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Als mein Vater noch lebte, habe ich mir manchmal vorgestellt, dass es bei meinen Eltern an der Haustür klingelt und ein Mann vor der Tür steht - Hermann Göring in seiner weißen Sommeruniform, mit umgeschnalltem Degen, den Reichsmarschallstab in der Rechten, den Pour le Mérite um den Hals und das EK I auf der Uniformjacke. Es war immer Göring, der dort stand. Hitler, Himmler oder Goebbels kamen nicht in Frage, weil mein Vater, ein tiefgläubiger Katholik und treuer CDU-Wähler, sie allesamt zutiefst verachtete.
Mit Göring war es anders. Lief eine Dokumentation über die NS-Zeit im Fernsehen und Göring war zu sehen, in einer seiner operettenhaften Aufmachungen oder in zünftiger Jägertracht, aufgeschwemmt und mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck, sagte mein Vater meist nur: «Ach, der dicke Göring!» Doch es war keine Verachtung in seiner Stimme, sondern fast eine leise Ehrfurcht.
Wie würde mein Vater wohl reagieren, wenn er plötzlich Göring gegenüberstünde, habe ich mich damals gefragt. Vielleicht hätte er sogar vorschriftsmäßig militärisch gegrüßt. Göring wäre dabei aufgefallen, dass an der rechten Hand meines Vaters drei Finger fehlten. In meiner Vorstellung hätte mein Vater Göring auf jeden Fall hereingebeten - «Kommen Sie doch rein, Herr Reichsmarschall!» -, ihm das kleine Einfamilienhaus gezeigt, das Gemälde von Schmidt-Rottluff im Wohnzimmer, das leider nur ein preiswerter Öldruck war, den viel zu großen Garten, den Partyraum im Keller, in dem nie jemand feierte, und die Sauna, die nie jemand benutzte.
Im Mai 1943 meldet sich der Flakhelfer Matthias Molitor, nicht einmal siebzehn Jahre alt, freiwillig als Offiziersanwärter zur Luftwaffe. Ein Jahr später geht sein großer Wunsch in Erfüllung. Er wird - trotz «Mindergewicht» - dem nach Hermann Göring benannten und im westpreußischen Rippin[1] stationierten Fallschirm-Panzer-Ersatz- und Ausbildungsregiment zugeteilt. Eine Eliteeinheit. Görings junge Soldaten, kaum einer älter als neunzehn, sollen an der zusammenbrechenden Ostfront kämpfen und für Großdeutschland sterben. Er sei gern Soldat gewesen, erzählte mein Vater später. Er legte großen Wert darauf, dass er kein einfacher Landser war, sondern am linken Ärmel ein blaues Band trug, auf dem «Hermann Göring» stand. Wenn er den Namen aussprach, klang Stolz mit.
Vielleicht hat mein Vater dieses Plakat gesehen. Er meldete sich freiwillig zur Division Hermann Göring.
Am 25. November 1944 steht auf dem Dienstplan eine Granatwerferübung mit scharfer Munition. Mein Vater ist an der Reihe, legt die Munition in den Werfer. Er hat die Hände noch am Metall, als die Sprengladung im Rohr detoniert. Glühende Splitter schießen in alle Richtungen. Mein Vater überlebt, aber Metallsplitter reißen ihm sechs Finger ab, das linke Auge ist nicht zu retten.
Kein Feindkontakt, nur ein Unfall. Ein Rohrkrepierer. War es ein Materialfehler? Eine Fehlbedienung? Im Wehrmachtsbericht taucht der Vorfall nicht auf. Und in der Familie wurde später nie darüber gesprochen.
Als mein Vater im Lazarett aufwacht, ist es dunkel um ihn herum. Auch im rechten Auge stecken Metallsplitter, sechs Wochen lang ist er völlig blind, weiß nicht, ob er jemals wieder wird sehen können. Die Rotkreuzschwester muss ihm die geliebte Zigarette anzünden und zwischen die Lippen stecken. Er kann sie ja nicht halten mit den verbundenen Handstümpfen.
Nach der Entlassung aus dem Lazarett und kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Norddeutschland traut er sich nicht gleich nach Hause. Erst kurz vor Weihnachten 1945 begibt er sich auf den Weg in die rheinische Heimat. Lange schleicht er in der Dunkelheit um das elterliche Haus herum, bevor er an die Tür klopft. Er sieht ja schlimm aus, das Gesicht immer noch schwarz und blau von den Splittern und den Verbrennungen. Die verstümmelten Hände versteckt er noch jahrelang in den Jackentaschen.
