Schweitzer Fachinformationen
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Schwere, nasse Flocken segeln aus dem Himmel herab. Längst hat sich die Dunkelheit über das Moor gesenkt. Der Mond steht als fahle Sichel am Himmel, immer wieder halb verdeckt von dunklen Wolken, die der stetige Wind vor sich hertreibt. Kahle Birken und andere Bäume, auf denen Spuren von Frost ruhen, recken ihre Äste empor und wirken wie bizarre Gerippe. Hier und da hat eine dünne Schneeschicht die Landschaft zugedeckt. Wie störrische, dunkle Haarbüschel ragen Flecken von abgestorbener Heide oder Gräsern aus den weißen Flächen.
Nur wenige Kilometer von der mächtigen Elbe und vom mondänen Blankenese entfernt wirkt das Schnaakenmoor am westlichen Rand von Hamburg wie eine urzeitliche, verwunschene Landschaft. Sie nimmt dich in sich auf, sie umarmt dich. Mit jedem Meter, den der Besucher in diese Region vordringt, entfernt er sich von dem Trubel der Metropole und erlebt ein kostbares, empfindliches Idyll. Büsche, Heide, Bäume, Moose und Flechten haben vor Tausenden von Jahren das Terrain erobert. Und mit ihnen die Sümpfe und Moorregionen, mit all ihren Geheimnissen und Mythen.
»Immer wenn ich hier in dieser Gegend bin, habe ich das Gefühl, in die Vergangenheit einzutauchen. Die Landschaft fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Geheimnisvoll und schattenhaft.« Emma Claasen starrt in den ellipsenförmigen Ausschnitt, den die Scheinwerfer ihres Autos aus der Finsternis des Schnaakenmoors in Hamburg-Rissen herauslösen. Die Kriminalhauptkommissarin hat mehr vor sich hin gesprochen, doch sie weiß, dass der Mann neben ihr auf dem Beifahrersitz aufmerksam zuhört. Sie spürt, wie Kai Plathe sie mustert, den prüfenden Blick aus seinen mokkafarbenen Augen auf ihr Profil gerichtet. Der Rechtsmediziner ist ein besonnener Begleiter, jemand, dem kaum etwas entgeht. Er scheint äußerst feine Antennen für Stimmungen zu haben, für das Ungesagte.
»Ich bin auch jedes Mal aufs Neue fasziniert vom Moor. Ich habe ganze Regale voller Bücher darüber, wissenschaftliche und fantasievolle.« Der 48-Jährige streicht sich über seinen Dreitagebart. »Es gibt Unmengen von Geschichten, die davon erzählen, dass die gefährlichen Sümpfe die Unbedachten in ihren Schlund ziehen und auf ewig verborgen halten. Viele davon haben sicher einen wahren Kern. Schon seit Menschengedenken sind diese besonderen Lebensräume dazu missbraucht worden, um sich anderer Personen zu entledigen - für lange Zeit, vielleicht sogar für immer. Wer das Böse will, findet in den Mooren schweigsame Verbündete.« Kai Plathe macht eine bedeutungsschwere Pause. »Aber manchmal taucht eben doch ein Verstorbener wieder aus den Tiefen auf.«
»Und heute, zwei Tage nach der der längsten Nacht des Jahres, ist offenbar genau so ein Moment.« Emma deutet nach vorn, wo sich der Weg schon nach wenigen Metern im düsteren Nirgendwo zu verlieren scheint. »Jetzt im Winter und so spät am Abend sieht es hier wirklich gespenstisch aus. Ganz anders als sonst.« Plathe wirft ihr einen fragenden Blick zu. »Ich wohne ja nicht weit entfernt, in Sülldorf«, erklärt die 37-Jährige. »Und deshalb bin ich häufiger in dieser Gegend unterwegs, zum Joggen, Spazierengehen oder wenn ich eine Tour mit dem Mountainbike mache. Die Landschaft bietet so viele Möglichkeiten zum Abschalten - für den Körper und für die Seele. Im Moment kann von Entspannung allerdings keine Rede sein!« Sie streicht sich ungeduldig eine Strähne ihrer schwarzbraunen Haare aus dem Gesicht. »Noch wenige Minuten Fahrt, und wir müssten am Ziel sein.«
Dort, wo das Moor zwei Tote freigegeben hat.
Über lange Zeit waren die Leichname verborgen gewesen vor den Augen der Welt. Welche Geheimnisse haben die Verstorbenen mit in ihr nasses Grab genommen? Hat die Hamburger Polizei einen neuen Kriminalfall?
»Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es für uns ein sehr langer Abend wird.« Plathe blickt auf seine Uhr und denkt an das Glas Rotwein, das er zum Ausklang des Tages hatte trinken wollen. Daraus würde nichts werden. Denn der Tod kennt keinen Feierabend.
Gerade erst hat Emma Claasen mit Unterstützung von Kai Plathe, dem neuen Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, einen Serienmord aufklären und den Verbrecher dingfest machen können.
Doch das Böse ruht nicht. Es ändert nur seine Gestalt. Und wieder gibt es Opfer, die entsetzliches Leid erfahren, Menschen, die ihre Liebsten verlieren. Schmerz und Tod und Trauer. Manchmal erscheint Emma ihre Arbeit wie die Hydra. Aber dieser Eindruck lähmt sie nicht. Er spornt sie nur noch mehr an. Sie ist Kriminalbeamtin mit Leib und Seele. Sie will sich dem Unheil entgegenstellen. Ihr Ziel ist es, die Verantwortlichen zu fassen und sie ihrem gerechten Urteil zuzuführen.
Und dabei hat sie in Kai Plathe einen äußerst engagierten und fähigen Verbündeten, der sich vor allem als Anwalt der Opfer sieht.
