Schweitzer Fachinformationen
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Wenige Tage nach der Beerdigung des Bildhauers Peter Klopp öffnete seine Tochter Hanna das große Flügeltor und betrat zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters dessen Werkstatt. Sonnenschein und Wärme fluteten in die Halle, Staubpartikel schwebten glitzernd im einfallenden Licht. Auf einem der klapprigen Gartenstühle, die um den runden Tisch mit der Mühlsteinplatte gruppiert waren, hing Peters Motorradjacke aus derbem Leder. Der Anblick versetzte Hanna einen Stich. Über den nächsten Stuhl war seine Schürze geworfen, auf der Tischplatte lag seine Arbeitsbrille, am Bügel mit Klebeband repariert. Eines seiner zahlreichen Notizbücher lag ebenfalls dort. An den Wänden der Werkstatt waren Regalbretter montiert, über und über mit Skulpturen und Plastiken bestückt. Aus Gips gegossene Hände in Lebensgröße, wie abgetrennte Leichenteile. Zwischen zwei aus Eisenteilen geschweißten Motorradfahrern stand die lebensgroße Büste der Nofretete. Die stammte nicht von Peter, sondern hatte früher seiner Mutter gehört, Hannas Oma Gerda. Seit deren Tod war die Büste in der Werkstatt eingelagert, mit den Jahren von Staub bedeckt, sodass die leuchtenden Farben nicht mehr zu erkennen waren.
Als Nofretete noch auf einer Anrichte im Wohnzimmer der Großmutter thronte, hatte sich Hanna manchmal mit der alten Ägypterin unterhalten. Sie hatte die schöne Königin geliebt, obwohl die ein blindes Auge hatte. Es war weiß, wie das von Oma Gerda. Die hatte das rechte Auge bei ihrer Geburt eingebüßt, hieß es. Ein grauweißer Schleier hatte sich auf den Augapfel gelegt und Gerda halbblind gemacht.
Hanna ließ ihren Zeigefinger über den hohen Hut der ägyptischen Königin streichen, zog einen Strich über die Stirn und die gerade Nase, bis hinab zu Nofretetes sinnlichen Lippen. Unter dem Staub wurde die bunte Bemalung sichtbar. Wie eine Kindheitserinnerung leuchtete die Farbe hervor. Hanna kannte die Geschichte der Büste, ihr Vater hatte ihr davon erzählt. Eine Bildhauerin, Tina Haim, hatte zwei Kopien des Originals angefertigt, das 1912 von einem deutschen Archäologenteam in Ägypten entdeckt und später nach Berlin verfrachtet worden war. Im Laufe der Jahre waren von den Haimschen Kopien eine Vielzahl von Repliken angefertigt worden, Nofretete war zur Modefigur avanciert.
Das Original war heute in Berlin im Neuen Museum ausgestellt. Kurz nach ihrem Umzug war Hanna einmal dort gewesen. Die Museumsbesucher hatten sich so dicht um die Glasvitrine gedrängt, dass es ihr kaum möglich gewesen war, einen Blick auf die Büste zu erhaschen. In einer Nische des Ausstellungsraums hatte Hanna jedoch eine Kopie entdeckt, eine schwarze Nofretete, die für blinde Besucher zum Betasten bereitstand. Sie hatte ihre Augen geschlossen und war mit den Fingerspitzen über das Gesicht der schönen Königin gefahren.
Das Material der Blinden-Büste im Museum war glatter und kühler gewesen als der Gipskopf, den sie nun in ihren Händen hielt.
Oma Gerdas Mann, Peters Vater, der ebenfalls Peter Klopp geheißen hatte, war vor Hannas Geburt gestorben. Auch er war Bildhauer gewesen. Wie sein Vater, wie dessen Vater. Bildhauer und Steinmetze. Der Beruf wurde in der Familie von Vater zu Sohn weitergegeben, Generation um Generation, genauso wie der Vorname. Hanna hatte nach dem Abitur eine Steinmetzausbildung bei ihrem Vater begonnen. Im zweiten Lehrjahr hatte sie alles hingeschmissen und war nach Berlin gezogen. Aus Liebe, und weil das weit weg von zu Hause war. Drei Jahre war das her.
Der Kompressor stand auf einem Handwagen neben dem Werkstatttor. Peter hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Kabel aufzurollen. Als hastig zusammengerafftes Knäuel lag es neben der Maschine. Ein paar vertrocknete Blätter waren zwischen dem schwarzen Gummi eingeklemmt, Überbleibsel aus dem Herbst, als Hannas Vater zum letzten Mal mit Druckluft gearbeitet hatte. Hanna nahm eines der verschrumpelten braunen Blätter in die Hand, es zerbröselte zwischen ihren Fingern. Peter hatte nicht gewusst, dass es sein letzter Arbeitstag sein würde, als er den Kompressor abstellte. Ein Herzinfarkt hatte ihn am nächsten Morgen beim Frühstück erwischt. Einfach so. Es folgten Tage auf der Intensivstation, Wochen im Krankenhaus. Zu Weihnachten durfte er nach Hause, doch er war zu kaum mehr fähig gewesen, als auf dem Sofa zu liegen. "Das ist kein Leben für mich", hatte er zu Vera und Hanna gesagt, "das müsst ihr verstehen!"
