Schweitzer Fachinformationen
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Ein Sonnenfleck hatte sich am Fuß von Narimans Bett niedergelassen, als er von seinem Nachmittagsschläfchen aufwachte und auf die Uhr sah. Es war beinahe sechs. Er sah hinunter zu der Stelle, wo der warme Fleck seine knorrigen Zehen lockend eingefangen hatte. Sie streckten sich in der wohltuenden Sonne. Die Augen fielen ihm wieder zu.
Allmählich wanderte der Fetzen Sonnenschein von seinen Füßen fort, und er spürte einen vagen Stich des Verlassenwerdens. Er sah wieder auf die Uhr: schon nach sechs. Mit einiger Mühe erhob er sich, um sich für seinen Abendspaziergang bereit zu machen. Während er sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und gurgelte, hörte er über dem Geräusch des Wasserhahns seinen Stiefsohn und seine Stieftochter.
»Bitte geh nicht, Pappa, wir flehen dich an«, sagte Jal durch die Tür, zog dann eine Grimasse und stellte sein Hörgerät ein, denn die Worte hatten ihm ohrenbetäubend im Schädel gehallt. Das Gerät war ein altmodisches Modell, ein Metallbehälter von der Größe einer Streichholzschachtel, der an seiner Brusttasche befestigt und mit dem Ohrstück verbunden war. Jal hatte es vor vier Jahren, als er fünfundvierzig wurde, widerwillig gekauft, aber er hatte sich immer noch nicht an seine Launen gewöhnt.
»So, so ist schon besser«, murmelte er. Dann rief er wieder: »Nun, Pappa, ist das zu viel verlangt? Bitte bleib zu Hause. Es ist nur zu deinem eigenen Besten.«
»Wieso hast du die Tür zugemacht und lässt uns hier so schreien?«, fragte Coomy. »Mach einfach auf, Jal.«
Coomy, um zwei Jahre jünger als ihr Bruder, schlug einen schärferen Ton an als Jal, und während er eher der Friedensstifter war, gab sie sich gern streitlustig. Sie war ebenso dünn wie er, doch mit breiterem Kreuz. Ohne irgendwelche Rundungen, die die harten Linien und Kanten abmildern konnten, war sie ihrer Mutter nachgeraten. Früher, als sie noch ein Mädchen war, betrachteten Verwandte sie oft und bemerkten traurig, dass die Liebe eines Vaters Sonnenschein und frisches Wasser sei, ohne die eine Tochter nicht erblühen könne. Ein Stiefvater, so sagten sie, sei in dieser Hinsicht völlig nutzlos. Einmal waren sie so unvorsichtig, in ihrer Hörweite darüber zu reden. Die Worte hatten sich schmerzhaft in die Seele gebohrt, und sie war in ihr Zimmer geflüchtet, um ihren toten Vater zu beweinen.
Jal drückte gegen die Badezimmertür. Sie war abgeschlossen. Er kratzte sich in seinem dichten gewellten Haar, bevor er sachte anklopfte. Keine Reaktion.
Coomy übernahm die Regie. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du die Tür nicht abschließen sollst! Wenn du da drinnen stürzt oder ohnmächtig wirst, wie sollen wir dich dann da rauskriegen? Halt dich an die Regeln!«
Nariman spülte die Seife von den Händen und griff nach dem Handtuch. Er fand, Coomy hatte ihren Beruf verfehlt. Sie hätte Schuldirektorin werden sollen. Dann hätte sie ihren armen Schülerinnen mit Dutzenden von Regeln und Vorschriften das Leben schwer machen können. Stattdessen war sie jetzt hier und plagte ihn mit Vorschriften, die jeden Bereich seines zusammengeschrumpften Lebens bestimmten.
