Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Durch die riesige Scheibe in der Eingangshalle blickte Britta auf die Ostsee. Die Wellen stürzten mit weißen Schaumkronen auf den Strand zu, dazu schien die Nachmittagssonne vom dunkelblauen Himmel herab. Diese prächtige Aussicht hatte sie als Teamleiterin der Rezeption des Boltenhagener «Hotel Bernstein» in der zurückliegenden Saison jeden Tag vor sich gehabt.
Nun schlossen sie für ein halbes Jahr. Sämtliche Angestellten hatten sich am Spätnachmittag in der Eingangshalle versammelt: Zimmermädchen, Kellner, Köche, Bäcker, Konditoren, Hausmeister und das Team von der Rezeption. Ihre Stimmen tönten im Raum wie ein Chor und wurden sanft vom Rauschen des Meeres unterlegt, das direkt vor der Tür lag. Die Kleidung ihrer Kollegen kam Britta vor wie Karnevalskostüme. Sonst kannten sie sich nur in Hoteluniform, schwarzem Rock oder Hose, weißem Hemd sowie lila Weste mit Namensschild. Heute trugen alle ihre Freizeitkleidung, und dabei gab es einige echte Überraschungen: Die adrette Mona vom Empfang zeigte sich das erste Mal als Punk mit lila Haaren, der charmante Stefan vom Frühstücksbuffet hatte so viele Piercings im Gesicht, dass Britta mit dem Zählen kaum hinterherkam, Hausdame Friederike, sonst in Lackschuhen und engem Rock unterwegs, war zu einem Vollöko mit Wollrock und Socken in den Sandalen mutiert, Kellner Peter mit der biederen Silberbrille zeigte im kurzärmeligen T-Shirt seine wild züngelnden Drachen-Tattoos an den Unterarmen. Britta grinste in sich hinein. Schade, dass keine Gäste mehr da waren, die hätten ihren Spaß gehabt.
Nun ist mein achtundvierzigster Sommer auch nur noch eine Erinnerung, dachte Britta wehmütig. Seit Anfang Mai war sie täglich im Meer schwimmen gewesen. Nach der Nachtschicht gab es für sie nichts Schöneres, als sich in die Fluten zu stürzen. Mit Freunden und Kollegen hatte sie unzählige Strandpartys gefeiert, oft bis zum Morgengrauen. Was sie am nächsten Tag allerdings stärker büßen musste als früher - war sie etwa älter geworden? Sonst kam es ihr nicht so vor. Jedenfalls solange sie sich keine Fotos von früher anschaute.
Ein mittelgroßer, bulliger Mann mit kurzgeschorenem Haarkranz stellte sich nun vors Fenster und versperrte ihr die Sicht aufs Meer. Das war Manne Schmidt, Brittas Chef. Als er sich laut räusperte, wurden alle still.
«Tolle Saison, habt ihr super gemacht», rief er in die Menge.
Tosender Beifall. Sie waren von Mai bis Ende September ausgebucht gewesen. Unter anderem mit einem internationalen Treffen von Rotariern, für das sich die Küche mächtig ins Zeug gelegt hatte. Später im Sommer gab es das Trainingscamp einer Fußball-Zweitligamannschaft samt Betreuern und einen Musical-Workshop aus Hamburg.
«Wie ihr wisst, machen wir bis März dicht», fügte der Chef hinzu. «Ostern sind wir mit den Umbauten dann durch.»
Das war mit allen so abgesprochen, keiner würde seinen Job verlieren. Sonst hatten sie sich mit kleiner Besetzung immer irgendwie durch den Winter gehangelt, um Weihnachten herum gab es eine kurze Zwischensaison. Die fiel jetzt aus. Sie würden im Winter die Überstunden abbummeln, die sie im Sommer angesammelt hatten, und im Februar ein paar Urlaubstage vorwegnehmen. Das Hotel sollte komplett umgebaut und von drei auf vier Sterne aufgewertet werden, inklusive mondänem Pilates- und Wellnessbereich und neuen Badezimmern.
«Schönen Winter, Leute, und bis bald», rief Manne Schmidt in die Menge. «Die Weihnachtsfeier findet am 20. Dezember im Klützer Eck statt, wie jedes Jahr. Ich freu mich auf euch.»
Der Abschied von den Kollegen erinnerte Britta an den letzten Tag vor den großen Schulferien. Endlich Feierabend, dachte sie, ein halbes Jahr lang! Einerseits konnte sie die Pause nach der anstrengenden Saison gut gebrauchen. Andererseits würde der Winter dieses Jahr besonders lang werden. In die Sonne fliegen wie sonst war leider nicht drin: Sie hatte gerade ihr Haus renoviert und sich eine neue Küche, Bett und Couch gekauft. Auf ihrem Konto herrschte absolute Ebbe.
Vor der Tür schaute Britta auf die Uhr. Zu ihrer Verabredung musste sie nicht auf die Minute pünktlich sein, aber sie wollte auch nicht zu spät kommen. Mit zügigen Schritten ließ sie das Bernstein hinter sich und wanderte ins herbstliche Hinterland. Es war ihr täglicher Weg zur Arbeit und zurück, sie kannte ihn im Hochsommer wie im Schnee. Britta ging quer über die Felder, sofort klumpte zäher Lehm an ihren Schuhen. Die langgezogenen Hügel mit den abgeernteten Äckern kamen ihr vor wie Wellen aus Erde. Es roch nach frischer Ackerkrume und feuchtem Laub, vermischt mit einer Prise Salz vom nahen Meer. Sonst freute sie sich immer auf das Storchenpaar mit den langen Beinen und den klappernden Schnäbeln, das am Ortsrand lebte. Doch die beiden befanden sich längst auf ihrer Reise zum Winterquartier in Afrika.
