Die zukünftige Entwicklung des Universums ließ sich Anfang des 20. Jahrhunderts noch ebenso wenig beschreiben wie seine Vergangenheit - und die Kosmologie blieb ein Reich der Spekulationen. Doch die Hinweise verdichteten sich, dass es irgendwann einen Ursprung genommen haben musste: Denkt man das expandierende Universum in der Zeit zurück, müsse es und mit ihm auch der Raum aus einem Punkt hervorgegangen sein, folgerte Lemaître damals. Außerdem erhielt man aus der Expansionsrate, wenn man zurückrechnete, das Alter des Universums.
Sollte dieses Modell tatsächlich auf das Universum zutreffen, müsste es anfangs nicht nur kleiner, sondern auch dichter und heißer gewesen sein, schloss Lemaître daraus weiter. Und er dachte - völlig auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit - den Ursprung des Universums aus der Perspektive der Quantentheorie weiter, die neben der Allgemeinen Relativitätstheorie die Physik seit Beginn des 20. Jahrhunderts gleichermaßen revolutionierte. Im Gegensatz zu Einsteins Theorie der Gravitation beschreibt sie die Phänomene im Allerkleinsten.
Lemaître ging von einem Uratom aus, das explosionsartig radioaktiv zerfiel und dadurch expandierte. Auf der Versammlung zum 100-jährigen Bestehen der British Association for the Advancement of Sciences im Jahr 1931 führte er seine Ideen über das Universum in einem Vortrag näher aus und bemerkte: "We want a fireworks theory of evolution. The last two thousand million years are slow evolution: they are the smoke and ashes of bright but very rapid fireworks". (Wir brauchen eine "Feuerwerk"-Theorie für die Entwicklung [des Universums]. Die letzten zwei Milliarden Jahre verlief die Entwicklung langsam: Sie waren gewissermaßen der Rauch und die Asche eines hellen, aber dennoch sehr schnellen Feuerwerks.) Außerdem mutmaßte er, dass die energiereiche kosmische Strahlung, die die obere Atmosphäre ionisiert - wie Viktor Hess (1883-1964) und Pierre Auger (1899-1993) damals bereits herausgefunden hatten - aus dem radioaktiven Zerfall von Superatomen aus der ersten Generation von Sternen stammte.
Hat der Kosmos mit einem "Uratom" begonnen?
Lemaîtres Ideen über den physikalischen Anfang des Universums, die er 1946 in dem Buch L'hypothèse de l'atome primitif ("Die Hypothese eines Uratoms") veröffentlichte, erscheinen aus heutiger Sicht noch sehr spekulativ; nichtsdestotrotz waren seine Gedanken wegweisend. Denn um eine Betrachtungsweise unseres kosmischen Ursprungs auf atomarer, ja sogar subatomarer Ebene sollte die Physik auch in Zukunft nicht umhinkommen. Und letztlich begründete er damit die Urknalltheorie, auch wenn man den Ursprung des Universums damals noch nicht als solchen bezeichnete.
Bis Mitte der 1940er-Jahre war die Atom- und Kernphysik weitgehend ausgereift. Man wusste längst, dass Atome aus einem Atomkern mit positiv geladenen Protonen und elektrisch neutralen Neutronen bestehen, den negativ geladene Elektronen in einer Hülle umkreisen, und zwar dergestalt, dass sich Kernladung und Ladung der Hüllenelektronen gegenseitig aufheben.
Dabei definiert die Anzahl der Protonen eines Atoms ein Element und bestimmt dessen Platz im Periodensystem. Die Neutronen im Atomkern dienen gewissermaßen als Kitt und verleihen Atomkernen mit mehreren Protonen ihre Stabilität. Darüber hinaus kann ein Atomkern eines bestimmten Elements unterschiedlich viele Neutronen besitzen. Dass diese verschiedenen Produkte eines Elements, auch Isotope genannt, unterschiedlich stabil sind und sich über radioaktive Zerfallsprozesse in andere chemische Elemente umwandeln können, hatten Marie und Pierre Curie (1867-1934 und 1859-1906) sowie Henri Becquerel (1852-1908) zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt. Das kann zum Beispiel durch den Alpha-Zerfall geschehen, bei dem der Atomkern einen Heliumkern, bestehend aus zwei Protonen und zwei Neutronen, aussendet, oder über den Beta-Zerfall, bei dem sich ein Proton in ein Neutron umwandelt und dabei unter anderem ein Positron - das Antiteilchen des Elektrons - emittiert. Damit beim Betazerfall auch die Impulserhaltung gewährleistet bliebe, postulierte Wolfgang Pauli (1900-1958) Anfang der 1930er-Jahre ein weiteres, neutrales und nahezu masseloses Teilchen. Doch erst Ende der 1950er-Jahre gelang es Frederick Reines (1918-1998), dieses Teilchen, das Neutrino, nachzuweisen. Als freie Teilchen sind Protonen dagegen nahezu ewig stabil, ihr Zerfall wurde bis heute nicht gemessen. Ihre Halbwertszeit beträgt nach derzeitigem Kenntnisstand mindestens 1034 Jahre und ist damit um zig Größenordnungen länger als das Universum alt ist. Freie Neutronen wiederum "überleben" kaum eine Viertelstunde, ihre Halbwertszeit beträgt knapp 15 Minuten.
