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Mittwoch, 20. August
Blausamtig spannt sich der Himmel über die Dächer von Linden. Ein Tag zum Heldenzeugen, denkt Fernando Rodriguez und fragt sich, woher er diesen seltsamen Ausdruck hat. Klingt nach seiner Kollegin Oda Kristensen, freilich mit einer üppigen Prise Sarkasmus dabei, oder vielleicht auch nach seinem Vorgesetzten Bodo Völxen, so ein bisschen angestaubt. Egal, irgendetwas liegt in der Luft, etwas Prickelndes, Vielversprechendes. Er nimmt einen tiefen Atemzug, und wünscht sich für heute eine Tatortbesichtigung im Freien, vielleicht eine Leiche im Wald, damit er diesen strahlenden Spätsommertag nicht zwischen muffigen Papierbergen in der Polizeidirektion verbringen muss. Beschwingt federt er die Straße entlang, grüßt die Entgegenkommenden, es sind jeden Tag dieselben: eine Frau mit einem Kinderwagen, die ein quengelndes größeres Kind hinter sich herzieht, zwei bleiche, rauchende Schüler, eine türkische Frau mit Kopftuch und Einkaufskorb, ein blonder Junge, der ihn frech angrinst und eine Fratze schneidet. »He, Bulle!«
»Pass bloß auf, du kleiner Pisser!«
»Selber klein!«
Fernando verzieht das Gesicht. Einen ›Pisser‹ hätte er weggesteckt, aber klein – das schmerzt. »Na warte!« Mit ein paar raschen Schritten hat er den Bengel eingeholt und nimmt ihn in den Schwitzkasten.
»Verhafte mich doch, Bulle! Wo haste denn deine Handschellen und die Wumme, häh?«
Fernando lässt den Jungen los, nicht ohne ihm vorher noch einen Klaps hinter die Ohren mitzugeben. »Mach, dass du in die Schule kommst!«
Der Knirps reckt den Mittelfinger und hüpft schulranzenklappernd davon. Weiter vorne wartet schon sein Kumpel, man begrüßt sich mit high five.
Fernando setzt seinen Weg fort. Rotzfrech, diese Kinder heutzutage, kein Respekt vor niemandem. Er steuert den Kiosk an der Ecke an, um seine Straßenbahnlektüre zu kaufen. Durch die Scheibe sieht er Pia, souveräne Herrscherin über ihr Reich des Tabaks, der Süßigkeiten und der Schlagzeilen. Irgendwann wird man solche Läden unter Denkmalschutz stellen müssen, befürchtet Fernando, und registriert nebenbei: Verdammt, ich werde alt, ich denke schon wie ein alter Mann. Pia redet mit einer Frau, die Fernando nur von hinten sehen kann – schlanker, eleganter Hals, nackenlanges dunkles Haar.
»… bestimmst also du, einfach so, ja?«, hört Fernando Pia beim Betreten des winzigen Raumes durch das helle Bimmeln der Ladentür hindurch sagen. Pia, das erste Lächeln eines jeden Arbeitsmorgens, dieselbe Pia klingt nun, als könne sie ihre Wut nur mühsam im Zaum halten.
