Schweitzer Fachinformationen
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Die Flut lief gerade auf, und der Himmel war leicht bedeckt. Wiebke stand in Overall und Gummistiefeln an der Wasserkante des Sörenswai-Vorlandes und blickte hinüber zur Nachbarinsel, die ein paar Seemeilen entfernt vor ihr lag. Ein kräftiger Wind fuhr durch ihr dunkles, schulterlanges Haar. Sie ging bis zu den Knöcheln ins Meerwasser und spülte die klumpige Marscherde von den Stiefeln ab.
Hinter ihr hoben die Zwillinge gerade ein tiefes Loch aus. Enna und Broder sahen dabei hochkonzentriert aus, für sie bedeutete das Schwerstarbeit. Dass ihre wuseligen Haare ihnen andauernd ins Gesicht wehten, merkten sie nicht einmal. Beide streckten beim Buddeln unwillkürlich ihre Zungen heraus. So sah man ihre Zahnlücken, die Schneidezähne waren ihnen gerade erst ausgefallen. Sie waren fast sechs Jahre alt und sollten nach dem Sommer in die Schule kommen, worauf sie sich riesig freuten: endlich der ersehnte Aufstieg in die erste Klasse! Wiebke erinnerte sich daran, dass es bei ihr genauso gewesen war. Die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens wollte sie so schnell wie möglich älter werden, um endlich für voll genommen zu werden und alles zu dürfen. Mit ihren neununddreißig Jahren sah sie das inzwischen nüchterner: Erwachsene verhielten sich im Grunde nicht anders als Kinder, da änderte sich gar nicht so viel.
«Mama, hilfst du uns?», rief Enna aufgeregt.
Wiebke ging zu ihnen hinüber und schaute in das Loch. Sie erstarrte. Ganz unten wurde ein halbverrotteter Stumpf sichtbar, der mal ein Pfahl gewesen sein könnte. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Waren das die Reste der Strandhütte, die sie damals mit ihren drei besten Freunden gebaut hatte, als sie so alt wie Enna und Broder war?
«Hier stand mal ein Haus», erklärte sie lächelnd.
Broder sah sie skeptisch an. «Direkt am Strand?»
«Ich habe es mit meinen Freunden aus Treibgut gebaut.»
Enna staunte. «Hast du dadrinnen auch gewohnt?»
«Ja, manchmal.»
In dieser Hütte war eigentlich alles passiert, was in ihrer Kindheit von Bedeutung war. Im Winter wie im Sommer, an Weihnachten wie an Geburtstagen, voller Liebeskummer oder glücklich verliebt. Hier hatten sie geredet, gelesen, geküsst und getrauert.
«Wer waren denn deine Freunde?», fragte Enna.
«Sie hießen Nicole, Hauke und Kai und kamen aus dem Dorf.»
«Seht ihr euch noch manchmal?», fragte Broder.
«Nein.»
«Wieso nicht?»
«Ach, das ist eine lange Geschichte.»
«Wir haben Zeit», bettelte Enna. «Erzähl sie uns - bitte.»
«Später. Wie wäre es, wenn wir uns hier genauso ein Haus bauen wie damals?»
«Super!», riefen beide gleichzeitig und fielen ihr in die Arme.
Seitdem stürmten die drei jeden Tag los und sammelten alles an Treibgut ein, was sie finden konnten. Broder entdeckte zwei Langhölzer, die parallel zueinander tief eingegraben wurden, das sollte der Eingang werden. Eine Querlatte kam zwischen die Pfähle, die sie erst einmal provisorisch mit Algen und Strandgras befestigten. Anschließend legten sie ein paar Steine in den Sand, um den Grundriss zu markieren.
«Das könnte was werden», befand Broder.
Eine Woche später waren die Wände so gut wie fertig, es fehlte nur noch das Dach. Die Sonne schien an diesem ungewöhnlich windstillen Tag ungefiltert auf sie herab. Wiebke sah unruhig auf ihre Uhr, es war bereits vier. Einerseits wollte sie die Fertigstellung der Hütte nicht verhindern, Enna und Broder konnten es gar nicht abwarten. Andererseits musste sie nun wirklich los.
Über den Deich wanderten sie zurück zu ihrem Trecker. Sie startete den Diesel, sofort darauf tönte Benjamin Blümchen aus dem uralten CD-Player. Der kleine Otto wurde vermisst, Benjamin Blümchen suchte ihn und fand ihn schließlich - in der Speisekammer. Das fanden Enna und Broder immer wieder spannend, obwohl sie die Geschichte schon hundertmal gehört hatten.
Die Fahrt war kurz und führte an Wiebkes Feldern vorbei. Im Augenblick wuchs dort vor allem Mais für die Biogasanlage im Dorf, auf den Weiden grasten ihre Kühe. Wiebkes Hof lag nur ein paar Kilometer hinterm Deich. Er bestand aus einem alten Reetdachhaus und einem modernen Stall für hundert Kühe, drum herum lagen ihre Weiden und Felder. Ihr Betrieb war nicht besonders groß, es reichte gerade so zum Überleben. Sie hatte den Hof nach dem Tod ihrer Eltern übernommen, da war sie gerade mal zwanzig gewesen. Die Kühe und das Ackerland bewirtschaftete sie seitdem alleine, was eine Menge Arbeit war. Das Wichtigste war dabei für sie, dass Enna und Broder neben all der Arbeit nicht zu kurz kamen. Oft stiegen sie einfach mit auf den Trecker und hörten CDs, während sie auf den Feldern ihre Furchen zog.
Heute war ein ganz besonderer Tag. Sie wollte sich so schön machen, wie es ging, dazu würde sie das Beste einsetzen, was ihre Garderobe hergab.