Darüber hinaus hatte man bereits ein grundlegendes Verständnis dafür entwickelt, wie Sterne Energie durch Kernfusion erzeugen. Sir Arthur Eddington hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt, dass die Sonne Energie erzeugt, indem sie in ihrem Inneren Wasserstoff zu Helium fusioniert, und Hans Bethe (1906-2005) sowie Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) hatten die Kernfusionsprozesse in massereicheren Sternen erklärt.
- Kernenergie
Sir Arthur Eddington fand Anfang des 20. Jahrhunderts heraus, dass die Sonne ihre Energie im Inneren durch Kernfusion von Wasserstoff zu Helium erzeugt. Nur so kann sie auf Dauer leuchten und auf der Erde Leben möglich machen.
© NASA/SDO and the AIA, EVE, and HMI science teams
WOHER STAMMEN DIE ELEMENTE?
Wohin man im Universum auch blickte, überall schienen die chemischen Elemente gleich verteilt zu sein. Wasserstoff, das leichteste Element, dominierte durchweg, am zweithäufigsten trat Helium, das nächste Element des Periodensystems, auf. Der Anteil noch schwererer Elemente nahm nach einem bestimmten Muster immer weiter ab. Ab einer bestimmten Atommasse schienen die Elemente jedoch nicht mehr allzu sehr auszudünnen, sondern ähnlich häufig vorzukommen.
Wie aber waren all diese Elemente in die Welt gekommen, und noch dazu in den beobachteten Mengenverhältnissen? Nach der Vorstellung des sowjetisch-amerikanischen Physikers George Gamow (1904-1968) sollten in einem Universum, das im Sinne des Friedmann-Lemaître-Modells expandierte, sämtliche Elemente aus dem extrem dichten und heißen Anfangszustand vor einigen Milliarden Jahren hervorgegangen sein. Mehr noch: Auch die heute beobachteten Häufigkeiten der Elemente sollten sich bereits damals eingestellt haben, und so seien sie gewissermaßen das "älteste archäologische Dokument, das etwas zur Geschichte des Universums enthält, [.]", schreibt Gamow in einer Veröffentlichung.
Gamow sowie Ralph Alpher (1921-2007) und Hans Bethe gingen von einem Urzustand aus, in dem die Materie als dichtes, heißes Neutronengas vorlag. Freie Protonen und Elektronen hätten unter diesen Bedingungen keinen Bestand, die Elektronen würden in die Protonen gedrückt und zu Neutronen vereinigt. Sobald der Gasdruck infolge der Expansion ausreichend gesunken war, würden die Neutronen über den Beta-Zerfall wieder in Protonen und Elektronen zerfallen. Nun konnten, ausgehend von den Protonen als Wasserstoffkerne und den noch übrigen Neutronen, die schweren Elemente entstehen: Die primordiale Nukleosynthese setzte ein.
- Urelement
Der Wasserstoff, das leichteste und bei weitem häufigste Element im Universum, ist in den ersten Minuten nach dem Urknall entstanden. Er ist unabdinglich für die Energieproduktion in Sternen; im interstellaren Raum ist das Element gebunden in Gaswolken, wie hier in der Region Sharpless 2-296, omnipräsent. Ionisierter Wasserstoff leuchtet in sattem Rot.
© ESO/VPHAS+ team/N.J. Wright (Keele University)
Während die Elemente bis zum Eisen durch Kernfusion aus leichteren Elementen entstehen, bilden sich die schwereren Elemente, indem sie einzelne Neutronen oder Protonen einfangen und am Kern anlagern. Dabei laufen die verschiedenen Prozesse jeweils unter unterschiedlichen physikalischen Bedingungen ab. So schloss Gamow aus der heutigen Elementverteilung darauf, wie lange in den ersten Momenten des Kosmos welche Temperaturen und Dichten geherrscht haben und wie schnell das Universum damals expandiert sein musste.
Nach Gamows Modell endete die primordiale Nukleosynthese, weil freie Neutronen, die die Entstehung schwererer Elemente bedingten, schon nach einer Viertelstunde zerfielen. Aus seinem Modell schätzte Gamow, ausgehend von der Häufigkeit der verschiedenen radioaktiven Isotope, auch das Alter des Universums ab und erhielt einen ähnlichen Wert wie über das allgemeinrelativistische Expansionsmodell, nämlich einige Milliarden Jahre.
Bald sollte sich jedoch herausstellen, dass er mit dieser Abschätzung falsch lag. Vor allem stimmte seine Interpretation nicht, nach der sämtliche Elemente, die wir heute im Universum verbreitet sehen, bereits kurz nach dem Urknall entstanden seien. Denn die primordiale Nukleosynthese konnte damals aus verschiedenen Gründen gar nicht über Lithium hinaus fortschreiten. Tatsächlich wurden sämtliche Elemente schwerer als Lithium erst in den Sternen produziert, wie Margaret und Geoffrey Burbidge (1919-2020 und 1925-2010) zusammen mit William Fowler (1911-1995) und Fred Hoyle (1915-2001) in ihrer berühmten Arbeit The Synthesis of the Elements in Stars von 1957 darlegten.
- Elementeküche
Die meisten schwereren Elemente sind durch...