Dass die Zeit eines jeden Menschen begrenzt ist, hat der Rechtsmediziner schon als kleiner Junge erfahren müssen, als seine geliebte Großmutter eines Tages nicht mehr da war. »Sie ist im Himmel und guckt uns aus den Wolken zu«, hat seine Mutter ihm seinerzeit versichert. Es dauerte einige Jahre, bis er es besser wusste. Dass sie nicht irgendwo bei den Engeln war, sondern tief im Erdreich vergraben.
Im Medizinstudium und mit seiner Facharztausbildung hat Plathe sich darauf spezialisiert, Antworten auf die Frage zu finden, die wohl jeden Hinterbliebenen umtreibt: Warum musste dieser Mensch sterben? Er geht dem Tod auf den Grund, will seine Methoden aufdecken und seine Geheimnisse entschlüsseln - und damit Erkenntnisse sammeln, die die Täter überführen und außerdem den Lebenden helfen.
»Zwei Moorleichen in einem kleinen See. So oder so wird eine schauerliche Geschichte dahinterstecken.« Kai Plathe spricht aus, was Emma gerade gedacht hat.
Die Kommissarin nickt zustimmend. »Spaziergängerinnen, die versehentlich vom Weg abgekommen und in den Sumpf geraten sind? Das wäre natürlich möglich. Das erinnert mich an einen Film, den ich irgendwann in grauer Vorzeit mal gesehen habe. In einer Szene kämpfen zwei Menschen verzweifelt gegen den Sog des Moores an und werden trotz aller Bemühungen immer weiter in die Tiefe hinabgezogen. Als Letztes sind ihre Gesichter zu sehen, in denen die Panik steht, und die Arme, die sich nach oben recken, im vergeblichen Versuch, irgendwo Halt zu finden.«
Emma schüttelt leicht den Kopf, um die verstörenden Bilder zu verscheuchen, und zieht dabei eine kleine Grimasse. Bei vielen Menschen würde das wohl unvorteilhaft wirken, bei ihr aber zeigt sich ihr Grübchen in der rechten Wange, und die großen teichgrünen Augen bekommen einen besonderen Glanz. Es sieht zauberhaft aus, findet Plathe. Er hütet sich allerdings, seine Gedanken auszusprechen. Zwar sind die Kommissarin und er mittlerweile über ihre konstruktive und harmonische Zusammenarbeit im vorangegangenen Fall beim vertrauten »Du« angekommen. Aber dies ist weder die Zeit noch der Ort für Komplimente.
An einer Weggabelung müssen sie ihr Fahrzeug stehen lassen. Ab hier geht es nur noch zu Fuß vorwärts. Emma und Plathe folgen den schmalen Lichtstreifen ihrer Taschenlampen, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, damit sie auf dem schneefeuchten Untergrund nicht ausgleiten.
»Da vorne ist es!« In der Ferne erspäht Emma ein helles Areal, dort, wo die Kollegen durch Generatoren angetriebene Flutlichter herbeigeschafft haben, um den Fundort der Moorleichen auszuleuchten. Plathe geht dicht hinter ihr. Etwa hundert Schritte entfernt erkennen beide mehrere Planen, die ein etwa 80 Quadratmeter großes Gebiet abgrenzen und dafür sorgen, dass die Ermittler ungestört arbeiten können. Eine Folie ist als Dach dieser behelfsmäßigen Hütte gespannt.
Der Wind rüttelt an den kunststoffbezogenen Abdeckungen wie zahllose ungeduldige Hände und entlockt den Planen ratternde Geräusche.
Die Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt lassen Emma Claasen frösteln. Obwohl sie ihre gefütterte Winterjacke trägt, dringt die feuchte Kälte durch ihre Kleidung und verursacht ihr Gänsehaut. Sie wirft einen Blick nach rechts zu dem kleinen Teich, in dem bis vor Kurzem die zwei Moorleichen verborgen waren.
Die Wasserfläche hat kaum die Größe eines Volleyballfeldes. Eine Eisschicht bedeckt wie eine hauchdünne Haut Teile der vom Weg abgewandten Seite des Sees. Es riecht nach nasser Erde. Am vorderen Ufer ist das Wasser trüb und der sandige Boden aufgewühlt. »Da sind Stiefelabdrücke.« Die Kommissarin deutet auf tiefe Spuren im Morast. »So tief, wie die sich in das Erdreich gegraben haben, sieht es nach wilden, überhasteten Schritten aus. Die stammen bestimmt von dem Mann, der hier abgerutscht ist.«
Emma leuchtet mit ihrer Taschenlampe auf weitere Abschnitte des Bodens, an denen welkes Gras zertrampelt worden ist, und anschließend auf ein Gestrüpp, an dem mehrere Zweige abgebrochen sind. »Dort hat er offensichtlich versucht, sich festzuhalten.« Einer der Polizisten, der beim Absperren des Fundortes geholfen hat, kommt auf Claasen und Plathe zu. Emma ist ihm schon mal bei einer früheren Ermittlung begegnet. Sie erinnert sich, dass er Sönke Hansen heißt.
»Der Mann, der uns alarmiert hat, ist ein gewisser Jonas Spanker. Ein Hobby-Ornithologe aus Hamburg, der zufällig die Leichen gefunden hat«, berichtet Hansen. »Wir mussten ihn nach Hause schicken, haben aber seine Personalien. Er war vollkommen durchnässt. Und außerdem komplett durch den Wind.«
»Das wundert mich nicht.« Plathe nickt nachdenklich. Er will dringend die Moorleichen in Augenschein nehmen. Aber zuvor sollte er besser zusammen mit Emma noch mehr über die Umstände erfahren, wie...
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