Neben dem Verbot gegen abgeschlossene Türen war er verpflichtet, Bescheid zu sagen, wenn er auf die Toilette wollte. Morgens durfte er das Bett erst dann verlassen, wenn sie ihn holen kam. Ein Bad war nur zweimal die Woche möglich, und dann übernahm sie die Choreographie, während Jal die Rolle des Regieassistenten zugewiesen wurde, der sich in Bereitschaft zu halten und Narimans Sicherheit zu gewährleisten hatte. Es gab weitere Vorschriften, die seine Mahlzeiten, seine Kleidung, sein Gebiss und den Gebrauch der Musiktruhe betrafen, und in Momenten von Großzügigkeit nahm Nariman das hin, was die beiden unermüdlich wiederholten: dass es nur zu seinem eigenen Besten sei.
Er trocknete sich in aller Ruhe das Gesicht ab, während Coomy gegen die Tür hämmerte und am Türknopf rüttelte. »Pappa, ist alles in Ordnung? Hörst du mich? Wenn das so weitergeht, werde ich einen Schlosser kommen und sämtliche Schlösser entfernen lassen!«
Seine zitternden Hände brauchten eine Weile, um das Handtuch wieder über die Stange zu legen. Er machte die Tür auf. »Hallo, wartet ihr auf mich?«
»Du machst mich noch wahnsinnig!«, sagte Coomy. »Ich kriege Herzrasen und mach mir Sorgen, ob du zusammengebrochen bist oder dir sonst irgendwas passiert ist!«
»Lass, Pappa geht's gut«, sagte Jal besänftigend. »Das ist die Hauptsache.«
Nariman trat lächelnd aus dem Badezimmer und zog seine Hose hoch. Der Gürtel brauchte länger, die zitternden Finger verfehlten immer wieder den Schnallenzapfen. Er folgte der sanften Schräge des Sonnenlichts vom Bett zum Fenster, erfreute sich an den Staubteilchen in ihren undurchschaubaren Umlaufbahnen. Der Verkehrslärm hatte mit seinem abendlichen Angriff auf das Viertel begonnen. Er fragte sich, warum er sich nicht mehr daran störte.
»Lass das Träumen, Pappa, und hör auf das, was wir dir sagen«, sagte Coomy.
Nariman meinte, er könne den labenden Duft von Erde nach einem Regen riechen. Er konnte ihn beinahe schmecken. Er sah hinaus. Ja, Wasser tropfte auf den Bürgersteig. In einem senkrechten Tröpfeln. Also doch kein Regen, nur die Blumenkästen der Nachbarin.
»Selbst für mich mit meinen gesunden Beinen ist das Herumlaufen gefährlich, Pappa«, sagte Jal und setzte damit das tägliche Theater um den Ausgang seines Stiefvaters fort. »Da draußen gibt es nur eine Gewissheit - Gesetzlosigkeit. Man findet in den Straßen Bombays eher einen Klumpen Gold als auch nur einen Tola Höflichkeit. Es ist mir schleierhaft, wie dir das Spazierengehen Vergnügen machen kann.«
Socken. Nariman beschloss, dass er Socken brauchte, und ging zum Kleiderschrank. Während er in der flachen Schublade nach einem Paar suchte, murmelte er dort hinein: »Es stimmt, was du sagst, Jal. Doch die Quellen des Vergnügens sind zahlreich. Gräben, Schlaglöcher und Verkehr können nicht alle Freuden des Lebens auslöschen.« Seine Hand mit ihrem Vogelflügelzittern suchte weiter. Schließlich gab er auf und schob seine nackten Füße in die Schuhe.
