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1997
Die Redakteurin der zehnseitigen Beilage »Neue Jugend-Literatur« der Frankfurter Rundschau vom 18. März 1998 erbat sich als Auftakt von mir einen Beitrag über meine Erinnerungen an frühe Leseerfahrungen.
Zurücktastend nach der frühesten Leseerfahrung werde ich zwischen den lichten, beweglichen Erinnerungsschatten aller Art nicht fündig. Zwar sehe ich die Fibel mit ihrem verbrämenden Titel Der fröhliche Anfang noch vor mir und erinnere mich des großen, bunten Hahns, der auf einem >i< thronte und sein >kikeriki< suggerieren sollte; auch haben sich die Qualen des buchstabierenden Aneignens der Schriftzeichen (»LEO O LEO«) unvergesslich eingebrannt, doch finde ich keine Spur eines früh-, gar vorzeitig erwachten Lesedrangs, wie er von aufgeweckten Kindern berichtet wird. Vermutlich hat es Bilderbücher mit kleinen Sätzen gegeben, aber sie sind wie nicht gewesen. Schattenhaft und ohne Glanz auch der Heiner im Storchennest (von Wilhelm Scharrelmann, wie ich heute weiß), mit dem wir nach der Fibel zum Lesen gebracht werden sollten. Von bildergesättigten Gefühlen durchzogene Nachwehen von Leselüsten, die ich mir selbst weitab von der Schule in den Sommerferien bei den Großeltern leistete, als ich in einer Schublade abgelegte Jugendbücher meines Onkels zwischen allerlei Krimskram aufstöberte und zum Schmökern mit ins Bett nahm, erreichen mich dagegen heute noch. Das muss mich fasziniert haben: der Anhauch des Abgetanen, Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert, in altmodischer Fraktur gedruckt und mit Holzstichen illustriert.
Dass meine Karl-May-Sucht bis in die Grundschulzeit reicht, sagt mir die Begier, mit der wir Leseneulinge die Serien der Karl-May-Bilder sammelten und untereinander tauschten. Einige der älteren Serien waren zu Raritäten geworden, und wer sie besaß, hatte sie gut zu hüten. Meine erste Karl-May-Lektüre war der Band Unter Geiern, den mir meine Eltern geschenkt hatten, sicher nicht ahnend, welche Lesekaskade sie damit auslösten. Unvergesslich darin der Todeszug der Auswanderer durch den Llano estacado, wo Banditen die Wegzeichen in die Irre führend umgesteckt hatten, sodass der Wagenzug der Ahnungslosen ihre Beute hätte werden müssen, hätte Old Shatterhand nicht rechtzeitig eingegriffen. Es gab in den 30er Jahren einen ersten Karl-May-Film: Durch die Wüste, den ich mir natürlich ansah, obwohl für uns Kinobesuche zu den Ausnahmen gehörten. Die Enttäuschung war maßlos - viele Einzelheiten waren nach meinem Urteil unzutreffend, und die Gestalten von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar hatten mit den mir bekannten keine Ähnlichkeit; auch brach der Film mitten im Buch ab. Er konnte mit diesem nicht konkurrieren.
Mein Lesebedarf schwoll an, als ich 1936 als Sextaner des Lessing-Gymnasiums in einem Flur in einem großen Schrank hinter gläsernen Schiebetüren die Schülerbücherei entdeckte. Jede Ausleihe wurde in einer Liste hinter dem Schülernamen vermerkt, und es dauerte nicht lange, da war die von mir bewirkte Ausleihezeile quer über die Seite gewachsen, allen anderen weit voraus. Die Buchbestände stammten wohl überwiegend aus den 20er und 10er Jahren. Neben den vielfach begehrten Karl-May-Bänden, die ich mir Stück für Stück einverleibte - irgendwann wies meine Leseliste 28 Titel auf -, waren es vor allem Forscher- und Abenteurerbücher, wie Friedrich Gerstäckers Die Flußpiraten des Mississippi, Charles Sealsfields Die Prärie am Jacinto, Sven Hedins Von Pol zu Pol, Wilhelm Filchners Om mani padme hum; Mit Blitzlicht und Büchse hieß ein Afrikabuch, dessen Autor mir entfallen ist. Populäre historische Romane, wie Die letzten Tage von Pompeji von Bulwer-Lytton oder Ein Kampf um Rom von Dahn, gehörten ebenso wie Kriegsbücher aus dem Ersten Weltkrieg dazu. Die Mischung war bunt und heterogen. Nicht zuletzt hatten es mir die Jugendbücher des Franz-Schneider-Verlags angetan (eines hieß Das rote U, eine Jungengeschichte). Deren Lektüre wirbelten die Phantasie des Zwölf- und Dreizehnjährigen derart auf, dass er sich selber solche Geschichten auszudenken begann. Nicht nur die Erzählmuster und das sprachliche Gehabe waren den gedruckten Vorbildern abgeguckt, auch die äußere Form meiner in sauberer Sütterlinschrift geschriebenen Hefte ahmte Verlagserzeugnisse - einschließlich des Impressums - nach. Doch zogen sich, vom Aufsatzschreiben in der Grundschule eingeübt, eigene jungenhafte Erfahrungsschlieren hindurch.
