Die folgende Geschichte schließt sich inhaltlich an die vorangegangene an. Auch hier geht es um die Jagd auf eine im gegenständlichen Revier selten vorkommende Wildart. Ebenso führen auch hier Befürchtungen darüber, dass ein Jagdnachbar durch einen bösartigen Abschuss die Freude am Anblick des seltenen Wildes zunichtemachen könnte, zu allerlei Verstrickungen. Ich wünsche Ihnen viel Freude an dem Artikel, welcher überschrieben ist:
Wenn der Birkhahn balzt
von Julius R. Haarhaus
Drei Stunden südlich von G . liegt ein königlicher Forst, der den Namen Wolfsgarten führt und seines außerordentlichen Wildreichtums wegen in der ganzen Umgegend bekannt ist.
Der Oberförster, der hier das Zepter führt, residiert in dem freundlichen Dörfchen Glasberg, dessen hochragender Kirchturm über die Fichtenwipfel weg weit ins Land hinausschaut und den wenigen Wanderern, die sich in diese entlegene Gegend verirren, als Orientierungsmarke dient.
Herr von Borbeck - so heißt der viel beneidete Forstmann - ist ebenso passionierter wie weidgerechter Jäger und - was dazu gehört - ein vortrefflicher Schütze und ein unermüdlicher Heger. Wer das Revier besucht, erstaunt über den Bestand an Rot- und Rehwild, an Hasen und Fasanen, und wer die deutschen Geweihausstellungen aufmerksam verfolgt, wird bald bemerken, dass die besten der im Königreich Sachsen erbeuteten Trophäen regelmäßig die Aufschrift "Oberförsterei Wolfsgarten" tragen. Herr von Borbeck könnte also einer der glücklichsten deutschen Grünröcke sein, wenn nicht auch auf ihm der allgemeine Fluch der Menschheit lastete: Das, was man hat, gering zu achten, und das, was einem vom Schicksal versagt ist, für das einzig Begehrenswerte zu halten. Meldete ihm der Gehilfe oder der Waldwärter, dass "im Jagen sechzehn" ein Kronenhirsch stehe, so machte diese Nachricht keinen größeren Eindruck auf ihn als auf andere Weidmänner die Mitteilung eines Bauers, dass in seinem Krautstück ein Hase läge, und stieß er bei einem Reviergang auf einen kapitalen Sechserbock, so machte er gewöhnlich nur Dampf darauf, wenn der Bock nahe an der Grenze stand, also in Gefahr war, vom Nachbar zur Strecke gebracht zu werden. Fasanen schoss er seit Jahr und Tag nicht mehr, sondern überließ deren Abschuss dem Forstpersonal und den wenigen Jagdgästen, die er gelegentlich mit Einladungen beglückte.
Rühmte man in seiner Gegenwart das Revier und den Wildbestand, so nahm sein Antlitz einen tieftraurigen Ausdruck an, und er sagte mit verschleierter Stimme:
"Ja, Sie mögen ja recht haben, aber was nützt mir das alles, solange ich in Wolfsgarten kein Birkwild habe?"
Und als er einst bei einer Treibjagd einen Achtzehnender schoss, den besten Hirsch, der in der Gegend seit Jahren zur Strecke gekommen war, entgegnete er auf die Glückwünsche der Jagdgäste:
"Was gäbe ich darum, wenn der Hirsch ein Birkhahn wäre!"
Woher seine merkwürdige Vorliebe für Birkwild rührte, wusste niemand. Vielleicht verband sich für ihn damit eine Erinnerung an glückliche Jugenderlebnisse, an köstliche Frühlingsmorgen auf stiller Waldblöße, wo weißstämmige Birken ihr zartgrünes Laub im letzten kühlen Hauche der schwindenden Nacht wiegten, wo die frischen Triebe der Fichten die Luft mit ihrem Balsamdufte würzten und hundertstimmige Vogelchöre der aufgehenden Sonne entgegenjubelten. Wer weiß, wie oft Borbeck an solchen Morgen draußen im Walde hinter dem Schirm gesessen und mit verhaltenem Atem den mannigfaltigen Stimmen der Natur gelauscht hatte, bis in den alten Beständen ringsumher die Balzrufe erschallt und die verliebten Spielhähne eingefallen waren!
Ja, mit dieser Weidmannslust konnte das sonst so herrliche Wolfsgartener Revier nicht aufwarten. Birkwild gab es hier nicht, und alle Versuche, es einzubürgern, hatten sich als vergeblich erwiesen. Mit Rücksicht auf die bekannte Abneigung des eigensinnigen Wildes gegen geschlossene und wohlbewirtschaftete Forsten hatte der Oberförster die Räumungsarbeiten in einem durch Windbruch stark verwüsteten Schlage jahrelang hinausgeschoben und das kräftig emporschießende Unterholz mit jungen Birken durchsetzen lassen. So war, seiner Überzeugung nach, ein wahres Dorado für Birkwild entstanden, aber die gefiederten Konquistadoren, die dieses Paradies besiedeln sollten, wollten sich nicht einstellen. Der Oberförster fand sich, so gut es ging, mit der unabänderlichen Tatsache ab und hatte seinem Personal schon Weisung erteilt, mit dem Aushieb der verheerten Horste und den Vorbereitungen zur Nachforstung beginnen zu lassen, als ihm der Waldwärter eines Abends meldete, er habe in eben jenem Revierteil einen Birkhahn sich einschwingen sehen.