»Schuhe ohne Socken? Wie ein Pathane?«, sagte Coomy. »Und sieh nur, wie deine Hände zittern. Du kannst dir nicht einmal die Schnürsenkel zubinden.«
»Stimmt, du könntest mir ja helfen.«
»Gerne - wenn es irgendwie was Wichtiges gäbe, wo du hinmusst, zum Arzt oder zum Feuertempel, um für Mamma zu beten. Aber ich werde törichtes Verhalten nicht auch noch unterstützen. Wie viele Menschen mit Parkinson machen das, was du machst?«
»Ich gehe doch nicht auf eine Treckingtour durch Nepal. Ein kleiner Spaziergang die Straße hinunter, weiter nichts.«
Coomy gab nach, kniete sich vor den Füßen ihres Stiefvaters nieder und band ihm die Schnürsenkel zu, so wie sie es jeden Abend machte. »Wir haben Anfang August, der Monsun tobt, und du willst einen kleinen Spaziergang machen!«
Er ging zum Fenster und deutete auf den Himmel. »Guck, es hat aufgehört zu regnen.«
»Ein dickköpfiges Kind, das bist du«, beschwerte sie sich. »Solltest auch wie ein Kind bestraft werden. Bei Ungehorsam kein Abendessen, ha?«
Bei ihren Kochkünsten wäre das eine Belohnung, keine Strafe, dachte er.
»Hast du gehört, was er gesagt hat, Jal? Je älter er wird, desto beleidigender ist er!«
Nariman begriff, dass er es laut ausgesprochen hatte. »Ich muss zugeben, Jal, deine Schwester macht mir Angst. Sie kann sogar meine Gedanken hören.«
Jal hörte nur einen Geräuschesalat, dank seines Hörgeräts, das Coomys laute Stimme verstärkte, während es das Gemurmel seines Stiefvaters unterdrückte. Während er den Lautstärkeregler justierte, hob er den rechten Zeigefinger wie ein Schiedsrichter beim Kricket, der dem Schlagmann ein Aus anzeigte, und kehrte zu dem letzten Thema zurück, das seine Ohren aufgeschnappt hatten.
»Ich bin ganz deiner Meinung, Pappa, die Quellen des Vergnügens sind zahlreich. In unserem Geist gibt es so viele Welten, dass sie uns bis in alle Ewigkeit Vergnügen bescheren können. Außerdem hast du noch deine Bücher und deinen Schallplattenspieler und das Radio. Weshalb die Wohnung überhaupt verlassen? Es ist wie im Himmel hier. Dieses Gebäude heißt nicht von ungefähr Chateau Felicity. Ich würde die Hölle der Welt da draußen einfach aussperren und meine sämtliche Zeit drinnen verbringen.«
»Das könntest du nicht«, erwiderte Nariman. »Die Hölle hat ihre eigenen Wege, die Membran des Himmels zu durchdringen.« Er begann, leise >Heaven, I'm in heaven< zu summen, was Coomy nur noch mehr verärgerte. Er hörte auf. »Denk doch nur mal an die Unruhen in der Babri-Moschee.«
»Du hast Recht«, räumte Jal ein. »Manchmal sickert die Hölle wirklich durch.«
»Findest du sein albernes Beispiel etwa gut?«, fragte Coomy entrüstet. »Die Unruhen waren draußen auf den Straßen, nicht drinnen!«
»Ich glaube, Pappa meint das alte Parsi-Ehepaar, das in seinem Schlafzimmer starb.«
»Du erinnerst dich doch daran, Coomy, oder?«, fragte Nariman. »An die Goondas, die annahmen, dass sich Moslems in der Dalal-Siedlung verbargen, und deswegen Feuer gelegt haben?«
»Ja, ja, meine Erinnerung ist besser als deine. Und das war ein Zufall, reines Pech. Wie oft passiert es schon, dass wegen einer Moschee in Ayodhya Menschen in Bombay zu Barbaren werden? Alle Jubeljahre einmal.«
»Stimmt«, sagte Nariman. »Die Chancen stehen gut für uns.«
»Erst letzte Woche wurde in Firozsha Baag eine alte Dame überfallen und beraubt«, sagte Jal. »In ihrer eigenen Wohnung. Die Ärmste liegt jetzt im Parsi General, und ihr Leben hängt nur noch an einem seidenen...
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