Schweitzer Fachinformationen
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»Deine Frau ist mir gefolgt.«
»Meine Frau.«
»Bis hierher.« Sofia sah ihn an: »Professore?«
Er warf einen Blick auf die Tür des Seminarraums.
»Sie ist im Hof, glaube ich.«
Carlo Pentecoste trat ans Fenster und erkannte Margheritas amarantroten Mantel, den sie seit dem zweiten warmen Frühlingstag trug. Sie saß auf einem Mäuerchen und las in einem Buch, immer noch Némirovksy, mit übereinandergeschlagenen Beinen, die freie Hand wachte über den Rucksack. Es war Ende März, und durch Mailand zog ein unerwarteter Nebel.
Carlo drehte sich wieder zu seinen Studenten um. Sofia hatte sich in die zweite Reihe gesetzt, ihren Block und die Mandeln ausgepackt. Sie wirkte jünger als zweiundzwanzig, mit ihrem zierlichen Gesicht und den grazilen Bewegungen, weswegen ihre Hüften umso mehr verwunderten. Sie sah ihn mit der gleichen Besorgnis an wie zwei Monate zuvor, als beide beim Rektor einbestellt waren, weil eine Studentin aus dem ersten Semester sie in der Toilette im Erdgeschoss überrascht hatte: er über ihr, seine Hände zärtlich an ihrem Hals oder so ähnlich, die Studentin hatte erst die eine Version erzählt, dann eine andere, dann unzählige, die am Ende alle das Gerücht erhärteten, dass es zwischen Professor Pentecoste und einer seiner Studentinnen zu einer uneindeutigen Annäherung gekommen war.
Statt mit dem Seminar zu beginnen, warf er sich die Jacke über und verließ den Raum, lief die Treppe hinunter, wurde in der Halle langsamer und sah zu den Toiletten hinüber. Damals war er mit einem Kollegen an den Ort des Geschehens zurückgekehrt, um die Sache zu klären, und später noch einmal mit dem Rektor. Für beide hatte er eine Re-Inszenierung dessen aufgeführt, was er »das Missverständnis« nannte: wie er die Herrentoilette betrat, pinkelte, in den gemeinsamen Vorraum ging, sich Hände und Gesicht wusch und abtrocknete, wie er dann einen dumpfen Laut aus der Damentoilette hörte, merkte, dass eine Tür nur angelehnt war und dahinter halb ohnmächtig - was genau meinte er mit »halb«? - seine Studentin Sofia Casadei fand. Wie er sich über sie beugte, sie mehrmals mit Namen ansprach, ihr half, sich aufzurichten und aufzustehen - dem Rektor hatte er vorgemacht, wie -, bis sie von ihm gestützt etwas wackelig in der Kabinenecke lehnte. Das Ganze hatte kaum ein paar Minuten gedauert, dann hatte sich die junge Frau erholt und sich - von ihm begleitet - das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen: Die andere Studentin war ihm gar nicht aufgefallen.
Er blieb kurz stehen und sah auf sein Telefon: Margherita hatte sich nicht angekündigt. Dann trat er in den Hof hinaus, wo seine Frau auf dem Mäuerchen saß und las.
»Dein Mantel ist einfach unverkennbar«, sagte er und wies auf das Fenster des Seminarraums.
»Ich lasse die Sehne ein bisschen ausruhen. Ich wollte gleich hochkommen.« Sie klappte das Buch zu und stand auf. »Das hast du vergessen«, sie reichte ihm ein Sprühfläschchen.
»Du bist wegen eines Asthmasprays hier.«
»Dein Anfall letzte Woche hat mir gereicht.«
»Du sollst doch das Bein schonen.«
»Ich bin mit der U-Bahn gekommen.« Sie richtete ihm den Mantelkragen. »Ich an deiner Stelle würde das Seminar heute draußen abhalten, der Nebel hat seinen ganz eigenen Reiz.«
»Das würde sie nur ablenken.« Er legte ihr die Hand auf den Rücken wie an dem Abend, als sie sich bei einer Essenseinladung seiner Schwester kennengelernt hatten. Die Mulde in Höhe der Lendenwirbel hatte ihn schon damals den trainierten Körper erahnen lassen. »Kommst du mit hoch? Ich muss anfangen.«
Margherita liebte seine Hände, die nicht die eines Lehrers waren. Sie ließ sich mit dem Rucksack helfen und begleitete ihn zum Eingang.
»Du bist wirklich nur gekommen, um.«
»Ich bin gekommen, weil ich gekommen bin.« Sie deutete auf die Uhr, er musste sich beeilen, mit einem Lächeln wandte er sich ab.
Als er über die Treppe verschwunden war, ließ Margherita sich an die Glastür sinken und sah zu Boden. Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, mit ihm in den Kurs zu gehen? Warum hatte sie nicht den Schneid, wie ihre Mutter immer sagte, über die Schwelle der Uni zu treten und genau die Toilette anzusteuern? Und warum zitterte sie jetzt? Langsam entfernte sie sich, sie wollte stehenbleiben, zwang sich aber zum Weitergehen, durchquerte das Tor und knöpfte auf der Straße den Mantel zu. Sie verharrte und schloss die Augen, suchte innerlich nach Halt gegen die aufsteigende Traurigkeit: Sie dachte an die kommenden fünfzig Minuten, die aus ihr eine andere machen würden. Eine andere, verführbare Margherita. Der Eintrag in ihrem Terminkalender lautete Physiotherapie, und das hieß auch Abenteuer. Sie spürte das und wappnete sich mit diesem Gefühl gegen die Unsicherheit, während sie das Universitätsgebäude hinter sich ließ und zum Taxistand ging. Ihr Bein schmerzte schon seit dem Morgen. Der Schmerz ging vom Schambein aus und strahlte bis ins Knie, zum ersten Mal war er drei Monate zuvor nach einer Übung auf dem Laufband im Fitnessstudio aufgetreten. Seitdem kreisten ihre Gedanken immer wieder um Kleinigkeiten, die sie traurig machten: die hohen Schuhe, die sie durch Sneaker ersetzt hatte, der Verzicht auf Wohnungsbesichtigungen in Gebäuden ohne Aufzug oder die Unfähigkeit, einem Kind hinterherlaufen zu können.
