Schweitzer Fachinformationen
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Das Sonnenlicht war den ganzen Tag lang über Jasmins weiß lackierte Schreibtischplatte gewandert. Jetzt war es fast sechs Uhr abends, und ihr Büro versank im Schatten. In den kleinen Raum passten gerade mal der Schreibtisch und eine Garderobe an der Wand. Er lag direkt hinter dem Verbandslager des Katholischen Krankenhauses, ein Provisorium, das während des letzten Umbaus entstanden und hinterher zur Dauereinrichtung geworden war. Deshalb begegnete sie während der Arbeit so gut wie keinen Kollegen.
Sie lehnte sich leicht zur Seite und konnte durch das Fenster einen Zipfel des Rheins sehen. Die Sonne schien noch aufs Wasser, ein Binnenschiff mit niederländischer Fahne am Heck kämpfte sich gegen den Strom nach Süden. Jasmins Gesicht spiegelte sich in der Scheibe. Sie sah eine Mittdreißigerin mit halblangen braunen Haaren und Ringen unter den grünen Augen. Sie trug ihr tägliches Standard-Outfit für den Job: schwarzer Hosenanzug und dunkelblaue Bluse, plus der neuen Kette mit den großen Klunkern, die sie vor einer Woche im Internet bestellt hatte. Privat war sie eher der Jeans-Typ, zu Hause scheute sie nicht die Jogginghose.
Gähnend ging sie noch einmal die Bestellungen für die nächsten Wochen durch, lange Listen, die sie genau überprüfen musste. Sie durfte keinen Fehler machen, denn davon hingen Menschenleben ab. Plötzlich fingen ihre Hände an zu zittern, und ihr Nacken verkrampfte sich. Es fühlte sich an wie eine aufziehende Grippe. Konnte das sein, mitten im Sommer? Sie tippte auf Google «Schüttelfrost» ein, und das gute alte Internet wusste Bescheid: Betroffen sind vor allem die großen Muskeln der Oberschenkel und des Rückens, aber auch die Kaumuskulatur.
Genau so fühlte es sich an!
Bei Malaria oder Influenza, aber auch bei einem Sonnenstich kann es zu Schüttelfrösten kommen. Weitere typische Erkrankungen sind Lungenentzündung, Scharlach, Wundrose, Wundstarrkrampf, Nierenbeckenentzündungen sowie Pilz- oder Blutvergiftungen.
Um Himmels willen!
Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf. Seit sechs Uhr morgens saß sie am Schreibtisch, in der Nacht zuvor war sie nach einem 14-Stunden-Tag nur kurz zum Schlafen nach Hause gegangen und direkt heute Morgen wiedergekommen. Nur so konnte sie alles abarbeiten, was anlag.
Pling!
Eine Mail.
Sie streckte sich. Die konnte bis morgen warten, jetzt war Feierabend. Natürlich schaute sie trotzdem rein. Die Nachricht kam von Mirko, dem Physik-Freak in der Forschungsabteilung bei Philips, im fernen Hamburg.
Bin im siebten PC-Himmel. Habe einen neuen Algorithmus gefunden, mit dem ihr eure Rechner für die Herz-OPs noch besser programmieren könnt! Die Auflösung wird sechsmal so scharf wie bisher. Interesse? LG Mirko
Ihr Atem stockte. Das war eine Sensation! Die Kardiologen des Katholischen Krankenhauses gingen mit einem Draht durch die Leiste bis zum Herz ihrer Patienten, um dort Herzklappen zu installieren, Stents zu setzen und wer-weiß-was-noch-alles. Die Ansicht der Adern wurde während der OP auf einem Bildschirm so stark vergrößert, dass sie wie Kanalrohre aussahen. Durch Mirkos Entdeckung konnten die Ärzte Schwachstellen nun noch genauer identifizieren und beheben.
Jasmin hielt seit langer Zeit persönlichen Kontakt zum Forschungszentrum in Hamburg, um immer auf dem neuesten Stand zu sein. Im Lauf der Jahre hatte sie sich Berge an medizinischem Fachwissen angelesen. Das ging zwar weit über ihre Aufgabe in der Verwaltung hinaus, aber so brachte ihr die Arbeit einfach mehr Spaß.
Du Genie!, schrieb sie zurück. Unsere Patienten werden vor Freude auf den Fluren tanzen. Ich will den Link vor allen anderen bekommen!
Das Ganze war selbstverständlich inoffiziell, später würde das Krankenhaus das Programm kaufen. Aber so konnten es sich die Kardiologen schon mal ansehen.
Mirko schickte ihr die Daten mit einem Smiley und schrieb, dass er jetzt Feierabend machen werde. Jasmin wünschte ihm einen schönen Abend und fuhr ihren PC auf Standby.
Sie nahm ihre Tasche und schleppte sich gähnend in Richtung Ausgang. Jeder Schritt fühlte sich schwer an. Das Neonlicht in den kahlen Gängen war verlässlicher als die Sonne, es schien Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter. Normalerweise nahm sie immer einen kleinen Umweg, damit sie ja keinen Patienten begegnete. Sie ertrug es einfach nicht, täglich mit ihrem Leid konfrontiert zu werden. Heute war ihr das egal. Der kürzeste Weg hinaus ging über die Herzstation, auch wenn das nicht gerne gesehen wurde. Vier Stunden Schlaf waren zu wenig gewesen, sie wollte nur noch ins Bett.
Im Hauptgang standen mehrere Ständer mit Infusionsbeuteln. Ein älterer Mann mit einem blauen Fleck auf der Stirn lag in seinem Bett und wartete auf den Transport in den OP oder zu einer Untersuchung. An jeder Wand hing ein Kruzifix, wie es in einem Katholischen Krankenhaus eben üblich war.
