Schweitzer Fachinformationen
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Im Frühstückssaal der Hotelpension >Waldruh< haben sich vierzig Teilnehmer versammelt, man wartet noch auf Spätkommer. An Prantls Tisch sitzt ein holländisches Ehepaar, der Mann hat sich vorgestellt - ein doppelter Ach-Laut, vertraut kehlig. Prantl hat nicht genau verstanden und fragt nicht nach, noch sind sie Hotelgäste, privat, er möchte diesen Zustand nicht verändern, aber der Holländer ist bereits auf die Tagung eingestellt und wiederholt Prantls Namen, als möchte er ihn sich merken.
»Aus Grönland?«, er blättert neugierig im Programm. Prantl sieht seinen Namen handschriftlich nachgetragen; Brennhovds gedruckter Name ist gestrichen, aber immer noch leserlicher. Angmagssalik ist falsch geschrieben.
Der Holländer ist Pädagogikprofessor in Eindhoven, seine Frau Lehrerin in Vlissingen, wo die Familie wohnt. Sie ist deutlich jünger - wahrscheinlich seine ehemalige Studentin; Prantl entziffert die kontinentalen Verhältnisse mit einiger Verzögerung, wie das Blumenmuster auf dem Tischtuch: es sind Vögel. Er fährt mit der Hand über die Oberfläche, Wichsleinwand, es fällt ihm ein, daß er als Kind >Wichsweiland< sagte. Die Frau ist hübsch, sommersprossig. »Vlissingen? Dort war Janácek.«
Sie lächelt, zuckt mit den Schultern. »In Eindhoven ist Philips«, sagt der Mann. Der dritte Obstler schmeckt nicht mehr. Prantl steht auf, um etwas anderes zu holen.
Das Ehepaar setzt sich inzwischen an den zentralen Tisch, wo der Kongreßleiter, Professor Hayek von der Universität Wien, die Tagung eröffnet; auch für Prantl ist ein Platz reserviet. Hayek begrüßt die Anwesenden im Namen der Österreichischen Gesellschaft für Pädagogik und stellt ihnen seinen Stellvertreter vor, Magister Alois Dohnal, Schuldirektor und Karpfenzüchter aus Mariazell, der die Organisation besorgt hat. Einige Programmänderungen werden angekündigt. Die Erwähnung der Karpfenzucht erweckt allgemeine Heiterkeit; Prantl merkt den einheitlichen Willen der Anwesenden, die Tagung zu einem Erfolg werden zu lassen. Er denkt über das Wort Karpfenzucht nach.
Als Hayek die Teilnehmer vorstellt: ». und sogar aus Grönland - wir begrüßen unseren Kollegen .« - er sucht in der Liste und zeigt in Richtung Prantl - bekommt der neben ihm sitzende sowjetische Pädagoge viel Applaus. Es ist Vjaceslav Ponomarenko aus Lwow, früher Lemberg, wie der konziliante Vorsitzende zu erwähnen nicht versäumt, Koryphäe auf dem Gebiet der Makarenko-Forschung, von einer usbekischen Mutter und einem Weißrussen; seine Gesichtsfarbe ist Mischung von beiden, dazu breite Backenknochen und helle Schlitzaugen. Die Teilnehmer klatschen heftig Beifall. Prantl wünscht, daß dieser Irrtum anhält, aber schon der übernächste Teilnehmer, der vorgestellt wird, der Ukrainer Igor Borolic, offensichtlich ein Nationalist und Anti-Makarenkianer, zeigt unmißverständlich auf Ponomarenko und bezichtigt ihn der Anhängerschaft zu dem zweifelhaften Bahnbrecher der sowjetischen Frühpädagogik. Die Teilnehmer sehen sich irritiert nach ihrem verlorenen Eskimo um; Prantl muß aufstehen und sein mitteleuropäisches Gesicht zur Schau stellen. Allgemeine Enttäuschung.
Auch ein Tscheche ist da, das korrespondierende Mitglied der Akademie der Wissenschaften Bohumil Frölich, mit weichem Bauch und schütterem Haar, er macht einen unsicheren Eindruck, als wäre er gerade einer Streichung aus der Partei entgangen. Während der Kaffeepause, als Prantl ihn anspricht, weicht der anfängliche Freudenschimmer in Frölichs Augen einem vagen Schrecken; es steht kein weiterer Tscheche auf der Liste.
»Sind Sie aus Olomouc?«, fragt er vorsichtig.
»Nein, ich bin aus Prag.«
»Dann sind wir zwei.« Frölich lächelt angestrengt. »Sind Sie von der Universität des 17. November, Genosse?«
»Ich bin von der Universität Angmagssalik, Bruder.«
»Also dann sind Sie .« Frölich begreift. Es ist doch der seltsame Eskimo - er dreht sich um, hinter ihm steht der Ukrainer und hört zu. Frölich fragt nicht, wann Prantl weg ging - die vor '68 sind noch schlimmer!, und drängt sich hastig zu den westlichen Pädagogen durch, die meist aus Ländern kommen, in denen sie geboren sind. Schon ist er im Gespräch mit einem großen lärmenden Amerikaner mit brauner Tabaksaftspur im Bart, der jedem auf die Schulter klopft und John Bentley II heißt.
- Zwei junge Pädagogen aus Westdeutschland sprechen laut von Summerhill und von ihrem '68.
- Ein älterer Gelehrter aus Metz gibt Witze zum Besten darüber, daß Rousseau seine Kinder ins Waisenhaus gesteckt hat.
Ein finnischer Pädagoge aus Jyväskylä hält sich abseits und beobachtet das Treiben.
»Sie werden über Ihre Erfahrungen mit der Alphabetisierung der Lappen berichten, nicht? Da kann dann Ihr Kollege aus Grönland anknüpfen«, lächelt der Vorsitzende.
