Unser Advent
Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein. Zuvor aber muss er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht.
Lk 17, 20 - 25.
Wenn wir uns heute unter die große Menge mischen, welche am Adventsfest noch ein wenig sich bemüht, an die Zukunft des Heilands zu denken, dem doch die Menschen gehören kraft seines Todes und seiner Auferstehung, so steht er uns auch im Mittelpunkt des Fühlens und Denkens, unseres Hoffens und Glaubens, denn das wissen wir gewiss: Aus dem, was Gott in Christus war, muss der Sieg kommen; aus dem, was Gott in dem Menschensohn gegeben hat, der unter uns wandelte in unserer Schwachheit und unseren Verkehrtheiten, darunter gelitten hat und ausgeharrt hat bis zu seinem Sieg im Tode und bis zu seiner Auferstehung. In diesem Menschensohn bergen wir uns, wenn wir in die Zukunft schauen. Ein anderes Licht gibt es nicht für die Menschen, und zwar deswegen, weil es eben ein reines Gotteslicht im Menschen ist. Das Größte, das der Heiland offenbart hat, ist: Gott in den Menschen. Viele meinen, sie müssen Gott verstehen in den übersinnlichen Dingen. Das haben viele Heiden versucht und auch Christen später, aber das liegt uns heute ganz fern, wir haben damit nichts zu tun. Das Nächste, was uns bewegt, ist größer: nicht Gott in den Weiten, in den Himmeln, auch nicht Gott in den unsichtbaren Scharen, in Engeln und Fürstentümern und Gewalten2, nicht Gott in den Höhen, zu denen wir nicht gelangen, und nicht Gott in den Tiefen bis in die Höllen hinunter, wo wir nicht hinkommen, sondern Gott in dem Menschen, - der da lebt auf Erden, der in seinem armen, vom Tod durchzogenen Leib ringt und kämpft, um seines Geistes klar zu bleiben und in seinen Empfindungen sich nicht hinreißen zu lassen in die ewige Nacht der Vergänglichkeit. So ist es auch mit dem Reich Gottes eine einfache Sache: der Menschensohn steht in der Mitte alles Denkens vom Reich Gottes und vom Regiment und Recht Gottes. Und insofern können wir sagen: es ist ein Menschenreich, was uns als Gottesreich verkündigt wird. Eine Menschenfreude, ein Menschenheil, ein Menschenleben auf Erden ist verkündigt, und das ist, was uns bewegt und wonach wir fragen.
Wann kommt dieses Reich Gottes? Dieses wirkliche Leben der Menschen? - Das ist unsere Frage mit den Pharisäern. Wir schämen uns nicht, auch eine Frage aufzuwerfen, freilich wohl nicht in dem Sinn, dass wir wollen den Heiland versuchen und deshalb ungläubig auf ihn schauen, als ob es ihm doch nicht gelungen wäre und als ob er der Schwache wäre, auf den wir nicht hoffen könnten, sondern in der festen Zuversicht, in der innigsten Verbindung mit ihm und seiner Hilfe fragen wir: Wann kommt das Reich Gottes?
Und die Antwort ist erstens: »Es ist da!« - Oder sollen wir sagen: »Es ist nicht da«? - Ja, wenn wir es suchen wie jene Pharisäer in einem äußerlichen, jüdischen Königreich, das mit Gewalt das Römerreich zertrümmert, dann freilich wären wir nicht am rechten. Das ist nicht gekommen. Aber es ist ein Reich inwendig in den Menschen gekommen, weil Jesus unter uns ist. Weil er unter uns wandelt, der schon die Menschenrechte3 in seiner Hand hat, ist die große Möglichkeit gegeben, dass ein verdunkeltes Herz, ein verfinsterter Sinn, ein niedergezogenes Menschenkind, ein im Tode sich krümmender Mensch sich erhebt und spürt: Es regiert auch in mir, in meiner Schwäche, in meinem Jammer, in meinem Tod, in meiner Schande, in allem, was mich empört oder niederschlägt, - noch in meiner Sünde geht ein Licht auf und regiert mein Herz, dass ich froh und dankbar sagen kann: »Ich danke dir, Vater im Himmel, dass du mein Gott geworden bist!« So ruft unser Herz heute: »Hosianna!«4 dem, der da kommt, entgegen, und wir sagen und bezeugen heute: Es ist wahrhaftig Advent.
