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Kaum daß der Himmel im ersten Morgenlicht erstrahlte, wandte sich Gustad Noble nach Osten, um Ahura Mazda seine Gebete darzubringen. Es ging auf sechs zu, oben im einzigen Baum des Hofes begannen die Spatzen zu rufen. Jeden Morgen, während er seine Kusti-Gebete sprach, lauschte Gustad ihrem Zwitschern. Es hatte etwas Beruhigendes an sich. Die Spatzen waren immer die ersten. Das Krächzen der Krähen kam später.
Ein paar Wohnungen weiter knabberte das metallische Geklapper von Töpfen und Schüsseln an den Rändern der Stille. Der bhaiya hockte neben der großen Aluminiumkanne und verteilte Milch an die Hausfrauen. Sein kleines Maß mit dem langen Hakengriff tauchte in den Behälter ein und wieder heraus, hinein und heraus, flink, ohne kaum einen Tropfen zu verschütten. Wenn eine Kundin bedient war, hängte er den Schöpfer in die Milchkanne, zog seinen dhoti zurecht und rieb sich die bloßen Knie, während er auf seine Bezahlung wartete. Schuppen trockener Haut rieselten von seinen Fingern herab. Die Frauen erbleichten vor Ekel, doch die ruhige Stunde und das frühe Licht erhielten den Frieden.
Gustad Noble schob sich die Gebetsmütze aus der breiten Stirn mit ihren vielen Falten, bis sie ihm bequem auf dem weißgrauen Kopfhaar saß. Der schwarze Samt bildete einen starken Gegensatz zu seinen aschgrauen Koteletten, doch sein dichter, gepflegter Schnurrbart war genauso schwarz und samtig. Großgewachsen und breitschultrig wie er war, wurde Gustad, wenn von Gesundheit oder Krankheit die Rede war, von Freunden und Verwandten stets bewundert. Für einen Mann, der auf der Flut seines fünften Lebensjahrzehnts schwamm, meinten sie, sah er noch so kräftig und rüstig aus. Besonders für jemand, der erst vor wenigen Jahren einen schweren Unfall erlitten hatte. Und selbst das hatte ihm nichts Ernsteres als ein leichtes Hinken beschert. Seine Frau haßte solches Gerede. Dreimal auf Holz geklopft, dachte dann Dilnavaz und sah sich nach einem geeigneten Tisch oder Stuhl um, um heimlich dagegenzuklopfen. Doch Gustad machte es nichts aus, ihr von dem Unfall zu erzählen, von dem Tag, an dem er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um seinen Ältesten zu retten.
Über dem geschäftigen Geklapper des Milchbehälters hörte er ein Kreischen: «Muà, du Dieb! Der Polizei sollten wir dich übergeben! Wenn sie dir die Arme brechen, werden wir ja sehen, wie du Wasser beimischst!» Die Stimme gehörte Miss Kutpitia, und der Friede der Morgendämmerung machte widerstrebend einem neuen hektischen Tag Platz.
Miss Kutpitias Drohungen waren wenig überzeugend. Obwohl sie selbst ihre Milch nie vom bhaiya kaufte, war sie der festen Überzeugung, daß sie ihn dadurch, daß sie regelmäßig über ihn herzog, in Trab hielt und dies auch im Interesse der andern sei. Irgend jemand mußte diesem Halunken doch klarmachen, daß die Leute, die hier im Khodadad-Gebäude wohnten, keine Dummköpfe waren. Sie war eine verhutzelte Siebzigjährige und ging selten außer Haus, weil, wie sie sagte, ihre Knochen täglich steifer wurden.
Doch wegen ihres über die Jahre erworbenen Rufs, gemein, griesgrämig und beleidigend zu sein, gab es nicht viele im Gebäude, denen sie von ihren Knochen oder überhaupt von sonst irgendwas erzählen konnte. Für die Kinder war Miss Kutpitia die allgegenwärtige Hexe, die direkt den Märchen entstiegen war, die sie immer erzählt bekamen. «Flüchtet vor der daaken! Flüchtet vor der daaken!» schreiend, rannten sie an ihrer Tür vorbei, wobei ihre Angst genauso groß war wie das Vergnügen, wenn die Alte sich dazu hinreißen ließ, zu schimpfen und zu fluchen und ihnen mit der Faust zu drohen. Steife Knochen oder nicht, wenn sich in der Außenwelt etwas ereignete, das sie beobachten wollte, konnte sie sich mit erstaunlicher Schnelligkeit bewegen. Dann sah man sie zwischen Fenster, Balkon und Treppe hin und her flitzen.
Der bhaiya war es gewohnt, diese gesichtslose Stimme zu hören. An die Adresse seiner Kundinnen gerichtet, murmelte er: «Als ob ich die Milch mache. Kuh macht das. Der malik sagt, geh und verkauf die Milch, und was anderes mach ich nicht. Was hat man davon, einen armen Mann wie mich so zu schikanieren?»