Doch bevor sie sich um ihr Aussehen kümmern konnte, huschte sie in den Stall, ließ das Spülwasser aus der Melkanlage ab und schloss die ersten sechs Kühe an die Melkmaschine an. Dann stellte sie laut Musik an, um die Milchproduktion zu steigern. Es waren Mozarts «Kleine Nachtmusik» und die «Moldau» von Smetana. Auch für sie ging so alles viel leichter.
Ihre Kühe sah Wiebke häufiger als ihre Freunde, jedes Tier war ihr bestens vertraut und hatte von ihr einen Namen bekommen. Lotte, Annabell, Ricarda, Bunti, Sarah, Sandrine und die anderen waren für sie echte Schönheiten - jede auf ihre Art. Genauso wie die vielen anderen Tiere auf dem Hof, zu denen sie die Kinder überredet hatten, die für die Landwirtschaft allerdings kaum Nutzen hatten: drei Ziegen, zwei Schafe, Zwerghühner, Truthähne, Tauben und Kaninchen. Sie waren das Ergebnis reiner Liebe und rannten mehr oder weniger frei über das Gelände. Natürlich durften sie nie geschlachtet werden, das war hoch und heilig versprochen.
Wiebke blickte nervös auf die Uhr, langsam sollte sie sich fertig machen. Da kam zum Glück auch schon ihre Aushilfe um die Ecke, in Blaumann und grünen Gummistiefeln: Auf den sechzehnjährigen Leif, den Sohn von Nachbar Thorsten Ingwersen, war Verlass.
«Moin!», grüßte er und legte eine Plastikhaube über seine langen Haare. Strenge Hygiene war im Stall unerlässlich, das wusste er von zu Hause.
«Moin, Moin.»
«Und du willst heute um die Häuser ziehen?», fragte er.
«Das ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Ich will zu einer Lesung.»
Er sah sie verständnislos an. «Da sitzt einer auf einem Stuhl und liest was vor?»
«Jo.»
«Mehr passiert da nicht?»
«Doch. Wenn es richtig spannend wird, trinkt er einen kleinen Schluck Wasser aus seinem Glas.»
Er lachte. «Klingt voll nach Action.»
Wiebke lächelte zurück. «Du kommst hier klar?»
Er nickte und wandte sich der Melkmaschine zu. Wenn er fertig war, würde er Enna und Broder ins Bett bringen und auf sie aufpassen, bis sie zurück wäre. Das hatten sie schon öfter so gemacht, und die Kinder liebten ihren Babysitter heiß und innig.
Wiebke eilte ins Haus in ihr frisch renoviertes Badezimmer. Sie hatte es eigenhändig zu einer kleinen Wellness-Oase ausgebaut, inklusive eleganter grauer Schieferplatten an den Wänden. Der Raum war jetzt doppelt so groß wie früher, es gab eine Badewanne, eine Massagedusche und ein riesiges Waschbecken.
Sie warf einen skeptischen Blick in den Spiegel: Aus der Dorfpomeranze im Overall sollte in einer halben Stunde ein heißer Feger werden?
Mission impossible, Wiebke!
Sie musste es trotzdem probieren. Ihre Nase war einen Tick zu lang, das fand sie schon immer, ihre Augen etwas zu klein. Doch das ließ sich heute Abend nicht mehr ändern. Ansonsten war sie groß, dünn und athletisch, um ihre Augen herum erkannte sie beim genauen Hinsehen feine Fältchen. Die unsichtbar zu machen, dafür gab es zum Glück Mittel und Wege.
Erst einmal raus aus den Klamotten und ab unter die heiße Dusche. Ins Haar kam eine Kur und aufs Gesicht eine Tonerde-Maske, die würde ihre Haut laut Versprechen auf der Verpackung zart machen wie in Kindheitstagen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wie würde sie wohl auf Hauke wirken? Hatte sich ihr Aussehen in den letzten Jahren vielleicht so drastisch verändert, dass er sie gar nicht wiedererkannte? Sie blickte in den Spiegel. Mit der tonerdenen Gesichtsmaske war das schwer zu beurteilen. Ihre knallblauen Augen stachen als starker Kontrast daraus hervor.
«Aaaar!», schrien Enna und Broder, als sie hereinstürmten und sie mit der Maske sahen. Sie sah wirklich aus wie ein Monster an Halloween.
«Wohin gehst du?», fragte Enna, als sie sich wieder beruhigt hatte.
Wiebke wusch sich das Gesicht sorgfältig ab, cremte es ein, trug eine hauchdünne Schicht Make-up auf und fischte sich als Nächstes den Eyeliner aus ihrem Schminktäschchen. «Ich treffe einen alten Freund wieder. Hauke hat damals unser Strandhaus mitgebaut.» Sie malte einen dünnen schwarzen Strich oberhalb der Augenlider. «Ich sehe ihn heute Abend das erste Mal seit zwanzig Jahren wieder.»
Sie überprüfte ihr Gesicht und war noch nicht zufrieden. Sie griff zum Rouge. Sie war aufgeregt wie seit Jahren nicht mehr.
«Habt ihr euch nie gemailt?», fragte Broder. «Oder telefoniert?»
Ihre gesamte Kindheit und Jugend hatte sie mit Hauke und den anderen verbracht, sie hatten sich jeden Tag gesehen, während der Schulzeit, an Silvester und in den großen Ferien. Das letzte Jahr vor dem Abitur hatte er sogar bei ihr auf dem Hof gewohnt. Und trotzdem hatten sie seitdem so gut wie nichts voneinander gehört, was...
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