Schweitzer Fachinformationen
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Der Zug nach Morpeth brauchte fast vier Stunden, wovon ich einen Großteil mit der Lektüre der gemeinsamen Kontoauszüge der Lemons verbrachte; doch wie immer legte ich die letzte halbe Stunde der Fahrt alles weg, was ich gerade tat, um aus dem Fenster zu blicken. Reisende, die noch nie zuvor hier gewesen waren, überraschte dieser Streckenabschnitt immer, fast als hätten sie erwartet, so weit oben im Norden nur noch den schwarzen Qualm von Fabriken zu sehen. Umso überwältigter waren sie dann von den goldenen Stränden und dem dahinter liegenden silbernen Meer. Im Sommer hoben amerikanische Touristen auf dem Weg zum Edinburgh Festival den Blick und riefen: »Harry, Darling! Schnell, pack die Kamera aus und schieß ein Bild vom Meer.«
Linzis Fall hatte mich leider nicht besonders gut ablenken können. Während ich die Auszüge und Grundbucheintragungen durchforstete, blieb mir jede Sekunde bewusst, dass der Zug mich im Eiltempo einem unangenehmen Wiedersehen mit Art entgegenfuhr.
Ab und zu hatte ich mir, obwohl wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, vorgestellt, wie es wäre, ihm zufällig über den Weg zu laufen. In diesen Fantasien sah ich aus wie Nicole Kidman, die eine Anwältin in einer Netflix-Serie spielt: im maßgeschneiderten Kostüm, die rötlichen Locken zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten, die mein Gesicht auf eine sexy Weise umspielten, aber keineswegs zerzaust aussahen, wie bei einer Erwachsenen, die ihr eigenes Haar immer noch nicht im Griff hatte.
»O mein Gott, Art, hey!«, würde ich sagen, auf der Straße stehen bleiben und ihn anlächeln. Ich würde nicht schwitzen. Ich würde nicht stammeln. Wir würden ein Gespräch führen, bei dem ich nichts Peinliches sagte oder tat, stattdessen würde es mir im Verlauf dieser zweiminütigen Begegnung gelingen, ihm reinzudrücken, dass ich ein tolles Leben führte, für Londons renommierteste Anwaltskanzlei arbeitete, seit elf Jahren mit Gus zusammen war und ja, ja, wir besaßen auch eine eigene Wohnung. Noch keine Kinder, nein, aber wir hatten immerhin zwei Schlafzimmer und einen Korkenzieher, der den Wein beim Öffnen belüftete.
Danach würde ich verkünden, dass ich nun zu meinem überaus seriösen Job in mein überaus seriöses Büro zurückmüsse, und Art als schluchzendes Häufchen Elend auf dem Bürgersteig zurücklassen, der sich verzweifelt fragte, wie er mich je hatte gehen lassen können.
Doch während meiner Fahrt nach Morpeth wurde ich zusehends unsicher, ob ich einen so selbstbewussten Auftritt hinlegen könnte. Mein Blick huschte unwillkürlich zur Notbremse am anderen Ende des Waggons, und mich überkam der gefährliche Drang, daran zu ziehen und rauszuspringen, um direkt den nächsten Zug zurück nach London zu erwischen. Dann ermahnte ich mich, mich zusammenzureißen. Art war in erster Linie ein Freund aus Kindheitstagen, und ich würde einfach seinem Vater die letzte Ehre erweisen.
Genau genommen war er vor mir mit meinem Bruder Jack befreundet gewesen, da die beiden gleich alt waren und als Kinder viel Unfug getrieben hatten; jedenfalls bis zu Arts dreizehntem Geburtstag. Danach wurde er auf ein Internat geschickt.
Das war der Moment, in dem ich begriff, wie sehr wir uns von ihm unterschieden. Oder zumindest einer der Momente. Bis dahin war mir die soziale Kluft zwischen uns und Art gar nicht aufgefallen. Als ich klein war und anfing, bei den Jungs mitzuspielen, wusste ich nur, dass Arts Haus größer war als unseres. Viel, viel größer. Drummond Hall verfügte über hundertzwölf Zimmer, die wie geschaffen waren für ausgedehnte Versteckspiele, was für gewöhnlich damit endete, dass ich heulte, weil ich keinen der beiden finden konnte. Darüber hinaus gab es auch einen Landschaftsgarten, dessen Grenzen wir irgendwie nie zu erreichen schienen, ein Heckenlabyrinth (in dem ich mich meist verlief, was ebenfalls mit Tränen endete), einen Butler namens Henry, einen Koch namens Frank und dann noch Arts Kindermädchen, die wir Nanny Gertrude nennen durften, einen Tennisplatz und nicht etwa nur einen, sondern gleich zwei große, mit Ornamenten verzierte Fischteiche, die so akkurat wie Kornkreise unterhalb der Terrassentüren auf der Rückseite des Hauses angelegt waren.
Es gab noch weitere Hinweise dafür, dass wir anders waren: Sie hatten ein schöneres Auto - besser gesagt, mehrere Autos, die Lord Drummond in einer riesigen Garage hinter den Stallungen aufbewahrte. Art hatte ein eigenes Bad und in seinem Zimmer einen Fernseher mit eingebautem Videorekorder, auf dem Jack und ich uns mit ihm die neuesten Filme anschauten, da er diese ebenfalls besaß. Er wurde auf die Privatschule nach Eton geschickt. Die Drummonds gingen jedes Jahr Skifahren. Aber Art selbst schien nie anders zu sein als wir, weder verwöhnt, noch versnobt. Er war ganz einfach mein Freund - bis zu dem Tag, an dem er es nicht mehr war.