Sie zog das Telefon hervor und sah eine Nachricht der Eigentümerin der Wohnung am Corso Concordia: Liebe Margherita, ich habe unterschrieben. Jetzt sind Sie dran, und eine zweite von ihrem Mitarbeiter: Die Wohnungsschlüssel lagen in der Agentur bereit, um die Immobilie zum Verkauf anzubieten. Außerdem ein entgangener Anruf von ihrer Mutter. Sie ignorierte ihn und hielt das Telefon in der Hand, widerstand dem Impuls, auf Facebook zu gehen. Immer wenn sie sich Sofia Casadeis Profil ansah, kam sie auf komische Ideen, das Café, wo sie jobbte, die Bar, in der sie morgens frühstückte, ihr Wohnviertel, überlegte, sich irgendwie ihrem Umfeld anzunähern. Sie erreichte den Taxistand, nannte die Adresse des FisioLab, Via Cappuccini 6, ließ sich in den Sitz sinken und schloss die Augen. Der Taxifahrer fragte, ob er einen Umweg fahren solle wegen der Bauarbeiten auf dem inneren Ring, sie willigte ein und dachte an nichts mehr. Vor dem Fenster trieb Mailand vorbei, das Hin und Her der Passanten auf den Bürgersteigen und die Portiers vor den herrschaftlichen Häusern. Ihre Mutter fiel ihr wieder ein, und sie wählte die Nummer. Beim ersten Klingeln wurde abgehoben: »Mama.«
»Ich wollte gerade den Klempner anrufen.«
»Was ist denn passiert?«
»Das«, sie holte tief Luft, »die Scheißtherme.«
»Na, jetzt aber!«
»Ich habe immer gerne so geredet, nur dein Vater war der Ansicht, dass der Mund einer Frau schön rein bleiben muss.« Sie verstummte. »Jedenfalls wollte ich dich fragen, wie es mit der Wohnung am Corso Concordia steht.«
»Sie haben mir im Moment zugesagt.«
»Und wie gefällt sie dir?«
»Sie hat keinen Aufzug, ist aber trotzdem interessant. Ich werde Carlo vorbeischicken, bevor ich sie in der Agentur anbiete.«
»Und dein Bein?«
»Was würdest du tun, wenn du einen Verdacht hast?«
»Du hast Schmerzen, ich wusste es.«
»Was würdest du tun?«
»Verdacht welcher Art?«
»Einen Verdacht eben.«
»Ein Verdacht ist ein Beweis.«
»Mama, das ist keine Gerichtsshow hier.«
»So ist das Leben, mein Schatz.« Sie zögerte: »Willst du mir nicht sagen, worauf du hinauswillst?«
»Ich bin da, ich muss Schluss machen.«
»Meine liebe Tochter«, sie räusperte sich, »bei deinem Termin morgen kannst du dir Klarheit über jedweden Verdacht verschaffen.«
»Oh Gott!«
Die Mutter seufzte. »Du willst seit Monaten dahin, und es war eine Heidenarbeit für mich, den Termin zu bekommen: halb elf, Via Vigevano 18, Klingel F.«
»Sag mir bitte noch mal, warum genau ich zugestimmt habe.«
»Weil Dino Buzzati immer dorthin gegangen ist. Schreib es dir auf die Hand.«
»Und du denk an den Geburtstag meiner Schwiegermutter.«
»Ich geh da nicht hin.«
»Und ob du das tust.«
»Sicher nicht. Schau du lieber hin und wieder bei deiner Mutter vorbei, aber natürlich nur, wenn du Lust hast.«
Nachdem Margheritas Mutter ihren Mann beerdigt hatte, war sie drei Tage und Nächte lang wachgeblieben und nicht einen Moment von dem Sessel aufgestanden, in dem er sonntagmorgens immer die Zeitung gelesen hatte. Schließlich hatte sie gesagt: Für wen soll ich denn jetzt kochen?, und wollte eine Weile nicht mehr über den Mann reden, der sie an Alltagsrituale, Flohmärkte und Tex-Willer-Comics gewöhnt und ihnen beigebracht hatte, wie man Haltung bewahrte. Er war ein schweigsamer Mann gewesen, und um den Schmerz des Abschieds nicht so zu spüren, hatten sie und ihre Mutter ein Hintergrundrauschen installiert. Sie telefonierten, zankten, echauffierten sich.
Vor dem FisioLab zahlte sie und stieg aus. Ihr war ganz warm, aus Vorfreude, wie sie wusste. Sie schaute in ihrem Rucksack nach, ob sie Badeanzug, Duschgel, Handtuch und Kamm dabeihatte. Dann meldete sie sich beim Empfangstresen, ging in die Umkleidekabine, zog unter die Shorts den Badeanzug - den sie sich extra gekauft hatte, nachdem sie begriffen hatte, um welche Art von Therapie es sich handelte -, band die Haare zusammen, ergriff Telefon und Kopfhörer und verließ die Umkleide mit der Befürchtung, die Kosmetikerin könnte nicht sauber gearbeitet haben. Sie nahm die Wasserflasche, die...
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