Schweitzer Fachinformationen
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Seit 75 Jahren hat sich Europa nicht mehr in einer so entscheidenden Phase befunden, wie es gegenwärtig der Fall ist. Der Krieg Russlands ist dabei ein Grund, aber weder der einzige noch der wichtigste. Vielmehr wiesen die langfristigen Entwicklungen der global wichtigsten Faktoren, sogenannter Megatrends wie etwa der Klimawandel, bereits vor dem 24. Februar 2022 auf das wachsende Potenzial für Konflikte der globalen sicherheitspolitischen Ordnung hin. Der Krieg hat aber neben seinem direkten Effekt, nämlich der Zerstörung der sicherheitspolitischen Ordnung Europas, diesen Wandlungsprozess der globalen Ordnung entschieden beschleunigt. Auf diese Beschleunigung und die Unsicherheit, wie der zukünftige Wandel aussieht, gilt es nun zu reagieren und die Zukunft zu gestalten. Davon hängt ab, wie weit Europa sein Schicksal künftig selbst bestimmen kann oder ob es von anderen gestaltet wird.1
Dies definiert zugleich eine Phase schwerster Prüfungen für die deutsche Sicherheitspolitik seit Gründung der Bundesrepublik: Deutschland wird unweigerlich zur Handlungsfähigkeit Europas beitragen. Entweder positiv durch seinen aktiven Beitrag oder negativ durch die Abwesenheit dieses Beitrages.
Während alle nationalen Regierungen Antworten auf die bevorstehenden Krisen finden müssen, kommt der deutschen Regierung eine Schlüsselrolle bei den anhaltenden europäischen Bemühungen zur Unterstützung der Ukraine und zur Gestaltung der europäischen Ordnung zu. Deutschlands große Wirtschaft ist in Europa und weltweit von Bedeutung, aber der Krieg in der Ukraine hat ihre Verwundbarkeit deutlich gemacht: Die deutsche Regierung muss sich mit Abhängigkeiten auseinandersetzen und neue Energiequellen finden, Lieferketten diversifizieren und neue Märkte erschließen. Politisch ist Berlin noch dabei, sich an seine neue Rolle zu gewöhnen: Der Krieg in der Ukraine zwang die Bundesregierung, eine aktivere Rolle in der europäischen Sicherheit und Verteidigung zu spielen. Deutschland ist ein wichtiger Partner, sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus sicherheitspolitischen Gründen, aber es bleibt verwundbar und zögert, entscheidende Maßnahmen zu ergreifen.
Deutschland hat sich in den letzten 30 Jahren ein eigenes Bild über die Welt gezeichnet, statt seine Sicht immer wieder mit der echten Welt abzugleichen. Deshalb ist nun ein Wandel notwendig, bei dem lieb gewonnene Bilder und Überzeugungen im Abgleich mit der Realität angepasst oder zum Teil der Geschichte erklärt werden müssen. Das betrifft zum Beispiel das Verhältnis zu Russland und das Friedensverständnis. Zugleich zeigen die Debatten seit Beginn des Krieges, wie groß der Wunsch bei vielen in Deutschland ist, doch noch ein wenig länger in der alten Idylle und Illusion zu verharren. So gefährdet Deutschland selbst gegenwärtig seine Sicherheit am meisten.
Denn der Weg zurück ist ohnehin verbaut. Das ist nicht nur so, weil Russland auf lange Sicht kein Partner mehr sein kann. Die tektonischen Verschiebungen durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reihen sich in die großen Trends in Politik, Wirtschaft, Sicherheit und Technologie ein, die ohnehin die entscheidenden Herausforderungen für die heutige und die nächste Generation definieren.
Für einen aktiven Beitrag müsste Deutschland in dieser Phase zwei Herausforderungen als zentral anerkennen. In beiden bedeutet eine Zeitenwende vor allem eine Hundertachtziggradwende bisheriger Politik. Weil die Entscheiderinnen und Entscheider den politischen Kurs jahrzehntelang nicht hinterfragten, sind heute nur wenige alternative Konzepte und Visionen in der Diskussion anzutreffen.
Der eine Bereich ist die Verteidigungspolitik. Auch wenn der Schock des russischen Angriffs die Rolle von militärischer Sicherheit deutlich gemacht haben mag: einen belastbaren Plan, was Verteidigungsfähigkeit für Deutschland bedeutet und wie sie herzustellen wäre, gibt es bislang nicht. Die tiefgehenden Fragen, was militärische Macht kann - und was sie darf -, werden jedoch im Zentrum stehen.