»Morgen, Pia.«
»Morgen, Fernando.« Die Kioskinhaberin versucht ein Lächeln, aber in ihren Augen sitzt noch immer ein Rest von Zorn. In diesem Moment dreht sich die andere Frau um und Fernando streift ein Blitz. Binnen ein, zwei Sekunden läuft ein Film vor ihm ab, der jedoch nicht sein Leben zeigt, sondern die lange Galerie seiner Freundinnen, Affären, Geliebten … alle hübsch anzusehen, manche sogar ziemlich, aber gegen diese Frau sind sie allesamt nur Abziehbilder. Diese hier ist das Original, das absolut unübertreffliche Meisterstück. Hat die Welt je solche Augenbrauen gesehen? Und dieser Blick – klar, sezierend, intensiv – dagegen der Mund – die pure Erotik, die schiere Verheißung, gewürzt mit einer Spur Arroganz. Fernando spürt das Blut durch seine Adern pulsieren, als sein Blick über die hoch angesetzten Brüste huscht, die sich frech unter dem schwarzen Pullover abzeichnen. Ihre Hüften in der Edeljeans sind schmal, fast knabenhaft, und vermutlich könnte er ihre Taille mit beiden Händen umfassen – eine Vorstellung, die ihm den Atem raubt. Wie kommt ein solches Überwesen überhaupt in einen Lindener Zeitungskiosk? An wen erinnert sie ihn nur? Juliette Binoche? Ja, ein bisschen, dieser intellektuelle Touch, aber da ist noch was anderes … Isabelle Adjani! Isabelle Adjani in »Ein mörderischer Sommer«. Eine Frau, für die ein Mann sich mit Freuden ruinieren würde, eine Frau …
»Eine Bild, Fernando?«
Der Angesprochene schaut Pia an wie ein Schlafwandler, den man gerade vom Dach geholt hat. Was, wie, eine Bild? Um Himmels willen, nein! »Die Zeit, bitte«, ordert Fernando.
»Zehn vor acht. Bist ganz schön spät dran heute.«
Fernando wird rot wie ein Stichling. »Die Zeitung!«, zischelt er Pia zu.
»Die Zeit? Die kommt erst morgen, heute ist Mittwoch«, klärt die Kioskbesitzerin den Ahnungslosen auf. »Oder willst du die von letzter Woche?«
»Nein, die habe ich schon«, behauptet Fernando und fügt hinzu, er habe sich im Tag geirrt.
»Das kann schon mal passieren«, sagt nun die Fremde. Fernando überläuft es heiß und kalt. Diese Stimme! Dunkel, geheimnisvoll, tragend.
»Meine Schwester«, erklärt Pia.
Wie kann ein solches Zauberwesen Pias Schwester sein? Gut, Pia ist nicht hässlich, hübsche Augen, nette Grübchen, aber sie ist keine Frau, die erotische Fantasien weckt. Fernando überwindet den Impuls, Pias Schwester die Hand zu küssen wie einer Königin. Stattdessen nickt er ihr feierlich zu und sagt: »Fernando Rodriguez.«
»Marla Toss.«
Marla. Wo kommt sie her, was hat sie hier zu suchen? Soll er es wagen, sie danach zu fragen? Oder ihr lieber erst mal ein Kompliment machen? Auf keinen Fall möchte er aufdringlich wirken, oder »schleimig«, wie seine Kollegin Jule Wedekin das nennen würde, aber ihm ist klar, dass er schleunigst etwas sagen muss, irgendetwas, das seinen weiteren Aufenthalt hier rechtfertigt. Ein bisschen Small-Talk, Herrgott, Fernando, das ist doch sonst eine deiner leichtesten Übungen! Jeden Morgen unterhält er sich mit Pia über Gott und die Welt, wobei – er muss es leider zugeben – die Bild-Schlagzeile oft das Stichwort liefert. Aber ausgerechnet jetzt fällt ihm ums Verrecken nichts Originelles ein. Dieser Lichtgestalt kann er schließlich nicht mit ›Schönes Wetter heute …‹ kommen.
»Hab gerade deinen Yannick getroffen«, sagt er schließlich zu Pia, obwohl er ihren Sohn fast jeden Morgen trifft. »Süßer Bengel.« Er lächelt Pia an und meint die andere. Marla. Sie ist Yannicks Tante, fällt Fernando ein – ein Wort, das nun wirklich überhaupt nicht zu dieser Frau passt. Tanten sehen anders aus.
»Ich muss los. Wir reden ein andermal weiter«, sagt die Schöne, und ehe Pia oder Fernando etwas erwidern können, bimmelt die Glocke der Ladentür mit den zahllosen Aufklebern, und schon geht, nein, schreitet die Erscheinung den Bürgersteig entlang in Richtung Limmerstraße.
