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Ich möchte, dass alle Amerikaner werden.
THOMAS FRIEDMAN
Irgendwann einmal müsste man die Geschichte unserer eigenen Obskuranz, die Zähigkeit unseres Narzißmus ans Licht bringen.
ROLAND BARTHES
Die Essays in diesem Buch entstanden als Reaktion auf die angloamerikanischen Verirrungen, die im Brexit und der Wahl Donald Trumps gipfelten. Diese Verirrungen umfassten etwa den vom Economist im 19. Jahrhundert lange unterstützten Traum des imperialistisch gesinnten Liberalismus oder Henry Luces Proklamation eines vom »Freihandel« geprägten »amerikanischen Jahrhunderts«. Ebenso gehören dazu die »Modernisierungstheorie« - der Versuch amerikanischer Kalter Krieger, die postkoloniale Welt von einer kommunistischen Revolution abzuhalten und für die auf schrittweise Entwicklung gerichtete Alternative des Konsumkapitalismus und der Demokratie zu gewinnen - wie auch die katastrophalen humanitären Kriege und die demagogischen Eruptionen unserer Zeit.
»Zu den kleineren Bösewichtern der Geschichte«, schrieb Reinhold Niebuhr 1957, »gehören die freundlichen Fanatiker der westlichen Zivilisation, die die doch so sehr bedingten Leistungen unserer Kultur für die endgültige Form und Norm der menschlichen Existenz halten.« Für Niebuhr waren die größeren Bösewichter natürlich Kommunisten und Faschisten. Als überzeugter Antikommunist war der US-amerikanische Theologe anfällig für Ausdrücke wie »die moralische Überlegenheit der westlichen Zivilisation«. Dennoch sah er den seltsamen Weg, den der Liberalismus genommen hatte: »Ein Dogma, das die wirtschaftliche Freiheit des Individuums gewährleisten sollte, wurde in einer späteren Periode des Kapitalismus die >Ideologie< großer, körperschaftlicher Strukturen, die es nutzten und immer noch nutzen, um eine echte Kontrolle ihrer Macht zu verhindern.« Er beobachtete auch aufmerksam das fundamentalistische Credo, das unser Zeitalter prägte - Kapitalismus und liberale Demokratie westlicher Prägung würden sich nach und nach in der ganzen Welt ausbreiten, und alle Gesellschaften sollten sich, kurz zusammengefasst, in derselben Weise entwickeln wie Großbritannien und die Vereinigten Staaten.
Natürlich konnte Niebuhr nicht voraussehen, dass die freundlichen Fanatiker, die den Kalten Krieg so heimtückisch machten, an dessen Ende die Weltbühne beherrschen würden. In Gestalt liberaler Internationalisten, neokonservativer Verfechter der Demokratie und Apologeten freier globalisierter Märkte sollten sie durch eine inzwischen komplexere und widerspenstigere Welt stolpern und dazu beitragen, dass weite Teile Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aus den Fugen gerieten, bevor sie in ihren eigenen Gesellschaften politisches Chaos anrichteten.
Die Weltgeschichte der Ideologien des Liberalismus und der Demokratie nach 1945 wie auch eine umfassende Soziologie der angloamerikanischen und anglophilen oder amerikafreundlichen Intellektuellen wären erst noch zu schreiben, obwohl die Welt, die sie schufen und vernichteten, schon jetzt in ihre tückischste Phase eintritt. Die meisten von uns erwachen gerade erst mit verschlafenen Augen aus den frenetischen Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Kriegs, in denen, wie Don DeLillo schrieb, »der dramatische Anstieg des Dow Jones und die Geschwindigkeit des Internets uns alle aufforderten, permanent in der Zukunft zu leben, im utopischen Glanz des Cyberkapitals«.
Es ist jedoch bereits seit langer Zeit klar, dass die globale Wette auf unregulierte Märkte und auf militärische Interventionen zu deren Gunsten das ehrgeizigste ideologische Experiment der Moderne darstellte. Deren Anhänger, Verbündete und Unterstützer, von Griechenland bis nach Indonesien, waren zudem weitaus einflussreicher als ihre sozialistischen und kommunistischen Rivalen. Homo oeconomicus, das autonome, nach rationalen Grundsätzen handelnde, mit Rechten ausgestattete Subjekt der liberalen Philosophie, überzog alle Gesellschaften mit phantastischen Plänen zur Steigerung der Produktion und des Konsums. Das in London, New York und Washington geprägte Idiom der Moderne bestimmte den Common Sense des öffentlichen intellektuellen Lebens auf sämtlichen Kontinenten und veränderte radikal, wie weite Teile der Weltbevölkerung Gesellschaft, Wirtschaft, Nation, Zeit und individuelle wie kollektive Identität verstanden.
