Schweitzer Fachinformationen
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Das ist nicht dein Ernst, Charly!» Mia rührt ihre Latte so schnell durch, dass in Kürze nichts mehr von dem schönen Schaum übrig sein wird. Ich dagegen löffele vorsichtig meinen Milchcafé und gönne mir einen Extralöffel Zucker.
Durch die breiten Fenster des Cafés kann man raus auf den Markt von Altobernstadt sehen, der Regen tropft in dicken Bindfäden auf die unbesetzten Metalltische und angelehnten Stühle. Ich schaudere und ziehe die Schultern unter meinem Hoodie zusammen. Wäre das hier eine meiner geliebten Serien, dann würde ich keinen Hoodie tragen, sondern wäre in eleganten High Heels unbeeindruckt über das nasse Kopfsteinpflaster gehuscht und würde trotzdem mit perfekter Frisur vor Mia sitzen.
Selten hat sich meine kleine Heimatstadt so trüb und grau angefühlt wie in den ersten, verregneten Tagen dieses Aprils. Es ist, als müsste der Himmel all seine Reserven loswerden, um für den Sommer gewappnet zu sein. Einen, der so lang und heiß und trocken ausfallen könnte wie der vorige.
Mia sieht mich fragend an und erinnert mich daran, dass ich ihr noch eine Antwort schuldig bin. Doch bevor ich auch nur nicken kann, beugt sie sich vor und donnert ihre spitzen Ellbogen auf die Tischplatte, dass der Salzstreuer wackelt. «Und warum? Erklär es mir, ich hab es immer noch nicht verstanden. Ist es das Helfersyndrom?» Ihre Stimme klingt nicht anklagend, eher besorgt. Sie streckt den Arm aus und streichelt meine Hand.
Wir führen diese Diskussion ständig. Eigentlich alle drei Monate, wenn wir uns hier treffen, weil Mia in ihrem Heimatort «ein paar Bankgeschichten zu erledigen hat» - was übersetzt bedeutet, dass ihre Eltern sie finanziell unterstützen und sie ihnen dafür einen Besuch abstattet. Heute allerdings ist sie noch fahriger als sonst.
Seufzend sehe ich in ihr bildschönes Gesicht, leicht gebräunt, dezent geschminkt, die dunklen Haare fallen links und rechts ihres Ponys in hübschen Wellen über ihre Schultern. Von Weitem könnte man uns für Schwestern halten. Haarfarbe, Größe, Figur und sogar unsere Nasen haben erstaunliche Ähnlichkeit. Aus der Nähe wird schnell klar: Was bei Mia zur Perfektion gereicht hat, ist bei mir unteres Mittelmaß geblieben. Eine Hauskatze macht eben noch keine Löwin (da kann sie sich noch so herausputzen). Das dunkelgrüne Kleid steht ihr super. An mir wirkt Grün immer, als wäre ich aus Versehen in einem Prospekt für Tarnkleidung gelandet. Elegant ist anders.
«Ich habe kein Helfersyndrom», erkläre ich, «das nennt man Familie, Mia. Meine Mutter braucht mich, Katja und die anderen brauchen mich. Ich kann nicht einfach wegziehen, wenn zu Hause die Bude brennt. Außerdem habe ich meine Arbeit bei Edelbert & Ardenbaum!»
Mia zieht die dicker werdende Falte zwischen ihren Augen zusammen. Sie denkt jetzt sicher an ihre letzten Jobs. An die aufregende Zeit in Frankfurt oder die bei Vienna Voices in Wien. Die Zwischenstation als Reiseleiterin auf einem Kreuzfahrtschiff. Oder an das Jahr in Paris, als sie sich eine der sehr begehrten Festanstellungen bei der französischen Synchronfirma gesichert hatte. Gedankenverloren zwirbelt sie ihre Haare um den Finger und sieht aus, als wäre ihr gerade eine Idee gekommen, über die es dringend nachzudenken gilt. Mia ist wie eine dieser Zaubertafeln, die wir als Kinder so geliebt haben. Sie malt und schreibt ihr Leben immer wieder neu und hat kein Problem damit, einfach über die Tafel zu wischen. Ich dagegen bin mehr der Typ in Stein gemeißelte Wahrheit.
Hinter uns räumt die Kellnerin geräuschvoll einen der verlassenen Tische ab, während ich zu einer Erklärung ansetze. «Ich muss keine Miete zahlen, ich kann Veronika und Georg helfen, und Jo ist ja auch noch da.»
«Verschon mich mit Jo!» Mia stöhnt und wechselt lieber das Thema. «Wie geht es Katja? Ich hab sie so lange nicht gesehen. Wenn man überlegt, wie dick wir mal miteinander waren .»
Ich erinnere mich daran, wie Katja, Mia und ich früher am Bachlauf unter der Trauerweide Staudämme gebaut haben und uns vorstellten, an Lianen durch den Dschungel zu schwingen. Wie Mia damals schon konkrete Pläne schmiedete, nach der Schule in den echten Amazonas zu fliegen. Pläne, in denen ich ein fester Bestandteil war. Pläne, die Mia in die Tat umgesetzt und ich auf die lange Bank geschoben habe, bis sie heruntergepurzelt sind und festgetrampelt wurden.
«Katja? Geht so, sie verkraftet die Trennung von Tobias nicht besonders. Seit ein paar Wochen wohnt sie wieder bei uns. Und damit hat das liebevolle Chaos Einzug gehalten.»