Wenn Fernando sich beeilt, kann er sie noch einholen, vielleicht haben sie ja denselben Weg? Schon sieht er sich mit diesem Zauberwesen in der Stadtbahn sitzen …
»Fernando?« Pias Blick und Tonfall verhindern ein rasches Entwischen.
»Was ist?«
»Findest du, dass Yannick schlechte Manieren hat?«
Fernando schüttelt den Kopf. »Aber nein. Wie kommst du denn darauf?«
»Schon gut.« Ihr Lächeln hat erneut etwas Verkrampftes, aber Fernando kann sich jetzt nicht darum kümmern, er hat es eilig. Doch als er aus der Tür stürzt, ist Marla spurlos verschwunden. Wenig später fährt ihm auch noch die Bahn vor der Nase weg.
Im Büro von Hauptkommissarin Oda Kristensen herrscht Bodennebel mit Sichtweite von knapp unter zwei Metern. Oda nutzt den Urlaub ihres Vorgesetzten, um in ihrem Büro nach Herzenslust Zigarillos zu qualmen, obgleich ihr klar ist, dass Edeltraut Cebulla, die Sekretärin des Dezernats, sie garantiert denunzieren wird. Seit sämtliche Gebäude der Polizeidirektion Hannover per Gesetz zur rauchfreien Zone erklärt worden sind, müsste Oda theoretisch für jeden Zigarillo runter vor die Tür. »Dort erkälte ich mich dann und werde acht Tage krankgeschrieben, ist das besser?«, hat sie Völxen gefragt.
»Was weiß ich? Ich habe diese Vorschrift nicht gemacht«, hat der Hauptkommissar ebenso mürrisch wie ratlos zurückgeblafft.
Rauchen lässt die Haut frühzeitig altern steht in fetten schwarzen Lettern auf der Packung. Oda dreht sie um. Normalerweise achtet sie darauf, dass die Warnhinweise Impotenz oder einen frühen Tod androhen. Auf ihrem Grabstein könnte dann stehen: Hier ruht Oda Kristensen. Rauchen ließ ihre Haut schnell altern. Vielleicht sollte ich aufhören, erwägt Oda, während sie einen Kringel in Richtung Decke bläst, und so die wenigen Jahre der Ansehnlichkeit, die einer Frau mit vierzig noch bleiben, ein bisschen hinauszögern. Ach, was soll’s, denkt sie verdrossen. Bei mir ist der Zug sowieso abgefahren. Jetzt ist Veronika an der Reihe, zumal sie nun endlich wieder normal aussieht. Oda schlägt die Tageszeitung auf. In der Theaterbeilage wird auf mehreren Seiten über die neue Sparte Junges Theater Hannover berichtet. Einer der Artikel beschäftigt sich mit dem Stück, in dem Odas Tochter Veronika mitspielt. Seither ist das Mädchen wie umgewandelt: Ihren Grufti-Look hat sie von einem Tag auf den anderen abgelegt, und zu Odas großer Freude ist auch keine Rede mehr von einem Zungen-Piercing. Scheint demnach ein halbwegs vernünftiger Junge zu sein, um den es geht. Details waren Veronika bis jetzt nicht zu entlocken, im Gegenteil, standhaft leugnet sie das Offensichtliche. Nun ja, mit sechzehn hat man Geheimnisse vor seiner Mutter, das ist nur natürlich.
»Nicht Perfektion ist das Ziel, sondern Authentizität«, lässt der Regisseur, ein gewisser Daniel Schellenberg, die Leser der »Hannoverschen Allgemeinen Zeitung« wissen, und die Jugendlichen würden bei der Theaterarbeit »fürs Leben lernen«. Attraktiver Mann, bemerkt Oda, zumindest auf dem...
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