Der andere ist die deutsche Sicherheitspolitik. Sie war, entgegen der deutschen Selbstbeschreibung, zweigeteilt: Einerseits gab es die öffentlich präsentierte Außenpolitik, die zivile Mittel, Prävention und Menschenrechte in den Vordergrund rückte. Andererseits gab es eine sehr aktive Außenwirtschaftspolitik - um das exportbasierte sozio-ökonomische Modell Deutschlands aufrechtzuerhalten. Diese blieb in Deutschland getrennt von der öffentlich präsentierten, sichtbaren Außenpolitik. Und es gab Politikbereiche wie etwa Inneres oder Justiz, in denen kümmerte man sich um die öffentliche Sicherheit und Verteidigung des deutschen Rechtsstaates - dies fein säuberlich getrennt von den Bereichen äußerer Sicherheit. Diese klare Trennung der Zuständigkeiten setzt sich fort: zwischen Bundesministerien, Bund und Ländern sowie Staat und privaten Akteuren (wie Betreibern von Kraftwerken oder IT-Infrastruktur). Horizontale Kooperation und integrierte Ansätze, die diese Trennung überwinden, blieben die Ausnahme. Gleichzeitig wuchs die Rhetorik, die genau diese horizontale Kooperation als Markenzeichen deutscher Ansätze anpries, von dem Begriff der vernetzten Sicherheit bis zum heutigen Begriff der integrierten Sicherheit in der nationalen Sicherheitsstrategie.
Deutschlands bisherige Sicherheits- und Verteidigungspolitik bietet gerade wegen dieser Säulenstruktur keine Antwort auf den globalen Ordnungswandel und die Fragen, die Europa in Zukunft umtreiben und die die Sicherheit Deutschlands bestimmen werden. Die größte Herausforderung für Deutschland liegt daher darin, Sicherheitspolitik neu zu denken und über den russischen Krieg gegen die Ukraine hinaus und für zukünftige Herausforderungen aufzustellen. Die äußere Zeitenwende erfordert also auch eine innere Zeitenwende. Und die europäische Zeitenwende erfordert eine erfolgreiche deutsche Zeitenwende.
Die Gestaltung der entstehenden europäischen und globalen Ordnung ist für die Sicherung der europäischen Lebensweise von existenzieller Bedeutung. Dafür müssen drei Schlüsselfragen beantwortet werden. Erstens: Wie sieht eine gute Ordnung aus? Zweitens: Wie kann sie aufgebaut werden? Und drittens: Wie kann sie erhalten werden?
Gute Antworten auf diese Fragen können nicht gelingen, ohne die Gesellschaften Europas an den Antworten zu beteiligen. Denn sie müssen sie tragen und mit Leben füllen.
Die Debatte darüber, wie wir in Zukunft leben können und wollen, hat in der deutschen Gesellschaft und Politik mit dem Kriegsbeginn erheblich an Fahrt aufgenommen. Das ist gut, denn es macht den notwendigen Wandel möglich. Damit diese Debatten zu einem guten Ende kommen können, möchte ich mit diesem Buch vor allem zur Diskurs- und Themensouveränität in der deutschen Debatte beitragen. Dabei bitte ich Sie, meine Vorschläge mehr als Anregung für diese Debatte zu nehmen: Welche Punkte sind warum wichtig? Ich möchte Ihnen nicht vorschreiben, zu welchen Schlüssen Sie zu kommen haben.
Als ein Kind der 1980er Jahre, das unbekümmert in der westdeutschen Provinz aufwachsen durfte, habe ich vielen Ereignissen, die bis heute wichtig sind, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der Kalte Krieg war in der individuellen Wahrnehmung gleichzeitig eine Zeit der Sorglosigkeit und des Friedens. Ich kann verstehen, wenn viele sich auch heute die Frage stellen, was die aktuellen Entwicklungen mit ihnen zu tun haben.
Trotz meines später berufsbedingt kritischen Blicks auf deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik blieb mein Grundvertrauen in die Stabilität Europas, bis Russland 2014 die Krim annektierte und einen anhaltenden gewaltsamen Konflikt im Donbass verursachte. Doch nach Gesprächen mit militärischen Praktikern in Berlin, Brüssel und anderswo war klar: Die alte Welt vergeht. Die neue wird erst mal nicht besser. Heute, auch mit dem Ausblick, den dieses Buch bietet, können wir unseren Kindern wohl keine so komfortable Zukunft bieten. Aber wir können und müssen das gestalten, was gestaltbar ist.
Das ist die gesellschaftliche Verhandlung, die wir nun führen müssen. Welche Welt wollen die Deutschen ihren Kindern und Enkeln hinterlassen? Mit diesem Buch habe ich die Gelegenheit erhalten, Angebote und Argumente in diese laufende Verhandlung einzubringen. In diesen Diskussionen geht es um etwas: Wir verhandeln gerade, wie die Zukunft gestaltet werden soll. Oder ob wir in der Gestaltung keine Rolle spielen.
Für den öffentlichen Diskurs gibt es für mich sehr einfache Grundsätze: Meinungen sind gut - begründbare Meinungen sind besser. Und: Der gesellschaftliche und politische Diskurs kann vor allem gelingen, wenn wir zumindest Gemeinsamkeit und Transparenz bei den Begriffen haben: Was meine ich, wenn ich von Dingen wie Sicherheit oder Frieden rede? Welche Annahmen stecken dahinter?
Deshalb biete ich in diesem Buch neben Fakten und hoffentlich verständlichen Beschreibungen und Analysen auch Interpretationsangebote für bestehende Konzepte an, ebenso wie meine Einsichten in die Problemlandschaft,...
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