Im unentschlossenen frühen Licht verwandelten sich die resignierten und müden Gesichter der Frauen flüchtig in Antlitze sanfter Würde. Sie hatten es eilig, die blasse, verwässerte weiße Flüssigkeit zu erstehen und zu ihrer Hausarbeit zurückzukehren. Auch Dilnavaz wartete, in einer Hand die Aluminiumschüssel, das Geld in der andern. Sie war eine zierliche Frau, ihre dunkelbraunen Haare hatte sie sich vor acht Jahren zur ersten Geburtstagsfeier ihrer Tochter Roshan zu einem Bubikopf schneiden lassen und trug sie immer noch so. Sie war sich unsicher, ob ihr die Frisur immer noch stand, obwohl Gustad ihr das energisch bestätigte. Sie hatte sich noch nie auf seinen Geschmack verlassen können. Als der Minirock in Mode kam, hatte sie nur zum Jux ihr Kleid hochgerafft und war durchs Zimmer stolziert, was die kleine Roshan zum Lachen brachte. Aber er fand, sie sollte es sich ernsthaft überlegen - «Stell dir vor, eine vierundvierzigjährige Frau im Minirock.» «Mode ist was für junge Leute», hatte sie etwas verunsichert erwidert. Dann begann er mit seiner tiefen Stimme diesen Song von Nat King Cole zu singen:
You will never grow old,
While there's love in your heart,
Time may silver your dark brown hair,
As you dream in an old rocking chair .
Sie fand es immer wunderbar, wenn Gustad die Worte umänderte und bei der dritten Zeile ein breites Lächeln auf seinem Gesicht erschien.
In der Schüssel, die sie in der Hand hielt, waren noch Spuren der gestrigen Milch. Die letzten Tropfen hatten Gustad und sie gerade eben noch für ihren Tee verwendet, und sie hatte keine Zeit mehr gehabt, die Schüssel auszuspülen. Es wäre genug Zeit gewesen, fand sie, wenn sie nicht so lange sitzen geblieben wäre, um sich von Gustad aus der Zeitung vorlesen zu lassen. Und wenn sie sich vorher nicht so lange über ihren Ältesten unterhalten hätten, und darüber, daß er bald am Indian Institute of Technology studieren würde. «Sohrab wird sich einen Namen machen, wart's nur ab», hatte Gustad mit berechtigtem väterlichem Stolz gemeint. «Endlich werden sich unsere Opfer bezahlt machen.» Was an diesem Morgen nur über sie gekommen war, vermochte sie nicht zu sagen. So plaudernd herumzusitzen und ihre Zeit zu vergeuden. Aber andererseits kam nicht jeden Tag eine so gute Nachricht für ihren Sohn.
Als einige Frauen gingen, rückte Dilnavaz wieder ein Stück auf. Sie war bald an der Reihe. Wie alle andern warteten die Nobles schon ewig auf eine Milch-Lebensmittelkarte von der Behörde. In der Zwischenzeit mußte sie beim bhaiya kaufen, über dessen dünnes, kurzes Haarschwänzchen, das aus der Mitte eines ansonsten völlig kahlgeschorenen Schädels herauswuchs, sie immer wieder schmunzeln mußte. Sie wußte, daß es in irgendeiner Hindu-Kaste Brauch war, mußte dabei aber immer an einen grauen Rattenschwanz denken. An den Morgen, an denen er seinen Schädel einölte, glänzte der Schwanz.
Sie erstand seine Milch und erinnerte sich dabei an die Zeiten, als Lebensmittelkarten nur für Arme oder Diener bestimmt waren, die Zeiten, als sie und Gustad es sich noch leisten konnten, das feine, cremige Erzeugnis von der Parsi Dairy Farm zu kaufen (für Miss Kutpitia immer noch erschwinglich), bevor die Preise stiegen, immer weiter und weiter, und nie wieder fielen. Wenn doch Miss Kutpitia bloß aufhören würde, den bhaiya anzubrüllen. Es bewirkte nichts, außer daß sich seine Feindseligkeit ihnen allen gegenüber nur noch verstärkte. Weiß der Himmel, was er mit der Milch noch alles anstellte - diese Armen in den Slumhütten in und um Bombay sahen einen sowieso manchmal so an, als wollten sie einen aus den eigenen vier Wänden hinauswerfen und selber mit ihren Familien einziehen.
Sie wußte, daß Miss Kutpitia es eigentlich gut meinte, trotz der bizarren Geschichten über die Alte, die seit Jahren im Gebäude im Umlauf waren. Gustad wollte mit Miss Kutpitia so wenig wie möglich zu tun haben. Er sagte, ihr verrückter Blödsinn könnte sogar ein gesundes Gehirn zum endgültigen Salto treiben. Dilnavaz war vielleicht die einzige Freundin, die Miss Kutpitia hatte. Dadurch, daß sie als Kind zu unbedingter Achtung gegenüber Älteren erzogen wurde, fiel es ihr leicht, Miss Kutpitias Eigenheiten zu akzeptieren. Sie fand an ihnen nichts Abstoßendes oder Ärgerliches - manchmal belustigend, manchmal ermüdend, ja. Aber nie beleidigend. Im Grunde wollte Miss Kutpitia einem nur mit Rat und Tat zur Seite stehen, wenn es um Dinge ging, die sich nicht mittels der Gesetze der Natur erklären ließen. Sie behauptete, sie wisse über Hexerei und Zauberei Bescheid, wie man einen Bann verhänge und wieder löse; über Magie, Schwarze und Weiße; über Omen und Wahrsagungen; über Träume und ihre Deutungen. Am allerwichtigsten war, Miss Kutpitia zufolge, die Fähigkeit, den hinter einfachen Ereignissen und zufälligen Begebenheiten verborgenen Sinn zu verstehen, und ihre abstruse, skurrile Phantasie konnte manchmal recht erheiternd sein.
Dilnavaz achtete darauf, sie nie unnötig zu ermutigen. Aber sie erkannte, daß in Miss Kutpitias Alter ein geduldiges Ohr wichtiger war als alles andere. Und außerdem, gab es denn irgend jemand auf der Welt, dem es gelegentlich nicht schwergefallen ist, die Existenz übernatürlicher Kräfte völlig auszuschließen?
Das Geklapper und Geschnatter um den Milchmann herum kam Gustad Noble sehr fern vor, während...
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