Die Chancen für eine erfolgreiche Bypass-Operation standen bei fünfzig Prozent - entweder würde er seine Kraft und seinen Lebenswillen zurückerhalten oder nicht mehr aus der Narkose erwachen.
"Klingt doch nach einem fairen Deal", hatte er am Telefon zu Hanna gesagt und gelacht, "findest du nicht?"
Wenige Tage vor der Operation war Hanna aus Berlin angereist und seither in Mendig geblieben. Sie hätte lieber einen Vater auf dem Sofa gehabt als gar keinen mehr.
Als Kind hatte Hanna es geliebt, ihren Vater bei der Arbeit zu beobachten. Der Steinstaub hatte ihn von Kopf bis Fuß grau gefärbt, sich auf dem Overall festgesetzt, in seinen buschigen dunklen Augenbrauen, in den Bartstoppeln. Peter Klopp hatte die Gabe besessen, mit Steinen zu sprechen. Oft brauchte er nur wenige Hammerschläge, um eine Skulptur zu skizzieren. Er deutete auf einen unförmigen grauen Klotz und sagte: "Sieh mal, der Elefant hat seinen Rüssel um den Kopf geschlungen" oder "Schau nur, ein Pferd im Galopp!" Er erkannte die Kreaturen, die in dem Stein gefangen waren, und befreite sie, gab ihnen eine Form, schliff sie glatt, bis sie auch für alle anderen sichtbar wurden. Mit seinen großen, schwieligen Händen schuf er Gebilde aus Stein, aus Holz, aus Gips, Ton oder Metall. Aber auch aus allem anderen, was ihm in die Finger kam. Er modellierte kleine Wesen aus dem weichen Inneren der Frühstücksbrötchen, schnitzte mit den Fingernägeln Gesichter in das Wachs von Kerzen, kritzelte beim Telefonieren Zeichnungen an die Wand. Nichts war vor seiner Schöpferkraft sicher. Einmal hatte er sogar Geldscheine mit Kuli verziert, bis keine Bank sie mehr eintauschen wollte. "Lass die Spielerei, was soll denn das?!", schimpfte Hannas Mutter mit ihm wie mit einem ungezogenen Kind. Das Geld war immer knapp gewesen in Hannas Familie, und die Mutter konnte in dieser Verschönerung des schnöden Mammons keine Aufwertung erkennen. Als Kind war Hanna sich manchmal nicht sicher gewesen, ob ihr Vater der tollste aller Väter war oder der bekloppteste.
Klopp war wohl nicht umsonst ihr Familienname.
Auf einem Regalbrett entdeckte Hanna eine Reihe von Gipsmodellen, nicht größer als dreißig Zentimeter. Entwürfe des Denkmals für den Mann mit dem schwierigen Namen: Haüy.
"Man spricht es ah, oui!", hatte Peter ihr erklärt, und sie hatten verschiedene Betonungen ausprobiert. Auf wie viele Weisen konnte man "ah, ja!" sagen? Oder das Gegenteil, mais non!
"Wie weit bist du mit Monsieur Mais-Non?", hatte sie ihren Vater gefragt, als sie mit ihm von Berlin aus telefonierte, und er hatte von seinen Fortschritten mit der Skulptur erzählt.
René Just Haüy, der französische Gelehrte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, war ein zusätzliches Familienmitglied geworden, nach dem man sich erkundigte. Sein Denkmal sollte vor dem neu eröffneten Vulkanmuseum stehen. Ein großer Auftrag, der dem Vater am Herzen lag, nicht allein des Geldes wegen.
Hanna nahm einen Entwurf nach dem anderen zur Hand, pustete die Schicht aus Staub und Gipspulver ab, die sich in den fein geschnitzten Ritzen abgesetzt hatte. Mal stand der Mineraloge stolz und aufrecht, mal beugte ihn das Alter. Mal faltete er die Hände wie zum Gebet, mal zeigte er die offenen Handflächen, als wollte er etwas präsentieren. Einer der Miniatur-Haüys hielt einen großen Kristall in der Hand, den Peter blau eingefärbt hatte. Das musste Blau-Auge sein, der sagenumwobene Riesen-Haüyn, der angeblich vor vielen hundert Jahren in Mendig gefunden worden war. Hanna hatte ihn immer für eine Erfindung gehalten, und erst gestern im Vulkanmuseum hatte Walter Newel, der selbsternannte Dorfchronist, ihr die Geschichte abermals erzählt, so als ob sie sie nicht schon unzählige Male gehört hätte. Ein augapfelgroßes Exemplar des blauen Kristalls, das größte, das je entdeckt worden war. Im Mittelalter sei er gefunden worden, habe für Neid und Totschlag gesorgt, bis man ihn im Jahre 1783 dem berühmten französischen Mineralogen geschenkt habe - Haüy. Dass Haüy sich damals in der Eifel aufgehalten habe, sei nachweislich belegt, hatte Newel behauptet und zur Bekräftigung seine wässrigen Augen hinter den dicken Brillengläsern aufgerissen. Gemeinsam mit seinem Bruder habe Haüy im Kloster in Maria Laach residiert. Der Kristall sei dann in Paris in der Sammlung des Mineralogen ausgestellt worden, im Nationalmuseum...
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