Wenn wir zurückblicken und uns vergegenwärtigen, wie nur in einem Jahr so viel geschieht, an dem wir das Reich Gottes merken inwendig in uns, dann können wir wahrhaftig sagen: Das Reich Gottes ist da. Nicht mit äußerlichen Gebärden, nicht mit großem Aufsehen in der Welt, nicht zum Ruhm, zum irdischen Ruhm derer, die es im Herzen haben, sondern ganz in der Stille, mitten in den Finsternissen der Erde und des Erdenlebens hat es seine Kraft, und mitten in der Unsicherheit und Unklarheit der Menschen, die in allen ihren Angelegenheiten nicht wissen, was sie wollen und wie sie es erreichen sollen, was sie wollen, - mitten drin, wo alles ratlos ist, umwallt uns ein mächtiger Friede in dem Bewusstsein: es hat regiert in unseren Herzen, es hat Licht gemacht in unseren Sinnen, es hat Leben gegeben in unser Sterben.
So stehen wir heute nicht nur da als die Wartenden, nicht bloß als die, die in die Luft fechten5 und nichts unter den Füßen haben, sondern wir stehen heute hier als solche, die einen festen Felsen unter ihren Füßen haben6, der nicht wankt, der nimmermehr untergehen kann und auf dem sie gebaut sind. Das gibt uns die Sicherheit - auch wenn noch so wenige etwa sollten an diesem Reich Gottes festhalten -, dass wir nicht nötig haben, dahin zu laufen oder dorthin zu laufen, wo sie sagen: »Hier ist Christus! Da bei uns ist er!«, - wir haben es nicht nötig, auf solchen Ruf zu hören, der immer darin sein Zeichen hat, dass es heißt: »Bei uns ist Christus, bei euch nicht.« Wir wissen, dass das der Tag des Menschensohnes nicht ist. Heute noch hat sich die Christenheit nicht losgerungen von dem Irrtum, dass sie jüdisch glauben: »Nur wir sind es!«, wie die Juden gemeint haben: »Nur wir sind Gottes Volk, und außer uns will der liebe Gott niemand haben.« So sagen sie auch heute: »Nur wir sind es, nur unsere Gedanken sind es, nur unsere Predigt ist es, nur unser Fühlen und Denken ist es, und alle anderen sind verkehrt.« Das schleicht sich als eine Finsternis oft in die besten Herzen hinein, und in dieser Finsternis verliert man nur zu leicht die Sicherheit: der Tag ist uns aufgegangen, das Heil ist uns erschienen.
Und dann sehen wir in die Welt hinein voll Misstrauen und Übelwollen und meinen, der liebe Gott habe nirgends unter den Menschen sein Werk. Wir lassen uns durch die äußerlichen Gebärden täuschen und meinen, hinter die Schranken, hinter denen viele Menschen sind, könne der Vater im Himmel mit seinem Geist nicht hinkommen. Aber wer wirklich den Menschensohn erkannt hat, wer wirklich Jesus sieht, wie er ist, der lächelt, wenn ihm jemand sagt: »Die und die Menschen sind so fern von Gott, dass sie nicht berührt werden können, ehe wir kommen.« Wir wissen, dass ehe wir kommen, schon der Tag in den Herzen ist. Ich habe in meiner Erfahrung, in meinen jetzt vielen Jahren, in denen ich gepredigt habe, immer den Eindruck gehabt: ich kann nur in den Tag hineinreden, den Gott in den Herzen schon vorher gemacht hat. Und wenn es auch nur Morgensterne und nur stille, dem Menschen unerkannte Kräfte des Tages sind - sie müssen da sein, ehe wir kommen mit unserer Verkündigung. Ehe wir reden, ist schon der Boden gelegt in denen, die etwa ein Wort hören und daran sich aufrichten sollen. Oder meint ihr, ein Menschenwort, auch das klügste, auch das weiseste, auch das allerbest gemeinte könne Tag schaffen in den Herzen? Mir kommt heute die ganze Welt so vor, als ob sie schon von den ersten Strahlen des Lichts getroffen wäre und es bloß noch zu warten gilt, bis der Blitz7 kommt. So stark können wir sagen: Das Reich Gottes ist inwendig in uns, das Reich Gottes, welches das Reich des Menschensohnes ist, dass wir an keinem Menschen mehr verzagen und wir nur die Zeit zu erwarten haben, in welcher es herauskommt, was Gott an den Menschen getan hat, ehe wir kommen.
Sollen wir denn einmal kommen? Ja, es müssen auch Menschen kommen und sollen einmal Menschen kommen mitsamt allen Engeln im Himmel, die es auch öffentlich verkündigen: »Jetzt ist der Tag da!« Aber da müssen wir die Rechten sein, die kommen. Nicht jeder, der glaubt, Christ zu sein, hat das Recht, überall zu sagen: »Ich, ich verkündige euch die Wahrheit!« Viele Christen haben nur menschliche Wahrheiten, haben es sich nur menschlich ausgedacht. Und dann wundert man sich, wenn es bei den Menschen in der Welt keinen Anklang findet. Aber es ist eben erstens noch nicht Zeit. Und zweitens: Sind wir denn schon die rechten Leute, die in die große Welt hineintreten dürfen: »Jetzt...