Ein paar Kilometer vor ihr lag der Kirchturm von St. Marien, der die Form einer Bischofsmütze hatte. Die Gegend um ihn herum nannte man den «Klützer Winkel». Britta fing an, einen alten Folksong aus den Siebzigern zu summen: «Country roads, take me home, to the place, I belong .» Dieses Lied übten sie gerade in ihrem Chor. «Das Leben hier ist älter als die Berge», hieß es an einer Stelle. Das galt auch für den Klützer Winkel. Britta hatte hier immer das Gefühl, der Ewigkeit gegenüberzustehen: Die Hügel, über die sie gerade ging, waren in der letzten Eiszeit entstanden, davor lagen weitere Milliarden Jahre.
Mitten auf dem kahlen Feld vor ihr stand eine uralte mächtige Eiche, die ihr Geäst nach allen Seiten hin ausstreckte. Britta hatte sie nach dem Namen ihrer Großtante «Sybille-Eiche» getauft. Sybille hätte lauthals protestiert, wenn sie das gewusst hätte, mit ihren dreiundachtzig Jahren war sie Jahrhunderte jünger als dieser Baum.
Jetzt nahm der kräftige Seewind die Eiche als Tanzpartnerin, rauschte und raschelte an den wenigen verbliebenen Blättern. Die Äste schwangen übermütig auf und ab und gaben ein wohliges Knarzen von sich.
Wie aus dem Nichts verdunkelte sich der Himmel über Britta, und dicke Tropfen prasselten auf sie herab - aber wie! Hätte sie bloß den Wagen genommen, mitten auf dem Feld gab es natürlich weder Bus noch Taxi. Sie nahm dieses Wetter irgendwie persönlich, was natürlich Unsinn war, ihr Ärger darüber kostete nur unnötige Energie. Also zog sie entschlossen die Kapuze über den Kopf und ging im selben Tempo weiter wie vorher. Das Beste war es, einfach so zu tun, als existierte der Regen gar nicht.
Mit dem letzten Licht des Tages gelangte sie auf die Festonallee, die zu Schloss Bothmer führte. Die Bäume zu beiden Seiten des breiten Weges waren über Jahrzehnte so beschnitten worden, dass sie vom Stamm nur links und rechts austrieben und nebeneinander wie eine Girlandenkette aussahen. Die Allee führte über eine Hügelkuppe zum Hauptgebäude des festlich erleuchteten Schlosses. Britta kannte es zu jeder Jahreszeit, im Nebel, im Schnee, bei Sommerhitze, in der Abendsonne und auch jetzt, bei Regen.
Als sie zwischen den Bäumen durchschritt, fühlte sie sich wie eine Fürstin in alten Zeiten. Plötzlich drehte der Regen noch einmal auf, ein böiger Wind peitschte die Tropfen senkrecht und waagerecht auf ihre Wangen, sie fühlten sich an wie Nadelstiche. «Gnade!», bettelte sie im Stillen. Aber die wurde ihr nicht gewährt. Die Hosenbeine ihrer Jeans waren bereits so nass, als sei sie damit ins Meer gesprungen, ihr wurde schlagartig kalt. Schreiten war nicht mehr angesagt, sie trabte die Allee entlang, so schnell es ging.
Auf der Kuppe des Hügels öffnete sich ihr Blick zu den Seitenflügeln und Nebengebäuden von Schloss Bothmer. Es stand auf einer rechteckigen Insel, die von einem breiten Wassergraben umgeben war. Um das Anwesen herum gab es Gartenanlagen und Alleen, die jetzt in der regennassen Dämmerung versanken.
Aus dem großen Festsaal strahlte ihr bereits der Kronleuchter entgegen. Ihre Großtante Sybille, genannt «die Gräfin», stand in einem eleganten dunklen Kostüm am Fenster und blickte in die heraufziehende Dunkelheit. Britta fiel auf, wie hager sie geworden war. Sybille hielt ihre Adlernase etwas hoch, wie es sich für eine Aristokratin gehörte. Vermutlich fragte sie sich schon, wo Britta blieb.
Sie eilte auf die Brücke über den Wassergraben, überquerte den großen Vorplatz vor dem Hauptgebäude und rannte auf eins der Kavaliershäuser zu. Von drinnen hörte sie Stimmen, die «Country Roads» sangen, es klang wie ein Echo von den herbstlichen Feldern und Wiesen, die sie gerade durchlaufen hatte. Sie riss die schwere Holztür mit dem verzierten Messinggriff auf.
Im offenen Kamin flackerte ein Feuer mit knackenden Holzscheiten, das eine bullige Wärme abgab. Die Flammen warfen Schatten an die Stuckdecke mit den Lilien und brachten sie zum Tanzen. Der Gesang kam aus dem Dunkeln, Britta kannte alle Stimmen: Wendys glockenheller Sopran übernahm zusammen mit Sarah die Melodie, dazu kam Regina mit ihrem rauchigen Alt. Rainers knarziger Bass setzte ein Fundament unter die Frauenstimmen. Einen Moment lang mussten sich Brittas Augen an das spärliche Licht im Saal gewöhnen, dann erkannte sie, dass aus dem Halbdunkel Wendy und Regina feierlich im gleichen Rhythmus auf sie zuschritten. Dabei sangen sie das Lied weiter.
Britta staunte, denn zum ersten Mal trugen die Frauen ihre neue Chorkleidung, die Sarah für sie alle geschneidert hatte: schwarze Hose, dazu eine dunkelblaue Bluse mit Rundkragen, an dessen Rand eine schmale, weiße Borte lief. Die Einigung auf ein gemeinsames Outfit war eine der schwierigsten Aufgaben gewesen,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.