Mein Vater war schon fast zwanzig Jahre tot, als ich meiner Mutter im Jahr 2019 ein Magazin mit einem Text von mir schickte, das Ergebnis einer verstörenden Recherche. Die Schlagzeile lautete «Er war es».[2] Nach dem Tod meiner Mutter im Herbst 2024 fand ich die Zeitschrift beim Ausräumen der Wohnung. Sie hatte den Text nie gelesen. «Das kann ich nicht», hat sie einmal gesagt. «Er war es» bezog sich auf ihren Vater. Einen kleinen Mann, der plötzlich das Gefühl großer Macht verspürte - die Hermann Göring ihm verliehen hatte.
Am 3. März 1933, wenige Tage nach dem Reichstagsbrand, hält Göring in Frankfurt am Main eine Rede, die reichsweit im Radio übertragen wird. Er stachelt eine halbe Million SA-Männer zum Losschlagen gegen die Gegner des neuen Regimes an, vor allem gegen die verhassten Kommunisten. «Den Todeskampf, in dem ich euch die Faust in den Nacken setze», wütet Göring in Richtung der «Herren Kommunisten», den «führe ich mit denen da unten, das sind die Braunhemden!»[3]
Nach dieser Rede überziehen die Landsknechte mit der Hakenkreuzbinde am Arm das Land mit einer Welle von Verhaftungen und roher Gewalt. Auch mein Großvater, der arbeitslose Schlossermeister und SA-Truppführer Josef Mundt aus dem rheinischen Düren, folgt Görings Appell. Unter seinem Kommando verwandelt sich das Dürener SA-Heim in den kommenden Wochen und Monaten in eine Folterhöhle.
Mein Großvater ist nicht einer der Schergen, sondern deren Befehlshaber. Er bestimmt den Takt der Verhöre und der Folter, ihr Anfang und ihr Ende, er gibt das Kommando zum Zuschlagen. Das belegen die Akten eines Prozesses vor dem Aachener Schwurgericht kurz nach dem Krieg. «Die Verhafteten waren», so die Urteilsbegründung, «der Willkür und dem Terror des Angeklagten Mundt schutzlos preisgegeben.»
In den Zeugenaussagen heißt es immer wieder:
. befahl Mundt . . gab Mundt ein Zeichen . . hob Mundt die Hand .[4]
Zwei unheilvolle Berührungspunkte der Person Hermann Görings mit meiner Familiengeschichte. Beide werfen verstörende Fragen auf. Welches Bild hatte mein Vater von diesem Mann, dessen Name unauslöschlich mit der tiefsten Zäsur seines Lebens verbunden war: ein selbstsüchtiger Zyniker, der Menschen aus dem Weg räumen ließ, wenn sie ihm im Weg standen - und dem er trotzdem Respekt zollte? Und welche manipulative Kraft muss ein Redner entfalten, um einen braven Schlossermeister und Familienvater in einen sadistischen Folterknecht zu verwandeln?
Vor einigen Jahren habe ich mich zum ersten Mal mit Göring auseinandergesetzt, als Journalist. Thema war seine Rolle im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Nachdem ich den Mitschnitt der Verhandlung gehört und Zeitzeugenberichte gelesen hatte, war ich fassungslos, wie geschickt Göring die mitangeklagten Nationalsozialisten für seine Verteidigung einspannte - und wie dreist und selbstverständlich er, den Tod am Strang vor Augen, die untergegangene Diktatur vor der Weltöffentlichkeit ein letztes Mal hochleben ließ und selbst die Inhaftierung Zehntausender Gegner des Systems in Konzentrationslagern zur objektiven Notwendigkeit erhob.
Als ich mich etwas später mit Görings Kindheit und Jugend beschäftigte - einem bislang von Historikern kaum beachteten Thema -, begann ich zu erkennen, dass sich ein Bogen spannen lässt: von dem scheinbar wohlbehüteten, in Wirklichkeit aber seelisch vernachlässigten und immer wieder zu fremden Leuten abgeschobenen Fürther Privatschüler bis zu dem kalt-manipulativen, zu keiner echten Emotion fähigen Leitwolf der Kriegsverbrecher auf der Nürnberger Anklagebank. Und schließlich bis zum Selbstmord in der Gefängniszelle.
Das Göring-Bild in der Öffentlichkeit ist geprägt von Klischees - mehr als das jedes anderen führenden Nationalsozialisten. Göring, das freundliche Gesicht des Nationalsozialismus. Göring, der Morphinist. Göring, der nichts gegen Juden hat und vielleicht nicht mal ein «richtiger» Nationalsozialist ist. Der in Flitterwerk gewandete joviale Operettenmarschall. Der Eiserne. Diese Mythen erheben ihn zur einzig schillernden Figur in der Riege verbissener Ideologen, willfähriger Bürokraten, graumäusiger Karrieristen und steifer Militaristen. Sie alle präsentieren sich - mit Ausnahme...
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