Die Lautsprecheranlage des Zuges riss mich aus meinen Erinnerungen. »Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir Morpeth. Bitte vergewissern Sie sich, dass Ihr Gepäck vollständig ist, und .«
Beim Anblick meines Spiegelbilds im Zugfenster schüttelte ich den Kopf, verärgert darüber, wie ich es hatte zulassen können, dass diese Erinnerungen mich einholten. Schluss mit der Schwelgerei, Eleanor Mason. Du gehst zur Beerdigung, verbringst eine Nacht bei deinen Eltern, und morgen früh kehrst du wieder ganz vernünftig und erwachsen nach London zurück.
Obwohl er fast vierzig Jahre für ihn gearbeitet hatte, schien Dad nicht wahnsinnig getroffen von Lord Drummonds Tod. Auf der Heimfahrt vom Bahnhof erklärte er, die Ursache sei ein Herzinfarkt gewesen, zu dem es vermutlich gekommen war, weil Lord Drummond sich mit seiner Geliebten, einer Dame, die in Alnmouth einen Hundesalon besaß, im Bett verlustiert hatte.
»Nicht die schlechteste Art abzutreten, was?«, fügte Dad laut lachend hinzu und klopfte begeistert mit seiner riesigen Pranke aufs Lenkrad.
Fairerweise musste man einräumen, dass Lord und Lady Drummond nicht nur ihren Angestellten gegenüber, sondern auch im Dorf eine recht unnahbare Haltung pflegten. Zwar waren sie de facto die Herren von Northcliffe, die in dem stattlichen Familiensitz residierten, glänzten aber meistens mit Abwesenheit, und auch sonst hatten sie nur selten mit dem Rest von uns zu tun. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lady Drummond uns für Bauern hielt. Sie vermittelte oft diesen Eindruck, wenn Jack und ich als Kinder im Herrenhaus auftauchten und nach Art fragten. Ihre Nase zuckte dann etwas angewidert, so als würden wir nach Pferdedung riechen. Was wir ja vielleicht auch taten.
Als Kind hatte ich Angst vor Arts Eltern. Lady Drummond war groß, dünn und hatte ein spitzes Gesicht. Sie war ein ehemaliges Model, das es aufs Cover der Vogue geschafft hatte, aber ich fand immer, dass sie wie ein menschliches Hermelin aussah, da ihre Nase bei allem, was ihr zuwiderlief, zu zucken begann. Und das betraf nicht nur Jack und mich. Die Liste beinhaltete auch Schlamm, dicke Menschen, praktisch alle Nahrungsmittel und jeden, den sie als sozial tiefergestellt erachtete. Die Dorfbewohner nannten sie Lady de Vil, weil man sie immer nur in Pelz gehüllt zu sehen bekam - Fuchs, Hase, Chinchilla, ja, vielleicht sogar Hermelin. Als wir noch klein waren, verreiste sie auch ständig - nach London, Paris, New York oder in das neueste Spa in der Schweiz - und ließ Art bei Nanny Gertrude zurück, da Lord Drummond oftmals unterwegs war, um Pferderennbahnen in Frankreich, Dubai und sogar Australien einen Besuch abzustatten.
Wenn Lady Drummond ein Hermelin war, dann war Lord Drummond ein Dachs - kleiner, rundlicher und mit dichten schwarzen Augenbrauen, die beinahe miteinander verwachsen waren. Er trug ausschließlich Tweedanzüge, dazu hellgelbe Socken und stets irgendeinen Hut, um seine Stirnglatze zu verbergen - mal einen Trilby, mal eine Schiebermütze oder auch einen Panamahut. Nanny Gertrude war sein Kindermädchen gewesen, als er selbst noch klein war, und als Art zur Welt kam, stellte er sie erneut auf Drummond Hall ein - was wohl die vernünftigste Entscheidung war, die Lord Drummond je getroffen hatte, da sie Art so liebte, als wäre er ihr eigenes Kind.
Während ich so neben Dad im Wagen saß, fragte ich mich, ob ich bei der Beerdigung wohl Gelegenheit hätte, mich mit Nanny Gertrude zu unterhalten. Auch wenn ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, lebte sie immer noch hier oben, in einem Cottage auf dem Anwesen, und musste mittlerweile über neunzig sein. Früher hatte sie die Figur eines Muffins, samt gewaltigem Busen, den sie stets mit einer pastellfarbenen Strickjacke verhüllte und an den sie uns mit schöner Regelmäßigkeit drückte. Normale Menschen hatten Höhenangst oder fürchteten sich vor Spinnen, aber Nanny Gertrudes größte Angst war, dass einer von uns sich erkältete, was, da wir in einem sturmumtosten Dorf an der Nordsee lebten, leider nicht abwegig war.
Als wir uns der Ortstafel von Northcliffe näherten, verlangsamte Dad das Tempo, und instinktiv wanderte mein Blick nach rechts zu dem kilometerlangen Sandstreifen und den sich darüber erhebenden Klippen. Von dort oben konnte man den ganzen Strand überblicken und den Leuten zusehen, die ihre Hunde Gassi führte, den Möwen, die in den flachen, von der Ebbe zurückgelassenen Pfützen umherwatschelten, und manchmal sogar dem einen oder anderen Kitesurfer, der die kräftigen Winde an diesem Küstenabschnitt ausnutzte.
Dort oben lag auch Drummond Hall, direkt auf den Klippen, mit Blick auf die wogenden Wellen darunter.
Dad bog von der Hauptstraße ab und hielt auf einem Parkplatz...
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