»Der Samen«, sagt der Finne.
Einen gewissen Glanz verleiht dem Treffen die Anwesenheit zweier jungen Wissenschaftler aus Cambridge, die selbstsicher Wasser nach dem Essen verlangen, kein Mineralwasser, das ihnen die Bedienung in Rechnung stellen könnte; sie wird von ihnen mit mehr Klassendistanz behandelt als von den anderen, die für ihre Getränke zahlen. Frölich mit seiner schmalen Brieftasche wagt es nicht, beim Wasser zu bleiben; ein kleines Bier muß es schon sein. Auch der Russe und der Ukrainer leben in ständigem Widerspruch zwischen ihrem Durst und ihrer Währung.
Die Engländer sprechen kaum mit anderen. Sie stehen nicht auf dem Programm, man munkelt, daß sie mit einer Überraschung kommen wollen, Näheres ist nicht bekannt. Sie gehen oft hinaus oder unterhalten sich laut inmitten der Diskussion; man wagt nicht, sie zu mahnen.
Die Kandidatin der pädagogischen Wissenschaften, Galina Teremeskova aus Suchumi, für die Beschulung der Abchasen mitverantwortlich und im Unterschied zu den meisten hier von gesunder Bräune, fühlt sich von ihnen angezogen; weniger von dem sportlichen Plumpton als von dem bläßlichen Screwley; die Sympathie wird nicht erwidert.
Es ist noch eine Frau da, die amerikanische Pädagogin Norma Iggers vom jesuitischen St. Spirit College aus Idaho, hager, von gelblicher Gesichtsfarbe, mit unruhigem Busen in einer cremefarbenen Bluse mit einer Schleife am Hals. Die quakerhaften Brüste machen einige Teilnehmer unruhig, vor allem die sowjetischen.
Am Abend des ersten Tages entflammt eine heftige Debatte: Dürfen Kinder geschlagen werden? Die meisten wissen, was man von ihnen erwartet und bringen entsprechende Argumente: gut zureden, erklären, Geduld, die Kinder sollen realisieren . - am lautesten die ledigen Deutschen. Ab und zu kriegt er eine, lacht der Amerikaner; er spricht von seinem erwachsenen Sohn.
Warum eigentlich nicht?, lächelt der Franzose. Auch Rousseau hätte, wenn er die Kinder nicht rechtzeitig .
Sie würde Kinder alles tun lassen, Hauptsache sie vertrauen auf Gott, erklärt Iggers.
Die Engländer wollen sich gar nicht äußern, bis der asthenische Screwley durch die Zähne zischt: Nur zu!
Hayek versucht zu vermitteln und an das pädagogische Ethos der Anwesenden zu appellieren. Sollten nicht gerade wir noch andere Wege suchen .? Trotz der vorgerückten Stunde?
Vjaceslav Ponomarenko ergreift das Wort:
»Sehr geehrte Genossen, äh, Freunde, Kollegen!
Erlauben Sie mir, daß ich mich zuerst bei der Österreichischen Gesellschaft für Pädagogik für ihre freundliche Einladung herzlich bedanke. Für uns alle! Das ist der Beweis, daß die Werke unseres marxistischen Pädagogen und Wissenschaftlers, des großen pädagogischen Genies dieses Jahrhunderts, Anton Semjonowitsch Makarenko, immer mehr an Echo gewinnen.«
Die Teilnehmer sehen sich an.
»Es ist kein Wunder. Als 1949, anläßlich seines zehnten Todestages, das Präsidium der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der RSFSR beschloß, seine Werke herauszugeben, war ich noch sehr jung. Ich war ein junger Anwärter auf die Ehre, Volkslehrer zu werden, Erzieher unserer Jugend. Freunde, Sie kennen das, die Ungeduld, endlich ans Werk, ins Leben hinauszuschreiten, wie unser geliebter Anton Semjonowitch sagen würde. Der Weg ins Leben. Ja, das war es, was mich bewog, mein Studium abzubrechen, gleich im ersten Jahr, und in die Praxis, aufs Land zu gehen. Was heißt, bewog, ich wurde gerufen, Freunde, und da geht man. Das werden Sie verstehen. Wir alle gingen. Sie war heilig, diese Aufgabe. Wenn Sie bedenken, wie die Bezprizorniki auf den zaristischen Straßen herumlungerten - wer den überaus packenden und künstlerisch hochgeschätzten Film gesehen hat - wo sie der Frau zum Beispiel das Hinterteil . ich meine, von ihrem Pelz, Sie wissen, hinten am Mantel, das schneiden sie mit der Gilette aus, ja, ganz geschickt die Jungs, und rennen, bevor die Polizei kommt. Die dicke Kulakin merkt es erst, als sie sich an den Hintern faßt, haha .!
Aber zur Sache. Makarenko war auch jung, auch er voller Ideale, unseren Traum von einem freien Menschen zu verwirklichen. Und was macht Makarenko? - er wird berufen! Sie wissen, wenn ich sage >berufen< - kaum ein anderer Beruf ist so ein Beruf im eigensten Sinne des Wortes - ja, berufen, von der Partei, von der Gesellschaft, aber Partei und Gesellschaft, das ist ja das gleiche. Die Partei ist eigentlich vor der Gesellschaft da, als ihre revolutionäre Vorhut, sozusagen. Sie bestimmt, sie spürt heraus, was die Gesellschaft braucht. Neue Lehrer, Kollegen! Gut, ich bleibe bei >Kollegen<, nicht alle hier sind Genossen, obwohl wir doch alle am gleichen Strang ., nicht wahr? Anton Semjonitsch geht und nimmt diese schwere Aufgabe auf sich.
Sie erinnern sich aus...
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