Wer versuchte, hinter die exaltierte Rhetorik der liberalen Politik und Ökonomie zu schauen, fand dort natürlich nur selten entsprechende Realitäten. Mein persönlicher Lernprozess hinsichtlich dieses fehlenden Realitätsgehalts begann mit eigenen Erfahrungen in Kaschmir, wo Indien, angeblich die größte Demokratie der Welt, zu einer Form von Hindu-Suprematismus und rassistischem Imperialismus ebenjener Art herabgesunken war, von dem das Land sich 1947 befreit hatte. Als ich 1999 dorthin ging, hatte ich viele Vorurteile hinsichtlich der befreienden »zivilisatorischen« Rolle Indiens im Gepäck und gehörte zu denen, die stillschweigend annahmen, dass die Muslime in Kaschmir mit dem »säkularen«, »liberalen« und »demokratischen« Indien besser führen als mit dem islamischen Staat Pakistan.
Die brutalen Realitäten der militärischen Besatzung Kaschmirs durch indische Truppen und die eklatanten Lügen und Täuschungen, die damit verbunden waren, zwangen mich, einen Großteil der alten Kritik am westlichen Imperialismus und der daran geknüpften Fortschrittsrhetorik wieder aufzugreifen. Als meine kritischen Artikel über Kaschmir im Jahr 2000 in The Hindu und The New York Review of Books erschienen, wurden sie in meiner Heimat am lautesten nicht von Hindu-Nationalisten, sondern von selbsternannten Wächtern der »liberalen Demokratie« Indiens attackiert. Ich hatte mich mit der einflussreichen Ideologie eines indischen Exzeptionalismus angelegt, der für Indiens einzigartig starke und vielfältige liberale Demokratie moralisches Ansehen wie auch geopolitische Bedeutung einforderte.
Viele dieser selbstgerechten Vorstellungen rochen nach der Scheinheiligkeit der oberen Kasten und nach Klassenprivilegien. Die Fetischisten einer rein formalen und verfahrensorientierten Demokratie beriefen sich frömmlerisch auf »die Idee Indien«, das Experiment eines säkularen und liberalen Staatswesens. Sie schienen sich nicht an der Tatsache zu stören, dass die Menschen in Kaschmir und den Bundesstaaten an der Nordostgrenze Indiens de facto unter einem Kriegsrecht lebten, das den Sicherheitskräften das uneingeschränkte Recht zu Massakern und Vergewaltigungen verlieh - und auch nicht an dem Umstand, dass für einen großen Teil der indischen Bevölkerung das Versprechen der Gleichheit und Würde, gestützt durch Rechtsstaatlichkeit und unparteiische Institutionen, ein fernes, fast schon phantastisches Ideal geblieben war.
Jahrzehntelang zog Indien Vorteile aus einer im Kalten Krieg verbreiteten Vorstellung von »Demokratie«, die diese Staatsform auf ein moralisch glänzendes Etikett für die Wahl der Regierenden reduzierte, statt darauf abzustellen, welche Macht sie in den Händen hielten und wie sie diese Macht ausübten. Als ein nichtkommunistisches Land, das regelmäßig Wahlen abhielt, erfreute Indien sich eines makellosen internationalen Ansehens, obwohl es ihm nicht - und sogar noch weniger als vielen asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern - gelang, seinen Bürgern auch nur die elementaren Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Der Heiligenschein leuchtete noch heller, als die Regierungen des Landes sich dem freien Markt zuwandten und das kommunistische China plötzlich als Herausforderer des Westens auftrat. Selbst als Indien sich dem Hindu-Nationalismus verschrieb, entwickelte sich in den angloamerikanischen Eliten ein überschwänglicher Konsens: dass die liberale Demokratie tiefe Wurzeln im indischen Boden geschlagen und ihn so für das Wachstum freier Märkte vorbereitet habe.
Für einen Autor mit meinem Hintergrund wurde es zwingende Notwendigkeit, diese Einmütigkeit in Frage zu stellen - zunächst in meiner Heimat und dann immer häufiger im Ausland. Die freundlichen Fanatiker Indiens, die entschlossen schienen, den Herzen und Köpfen der Kaschmiris die »Idee Indien« einzuhämmern, bereiteten mich in vielerlei Hinsicht auf das Spektakel einer liberalen Intelligenzija vor, die den Krieg für »Menschenrechte« im Irak mit jener humanitären Freiheits-, Demokratie- und Fortschrittsrhetorik feierte, die man ursprünglich von europäischen Imperialisten des 19. Jahrhunderts kannte.
Mir war schon lange klar, dass westliche Ideologien den Aufstieg des »demokratischen« Westens während des Kalten Kriegs in geradezu absurder Weise geschönt hatten. Der lange Kampf gegen den Kommunismus, der den Anspruch auf höchste moralische Tugend erhob, hatte mancherlei zweckdienliche Täuschungsmanöver verlangt. Die Jahrhunderte des Bürgerkriegs, der imperialen Eroberung, der brutalen Ausbeutung und des Völkermords wurden schlichtweg ausgelassen in historischen Darstellungen, die zeigten, wie die Menschen des Westens die moderne Welt geschaffen hatten und mit ihren liberalen Demokratien zu den Vorbildern geworden waren, denen alle anderen nachstreben sollten. Was ich allerdings nicht wusste, bevor ich im Wissensökosystem Londons und New Yorks zu leben begann, war die Tatsache, dass die Ausflüchte und Auslassungen mit der Zeit zu gewaltigen Defiziten im Wissen über den...
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