlich faszinierte, wäre es nicht weiter schwer, sie den Termin verpassen zu lassen. Aber Lina Marwan, wie sie sich nannte, würde mit Sicherheit eine Möglichkeit finden, um doch noch an dem Ausflug teilzunehmen. Sie war keineswegs der schüchterne, ruhige, neunzehnjährige Bücherwurm, wie man ihn hatte glauben machen wollen.
Wusste eigentlich irgendjemand aus dem Umkreis der Prinzessin, wer sie war und wie sie sich amüsierte?
Ganz sicher nicht. Weshalb er dahin tendierte, diesen Ausflug nicht ausfallen zu lassen.
Er war als zusätzliche Sicherheit in einer Zeit der erhöhten Bedrohung für die königliche Familie von Marwan angeheuert worden. Er musste herausfinden, wie es Lina immer wieder gelungen war, den Sicherheitsgürtel um sie herum zu durchbrechen, damit dies in Zukunft vermieden werden konnte. Mit ihr Kajak zu fahren, wäre eine erste Chance.
All diese Überlegungen liefen innerhalb von Sekundenbruchteilen in seinem Kopf ab.
"Dann geh voraus", sagte er lächelnd.
Sie nickte und rührte sich nicht, sondern starrte stattdessen auf seine Lippen.
"Lina ."
"Oh, ja, natürlich ." Ihr langer dunkler Pferdeschwanz wippte, als sie sich umdrehte und auf das Gebäude zulief. "Die Anmeldung ist oben."
Es bereitete Sebastian keine Mühe, mit ihrem Tempo mitzuhalten. Beunruhigend war allerdings, wie sein Körper auf die verlockenden Bewegungen ihrer weiblichen Rundungen reagierte. Die Anziehung beruhte eindeutig auf Gegenseitigkeit. Was es ihm erleichtern sollte, in...