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(Johannes Freumbichler)
»Mein Großvater entstammte einer Bauern-, Krämer- und Gastwirtefamilie«, schreibt Thomas Bernhard in seinem autobiografischen Band Ein Kind (1982); »sein Vater hatte erst mit zwanzig Jahren mühselig angefangen zu schreiben und an seinen Vater aus der Festung Cattaro einen Brief geschrieben, von dem er behauptete, er sei von seiner Hand, was mein Großvater immer anzweifelte« (10/432). Damit weist Bernhard mit Nachdruck auf die ländliche Herkunft seines Großvaters Johannes Freumbichler - und damit auf seine eigene - hin. Gleichzeitig macht er deutlich, welcher kulturelle Sprung sich innerhalb der vier Generationen zwischen seinem Urgroßvater und ihm vollzogen hat: von der Alphabetisierung über den Erwerb der Autorschaft bis hin zur Etablierung im Kontext der Weltliteratur. Schon seinem Großvater sei, so Bernhard, das Ausmaß der zurückgelegten Entwicklung bewusst gewesen: »Schopenhauer, Nietzsche, ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt«, zitiert er Freumbichler in Ein Kind. »Mein Vater konnte nicht einmal rechtschreiben, meinte er oft voll Stolz. Und ich entwarf Romane, Riesenromane.« (10/438)
Freumbichlers Vater tritt in Bernhards Werk bereits viel früher in Erscheinung. »Mein Urgroßvater war Schmalzhändler / und heute / kennt ihn noch jeder / zwischen Henndorf und Thalgau, / Seekirchen und Köstendorf«, beginnt eines der einleitenden Gedichte des Lyrikbands Auf der Erde und in der Hölle (1957). »1881, im Frühjahr, / entschied er sich für das Leben«, heißt es wenige Zeilen danach, »seine Frau, Maria, die mit dem schwarzen Band, / schenkte ihm weitere tausend Jahre.«1 Die Entscheidung »für das Leben« fällt mit dem Geburtsjahr von Bernhards Großvater zusammen: Am 22. Oktober 1881 wird Johannes Freumbichler in Henndorf am Wallersee, etwa 15 Kilometer nördlich von Salzburg, geboren. Sein Vater Joseph Freumbichler (1830-1909), der »Schmalzsepp«, lebt dort als erfolgreicher Händler von Butter und Schmalz, der seine Produkte nicht nur nach Salzburg, sondern zeitweise auch auf den Wiener Naschmarkt liefert.
Er ist seinerseits der Sohn von Michael Friembichler (1808-1882) aus Steindorf bei Straßwalchen, der im Alter von 21 Jahren die um acht Jahre ältere Bauerntochter Anna Rutziger heiratet und sich 1852 durch Erwerb der beiden Heisinggüter Berg 21 und 22 in der Nähe von Henndorf ansiedelt. Der Name findet sich in den diversen Urkunden in unterschiedlichen Schreibweisen - »Freunbichler« (so heißt Bernhards Großvater im Taufbuch), »Freinbichler«, »Freumbüchler« oder »Friembichler«. Der Großvater selbst leitet seinen Familiennamen von mhd. »friema«, d. i. »anschaffen«, und »Büheler«, d. i. »Bergler«, ab, also »der auf dem Berge wohnende Anschaffer«.2 Da nach dem Erbrecht der Region nicht der älteste, sondern der jüngste Sohn den Hof erbt, muss Joseph, der Erstgeborene, das väterliche Gut verlassen; er hat einen jüngeren Bruder, der wie der Vater Michael heißt.
Thomas Bernhards Urgroßvater Joseph Freumbichler tritt 1850 in die k. k. Armee ein und dient bis 1858 u. a. als Kanonier in Dalmatien, wobei er vermutlich bis vor Cattaro (Kotor) gelangt. Drei Briefe sind von ihm überliefert; es ist davon auszugehen, dass er sie einem Kameraden diktiert hat. Sein Sohn Johannes verwendet die Erinnerungen des Vaters als Basis für seinen unveröffentlichten Roman Ljubica (= Die Perlenstickerin von Cattaro oder Das Wunder vom Orangenbaum); er schildert darin das Soldatenleben in Dalmatien recht idyllisch wie einen »Erholungsurlaub junger Salzburger Bauernburschen unter südlicher Sonne, gewürzt mit einer Liebesbekanntschaft«.3 1863 heiratet Joseph Freumbichler die um acht Jahre ältere Bauerntochter Katharina Haigerer - er wiederholt somit das Heiratsmuster seines Vaters und erwirbt durch die Eheschließung ein kleines Haus als Basis für die junge Familie.4 Katharina Haigerer stirbt jedoch schon 1873; nur sieben Wochen später heiratet er die um 13 Jahre jüngere Bauerntochter Maria Langer (1843-1920), die ihm vier Kinder schenken wird: Maria, Rudolf, Rosina und Johannes. 1888, also bereits sieben Jahre später, wird das Geburtshaus der Kinder unterhalb der Henndorfer Kirche verkauft und das größere »Binderhaus« (Nr. 68) erworben, wo eine Viktualienhandlung entsteht.