Borbeck glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen und konnte kaum den Morgen erwarten, um sich mit eigenen Augen von der Wahrheit der Aussage zu überzeugen. Die Sterne standen noch am Himmel, als er sich in Begleitung des Waldwärters auf den Weg machte. Beim ersten Dämmern im Osten waren sie an Ort und Stelle, suchten Deckung in einem benachbarten Fichtenschlage und waren Zeuge, wie der Hahn kurz vor Sonnenaufgang den Standbaum verließ und auf einem angrenzenden Saatkamp einfiel. Borbeck konnte sich von dem Anblick des seltenen Gastes nicht trennen. Er verharrte in seiner Deckung, bis der prächtige Vogel im Unterholz verschwunden war. Dann eilte er mit seinem Begleiter nach Hause und gab strengen Befehl, dass die Aufräumungsarbeiten bis auf Weiteres zu unterbleiben hätten, und dass niemand vom Personal und von den Waldarbeitern die Birkwildremise betreten solle. Er selbst aber suchte in weihevollen Stunden sein Lieblingsplätzchen auf, überzeugte sich davon, dass der Hahn noch da war, und wartete mit Sehnsucht auf den Tag, wo sich seinem Schützling ein paar Hühner zugesellen würden. Aber diese Hoffnung wollte nicht in Erfüllung gehen. Der Hahn balzte in jedem neuen Lenz mit anerkennenswertem Eifer, wurde auch so vertraut, dass er sich durch die Gegenwart seines Gönners nicht im Geringsten stören ließ - aber sein Liebesruf verklang unerhört, er war offenbar vom Schicksal dazu bestimmt, als alter Hagestolz seine Tage zu beschließen.
Zum vierten Male seit dem Erscheinen des Birkhahnes bedeckten sich die Bäume mit frischem Grün, da machte der Oberförster die Beobachtung, dass sein Liebling nicht mehr so regelmäßig wie früher auf dem alten Standplatz anzutreffen war, sondern Neigungen zeigte, in einer siebenjährigen Fichtenkultur, hart an der Reviergrenze, seinen Aufenthalt zu nehmen. Nun war zwar der Nachbar, Rittergutsbesitzer von Krostenitz, ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle, und die Beziehungen zwischen ihm und Borbeck waren immer die allerbesten gewesen, aber es war doch recht fraglich, ob er auf die zärtlichen Gefühle des Oberförsters Rücksicht nehmen und den Hahn, wenn er einmal über die Grenze wechseln sollte, aus nachbarlich-freundschaftlicher Gesinnung schonen würde. Borbeck glaubte vielmehr, bei seinem Reviernachbarn auf die gegenteilige Absicht schließen zu müssen, denn er hatte, als er zur Beobachtung seines Schützlings in einer Deckung saß, Herrn von Krostenitz mehrmals an der Grenze entlang pirschen sehen - ein Gebaren, das nur zu deutlich erkennen ließ, was der Rittergutsbesitzer im Schilde führte. Und ehe der den Hahn zur Strecke brachte, schoss ihn der Oberförster lieber selber, wenn ihm auch das Herz dabei bluten sollte.
Als vorsichtiger Mann teilte er seinen Entschluss keiner Seele mit, sondern begab sich eines Morgens in aller Frühe zum Balzplatz. Er vermied dabei, durch das Dorf zu gehen, weil er wusste, dass es unter den Bauern Leute gab, die als heimliche Jagdfreunde sein Tun und Lassen unausgesetzt zu beobachten pflegten, und von denen sogar einige dem Rittergutsbesitzer alle Vorkommnisse in der Oberförsterei rapportierten, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen zu dürfen glaubten. Mit solchen Leuten hatte Borbeck nicht gerne zu tun, und er atmete erleichtert auf, als er den Waldrand erreicht hatte, ohne dass die Dorfköter in Aufregung geraten waren.
Der abnehmende Mond stand noch ziemlich hoch am westlichen Himmel, und im Osten zeigte sich der erste lichte Streif, als der Oberförster auf dem Balzplatz angelangte. Dort machte er sich hinter einem Holzstoß einen Stand zurecht, verblendete ihn mit ein paar Fichtenzweigen und erwartete, in seinen Lodenmantel gehüllt, das Einfallen des Hahnes. Dieser ließ nicht allzu lange auf sich warten. Noch bevor die Sonne über dem Waldrand emporgestiegen war, konnte der Jäger in der Fichtenkultur an seiner Seite das seltsame Quieken vernehmen, welches das Einstehen des liebesbedürftigen Burschen anzukünden pflegt. Eine Weile blieb alles still, und Borbeck bemühte sich vergebens, seinen Hahn zu erspähen. Dann aber bemerkte er plötzlich, dass der Gesuchte an der entgegengesetzten Seite der Kultur auf eine kleine Wiese gestrichen war und nun auf einem mit Heidekraut...