Zur Lesemelange dieser Jahre gehörten auch die Heftchen der wöchentlich neu erscheinenden Detektivgeschichten von Tom Shark, von John Kling und anderen, die für 20 Pfennig billig an den Kiosken zu haben waren. Auch sie halfen die Blasen von Phantasiewelten zu bilden, die mit dem von der Schule auf der einen, HJ-Appellen auf der anderen Seite gekerbten Alltag nichts zu tun hatten. Irgendwann habe ich den ganzen Stapel bei einem Freund (wenn ich mich recht erinnere) gegen eine Schreckschusspistole eingetauscht.
Irgendwann stieß ich damals auf die Volksbücherei in der Burgstraße, die meinen Lesefundus beträchtlich erweiterte. Es war noch kein Freihandsystem, sondern die gefragten Bücher wurden mit Hilfe von Karteikarten für die Interessenten zusammengestellt. Dazu brauchte man Hilfskräfte. Da ich als bücherkundig aufgefallen war, bot man mir gegen einen Stundenlohn von 41 Pfennig diesen Posten an. Von den zahllosen Büchern ist mir vor allem Droysens Geschichte Alexanders des Großen im Gedächtnis geblieben, da sie mich veranlasste, auf zwanzig Heftseiten eine mit Karten versehene Geschichtstheorie über »Blüte und Verfall« großer Reiche im »Wandel der Jahrhunderte« zu verfassen. Die historischen Bezüge endeten zwar mit Napoleon, doch schlug der damals virulente Vorstellungshorizont von den >geopolitischen Großräumen< der Erde am Ende als Denkmuster durch, ohne dass allerdings die aktuelle Situation - man schrieb den Juli 1941 - angesprochen wurde.
Diese Art des Vorbeisehens an den herrschenden ns-ideologischen und kriegspolitischen Gegebenheiten bestimmte weithin den Unterricht, den die Lehrer des Lessing-Gymnasiums damals praktizierten. Der Geschichtsunterricht, dominiert von einem Buch mit dem ominösen Titel Volk und Führer, erreichte nie die Gegenwart, und der Deutschlehrer tastete im 9. oder 10. Schuljahr den möglichen Spielraum mit zwei diametralen Lektüren ab: Hans Grimms Erzählung Der Zug des Hauptmanns Erckert, einer Episode aus Grimms völkisch-imperial gepoltem Roman Volk ohne Raum (1926), der Stichworte der NS-Zeit präludierte, und im Kontrast dazu Ernst Wiecherts Hirtennovelle, die 1935 noch erscheinen konnte und deren Held Michael wie in einem Gegenbild zu Hitlers martialischen Forderungen an die deutsche Jugend Züge des biblischen David und des christlichen Guten Hirten vereinte. Was ich erinnere, ist ein wahrnehmendes, nicht ausdeutendes und schon gar nicht - in welchem Sinne auch immer - explizit hinterfragendes Lesen. Beide Büchlein habe ich, vergilbt und verkommen, in einem alten Karton wiedergefunden.
Als ich zum Bücherkäufer werden konnte, war der Krieg ausgebrochen und das Angebot der Buchhandlungen aufs Kümmerlichste geschrumpft. Doch es gab die Antiquariate, die bis zu den Ausbombungen noch mancherlei Literaturfunde bargen. In der Weißadlergasse (wenn ich mich recht erinnere) existierte zwischen Bücherhaufen und beladenen Regalen ein Antiquar, der mich seine Vorräte ungeniert durchstöbern ließ. Vermutlich wusste er selber nicht so genau, was er da hatte. Dort und im Antiquariat der Frankfurter Bücherstube am Roßmarkt, das sich in mehreren hohen Räumen des ersten Stocks befand, habe ich bei vielen Besuchen allmählich meine kleine Bibliothek zusammengekauft, immer abhängig von Zufallsfunden. Ein Bombenvolltreffer riss sie am 4. Februar 1944 in den Abgrund; einiges davon konnte aus dem Schutt geborgen werden. Dank der komplizierten Registrierungen, mit denen ich meine Erwerbungen auf der letzten Seite gekennzeichnet habe, kann ich sie heute noch von den späteren unterscheiden. In Ausgaben der 20er und 10er Jahre und des 19. Jahrhunderts finden sich da Klopstock und Uhland, Lenau und C.F. Meyer, Dickens und Wilde, Hamsun und Lagerlöf, Friedrich und Ricarda Huch, Dehmel und Wedekind, Carl Hauptmann und Paul Ernst und manche andere zusammen. Von August Strindbergs »Deutscher Gesamtausgabe« im Verlag Georg Müller habe ich mir im Laufe der Zeit acht Bände zusammenklauben können. Ein Fund, der mich noch heute beglückt, war ein schmales Bändchen mit ausgewählten Phantasus-Gedichten von Arno Holz. Von den Autoren allerdings, die die Nazis verfemt hatten, fand sich in den Regalen der Antiquariate so gut wie nichts. Die >Gegenwartsliteratur< war für den Schüler, der ich damals war, nur gefiltert in den broschierten Bändchen, die verschiedene Verlage als »Feldpostausgaben« herausbrachten, in den Buchhandlungen zugänglich. Reclam, Eugen Diederichs, Langen-Müller, Insel boten in diesen Reihen ein buntes Spektrum von Autoren an, die in das offiziell geöffnete Literaturfenster passten. Die durch die schwarzen Listen der Nazis erzwungenen Ausblendungen der Moderne wurden peinlich beachtet, und so musste...
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