Gerade kam der oberste Chef aus einem Zimmer. In seinem Kielwasser schwammen zwei Assistenzärzte, die einiges jünger waren als Jasmin. Professor Breitscheid war um die sechzig, schlank und fast zwei Meter groß. Trotz seines Alters überstrahlte er die Jüngeren mit seiner Energie. Irgendwann war mal das Gerücht aufgekommen, dass seine schwarzen Haare gefärbt waren. Die Hälfte der Belegschaft hielt dagegen. Jasmin hatte ihm heimlich ein Haar vom Kittelkragen gestohlen und im Labor untersucht. Dort wurde hochwissenschaftlich bewiesen: Er tat es nicht, beneidenswert!
«Abend, Höffgen», grüßte er freundlich.
«Abend, Professor.» Erneut überkam sie ein Gähnen.
Sie hatten vom ersten Tag an diese Form der Anrede benutzt: Er sprach sie mit Nachnamen ohne «Frau» an, sie ihn nur mit dem Titel. Das war kurz vorm Duzen, ähnlich wie bei Miss Moneypenny und James Bond.
Er fasste sie sanft am Arm. «Sie sollten mal Pause machen, Höffgen. Sie waren letzte Nacht bis Mitternacht hier, und jetzt sind Sie noch immer da.»
Sie versuchte ein Lächeln. «Sie ja auch, sonst wüssten Sie das nicht.»
Er zog eine Augenbraue hoch. «Wenn Sie sich unwohl fühlen, kommen Sie direkt zur mir auf die Station, verstanden?»
«Kann man da denn in Ruhe ausschlafen?»
«Wenn es sein muss, gebe ich Ihnen eine Narkose. Damit kommen Sie auf jeden Fall zur Ruhe.»
Sie wollte weitergehen, aber die Neuigkeit musste noch raus. «Übrigens, der Kollege, der an dem Katheter-Programm sitzt, ist vor einer halben Stunde fertig geworden.»
Der Professor sah sie verblüfft an. «Und Sie haben das gleich erfahren?»
«Noch vor seinem Chef.» Sie unterdrückte ein weiteres Gähnen. «Ich habe es auf Ihren Rechner weitergeleitet.»
Professor Breitscheid schüttelte bewundernd den Kopf. «Mann, Höffgen, wen Sie alles kennen! Haben Sie auch die Privatnummer vom lieben Gott?»
«Festnetz oder mobil?»
Er lachte. «Wenn es Sie nicht gäbe, müsste man Sie erfinden. Aber machen Sie wirklich mal Pause. Wir wollen noch länger was von Ihnen haben. Schönen Abend noch, Höffgen.»
«Für Sie auch, Professor.»
Sie hatte es weit gebracht für eine ehemalige Verwaltungsangestellte der AOK Gummersbach. Der Professor höchstpersönlich hatte dafür gesorgt, dass sie etwas mehr Gehalt bekam als in diesem Job üblich. Für die nächste Stufe hätte sie studieren müssen.
Auf dem Weg zum Ausgang merkte sie plötzlich, wie ihre Knie butterweich wurden. Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten und klammerte sich krampfhaft an die Wand. Wenn sie sich jetzt zu Boden gleiten ließe, würde sie nicht wieder hochkommen, das spürte sie deutlich. «Bloß nicht», murmelte sie verzweifelt.
So kam sie nicht nach Hause, also ab in die Notaufnahme? Nein, sie wollte kein großes Brimborium daraus machen. Wenn sie sich kurz irgendwo ablegte, kam das wieder in Ordnung.
Gleich um die Ecke war der Eingang zum C-Trakt. An der Milchglastür hing ein Schild: «Wegen Bauarbeiten geschlossen.» Sie zückte ihren Universalschlüssel und öffnete die Tür. Es roch nach frischer Farbe und neuen Möbeln. Sie wankte ins erstbeste Zimmer. Hier stand ein Bett, das aus Hygienegründen vollständig in eine Plastikplane gewickelt war. Sie ließ sich einfach auf die Matratze fallen. Doch dadurch wurde es nicht besser, im Gegenteil, alles drehte sich noch wilder in ihrem Kopf. Hoffentlich war es nicht doch etwas Schlimmes! Falls sie ohnmächtig wurde, würde sie hier niemand finden.
Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel. Im Traum lag sie in einer winzigen Nussschale von Boot. Über ihr türmten sich riesige, schwarze Wolken, es braute sich ein Unwetter zusammen. Das Wasser war aufgewühlt, weiße Schaumkronen tanzten auf den hohen Wellen. Sie schaffte es gerade so an Land. Am Strand vor dem Kinderkurheim stand ihr bester Freund Ralf, der im Katholischen Krankenhaus arbeitete. Seine Kleider blähten sich im Wind auf. Die Sonne schien wieder. Sie genoss das klare Licht des Nordens und legte sich neben den schönen Sönke, der immer für sie da war. Sie nahm seine Hand, sie fühlte sich warm an. Was für ein Glück, dass sie zusammen waren!
«Baff!», knallte es in ihren Ohren.
Das kam nicht vom Meer, sondern hörte sich an wie eine Tür. Wo gab es am Strand eine Tür? Verwirrt öffnete sie die Augen. Professor Breitscheid stand mit einem der Hausmeister vor ihrem Bett und fühlte ihren Puls.
«Wie gut, dass Herr Windhövel Sie zufällig gefunden hat», sagte er. «Was machen Sie hier, Höffgen?» Er sah besorgt aus.
«Ich wollte die...
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