Mia versucht, verständnisvoll zu gucken, aber ich weiß schon, dass sie es nicht wirklich versteht. Wie auch. Mia ist Einzelkind und nicht wie ich in einer Pflegefamilie groß geworden. Und deshalb musste sie nie daran zweifeln, wer sie ist. Vielleicht wachsen Flügel überproportional groß, wenn man starke Wurzeln hat und genau weiß, wo man herkommt. Vielleicht fürchtet man sich dann auch nicht so sehr, die Flügel weit auszustrecken und Wurzeln Wurzeln sein zu lassen.
Obwohl wir uns sehr nah sind und unsere gesamte Kindheit zusammen verbracht haben, steckt Mia eben nicht in meiner Haut, in einem Körper aus Genen, von deren Herkunft ich keine Ahnung habe. Ich weiß nur, dass meine Mutter mich nicht wollte und mich im Alter von dreizehn Monaten in einem Kinderheim abgegeben hat.
Ich bin froh, als Mia meine Gedanken unterbricht und fragt: «Aber zwischen dir und Jo läuft es gut? Ich meine, selbst nach dieser grauenvollen Aktion?»
«Geht schon», erwidere ich ausweichend. «Er hat es doch nicht böse gemeint.» Und so grauenvoll war es gar nicht, füge ich in Gedanken hinzu. Bestimmt gibt es auch Leute, die fänden es sogar witzig, wenn der eigene Freund ein Computerspiel programmiert, in dem man selbst die Antagonistin in Zombieform ist. Ein Spiel, das noch dazu so erfolgreich ist, dass es jeder kennt. Meine Lippen fühlen sich plötzlich furchtbar trocken an, ich lecke darüber, obwohl ich weiß, wie kontraproduktiv das ist. Ich habe doch anfangs selbst über die Idee gelacht. Ohne zu wissen, dass es ihm ernst damit war, mich zur Vorlage für die ultimative böse Zombiebraut zu machen. Jo hat mich seine Gamer-Muse genannt. Das war zu einem Zeitpunkt, als er mich noch liebevoll auf die Nasenspitze geküsst hat. Als ich es cool fand, wie locker wir miteinander sind, und stolz darauf war, wie wichtig ihm meine Meinung zu allen Dingen in seinem Leben ist. Und als ich es spannend fand, in diese Welt der Computernerds und Gamefreaks einzutauchen.
Inzwischen finde ich es schon ziemlich lange kindisch. Und eher dumm.
«Jetzt programmiert er ein Reality Suburbian Adventure», erkläre ich. «Schauplatz ist Altobernstadt.»
Ich bemühe mich, völlig ernst zu bleiben. Aber als ich in Mias Gesicht blicke, das gerade zusehends an Spannung verliert, muss ich doch lachen. Auch wenn es sich etwas bitter anfühlt. Sie fällt einfach nie auf mich rein.
Etwas leiser sage ich: «Vielleicht zieht er demnächst zu mir.»
Das ist vermutlich die größte Lüge, die ich Mia je aufgetischt habe, aber ich kann diesen Blick kaum aushalten. Mia ist eine Klammer, die sich ausschließlich um sich selbst schließt. Und das ist absolut positiv gemeint. Mia braucht niemanden, der sie liebt, sie liebt sich selbst genug. Ich dagegen brauche Bestätigung, weil ich von Jahr zu Jahr weniger Ahnung habe, wer ich eigentlich bin.
Mia lässt ungeniert ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. Direkt neben ihre schaumlose Latte. Es gibt einen dumpfen Knall, sodass uns die Frau am Nebentisch einen vorwurfsvollen Blick zuwirft, und ich verkrieche mich automatisch noch ein wenig tiefer in meinen Hoodie.
Mia wiederholt meine Worte ungläubig: «Altobernstadt und . Suburbian?»
«Das heißt Vorort», erkläre ich unnötigerweise.
«Finde den Fehler, Charly! Finde den Fehler!», keucht sie und schaut unter ihrem dunklen Pony wieder zu mir hoch. «Dieses Kaff ist nicht einmal ein Vorort. Es ist die komplette Einöde. Die Pampa, der Arsch der Welt, die Walachei, der Hinterhof von Hintertupfingen, der Kaffeesatz von Bayern . Wie sagt man dazu noch mal auf Englisch?»
«Zum Kaffeesatz?», hake ich nach.
«Du weißt genau, was ich meine. Wie ist der Ausdruck für einen unwirtlichen, unterbevölkerten, ereignisarmen und sterbenslangweiligen Ort?»
«Po-dunk», sage ich.
Mias braune Augen unter den dichten, dunklen Wimpern funkeln. «Genau, du bist direkt nach dem Studium nach fucking Podunk zurückgekehrt und lebst immer noch da!»
«Du vergisst dabei, dass du selbst aus fucking Podunk stammst.»
Ich schiebe das komische Bauchgefühl auf den starken Kaffee. Nicht, weil Mia meinen Lebensentwurf nicht mag, sondern weil ich weiß, wie recht sie damit hat. Ich benutze meinen On-and-off-Freund, meine Familie, meine Geschwister, die Arbeit im Restaurant als Entschuldigung, um mich selbst vor der Welt da draußen zu schützen. Es ist pure Angst.
Ich beuge mich zu ihr vor und stoße mir dabei die Oberschenkel an der zu niedrigen Platte an.
«Bei dir hört sich das immer so an, als würde ich nie hier rauskommen», sage ich leise.
Während Mia wieder ihre Latte quirlt, verraten mir ihre Augen, dass sie genau das befürchtet. Sie selbst hat den Mut, ihre Wohnorte so häufig zu wechseln wie andere ihre Unterhosen. Ich dagegen hänge im Einmaleins meiner Geschwister fest. Freiwillig, aber trotzdem immer ein wenig unzufrieden damit. Zugleich unfähig, etwas zu ändern.
Ich tätschele die perfekt gebräunte Haut an ihrem Unterarm und sage: «Der Kaffeesatz findet sich am...
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