Johannes entwickelt zu seiner Mutter, die ihn über viele Jahre bis zu ihrem Tod immer wieder unterstützt, eine sehr enge Beziehung; den Vater behält er als arbeitsame, aber dem Alkohol zugeneigte Persönlichkeit in Erinnerung. Jahre später notiert er unter dem Titel Biographisches Überlegungen zu den Ursachen für seine eigene psychische Konstitution, die er als äußerst labil wahrnimmt. »Wir waren außer der Schulzeit ganz frei, die Eltern hatten zu tun und kümmerten sich nicht um uns«, schreibt er. »Was mir am meisten gefehlt hat, war die liebevoll leitende, verständnisvolle Hand. Die beiden Alten liebten mich über alles, aber sie standen auf so niedriger Bildungsstufe, daß sie nichts tun konnten.«5 Auf die Trunksucht des Vaters reagiert Johannes mit einer starken Abneigung gegen alle Unmäßigkeit und mit nachdrücklichen Ermahnungen zur Enthaltsamkeit.
In seiner Autobiografie stellt Bernhard die Familie seines Großvaters als eine Ansammlung von Menschen dar, die großteils vor dem elterlichen »Einkauf-Verkaufsdenken« geflüchtet seien, weil es »auf nichts anderes hinauslief als auf eine reine Vermögensansammlung«. Schon Johannes' ältere Schwester Marie (wie sie in der Familie heißt) habe diesen »stupiden Mechanismus als eine Zumutung durchschaut und in jungen Jahren einen sogenannten Kunstmaler aus Eger geheiratet, der später in Mexiko eine Berühmtheit geworden ist, von welcher heute noch die großen Zeitungen in ihren Kunstspalten schreiben«; ihre Tochter sei »jahrzehntelang durch den Orient« gezogen, »von Pascha zu Pascha, von Scheich zu Scheich, von Bei zu Bei« (10/432). Die Wirklichkeit ist weniger glamourös: Marie Freumbichler (1875-1952) heiratet 1898 den aus Wien stammenden Maler Ferdinand Russ (geb. 1872) und bekommt von ihm zwei Kinder: die Tochter Fernanda (1899-1979), die als Sängerin und Tänzerin in Varietés auftritt und vorübergehend mit dem Türken Said Edip Bei verheiratet ist, außerdem den Sohn Kaspar Roland (1900-1982), der ebenfalls Kunstmaler wird. Die ständig verschuldete Familie übersiedelt 1901 nach Wien, 1904 emigriert Ferdinand Russ nach Brasilien, wo sich seine Spuren für immer verlieren. Marie verdient den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder durch den Betrieb einer Kantine; ihre nationalsozialistische Gesinnung ist Anlass für heftige Konflikte mit ihrem Bruder Johannes.6
»Ein älterer Bruder meines Großvaters, Rudolf, hatte Zuflucht im Forst gesucht und als Förster der gräflich uiberackerischen Waldungen rund um den Waller- und den Mondsee Selbstmord begangen mit zweiunddreißig«, heißt es weiter in Ein Kind. »Immerhin, weil er >das Unglück der Welt nicht länger ertragen< hatte können, wie er auf einem handgeschriebenen Zettel vermerkte« (10/433). Rudolf (1876-1902) war zunächst als Erbe des elterlichen Geschäfts vorgesehen gewesen. Doch der sensible junge Mann zieht ein Leben in der Natur der Gesellschaft der Menschen vor, schreibt Notiz- und Tagebücher wie sein Bruder Johannes und will Jäger und Förster werden. Als er keine Anstellung findet, erschießt er sich auf dem Zifanken, einem Berg nahe Henndorf, auch der zitierte Abschiedsbrief ist erhalten.7 Bernhard spielt gleich mehrfach auf dieses Schicksal an, nicht nur im autobiografischen, sondern auch im fiktionalen Teil seines Werks (Korrektur, Der Stimmenimitator).
Rosina Freumbichler (1878-1943), die Drittgeborene, bleibt als Einzige im Dorf. Zunächst unterstützt sie ihre Mutter bei der Haushaltsführung, 1908 übernimmt sie die Gemischtwarenhandlung der Eltern; später kommt die Vermietung von Zimmern hinzu - Henndorf profitiert zunehmend vom Ausbau des Fremdenverkehrs. Bernhard nennt seine »Tante Rosina« ein »richtiges Kind der Idylle, unfähig, auch nur zehn Kilometer aus Henndorf wegzureisen«; sie sei im ganzen Leben »niemals in Wien, aber wahrscheinlich auch niemals in Salzburg gewesen«, er habe sie aber schon im Kindesalter als »Regentin ihres Einkaufs- und Verkaufsimperiums« bewundert (10/432f.). Sie heiratet Joseph Schlager, der ebenfalls...
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