Schweitzer Fachinformationen
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ER kann sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal nicht ängstlich war. Die Angst begleitet ihn wie ein Schatten, immer da, mal größer, mal kleiner, dunkel und undurchschaubar. Sie ist nicht nur Feind, nein, das zu behaupten träfe nicht den Kern der Sache. Sie ist ihm vielmehr in den ersten Jahren seiner institutionellen Bildung ans Herz gewachsen als Freund in der Not; namentlich Schularbeiten, in denen er sein Wissen besser als andere abrufen kann, irgendwo aus den hintersten Gehirnwindungen, eben weil er Angst vor dem Versagen hat. Oder vor der Geringschätzung seiner Lehrer, denen er mit fast aufdringlicher Unterwürfigkeit ein Lob ums andere abzutrotzen sich zur Hauptaufgabe seiner jungen Existenz gemacht hat. Er ist nicht, was man landläufig als Streber bezeichnen würde. Nein, sein Drang nach Lob und äußerer Bestätigung sitzt tiefer, obwohl er ihn selbst nicht erklären kann.
Die Beziehung zu den Eltern? Die sind immer mit sich selbst und mit Streit beschäftigt, aber was ihn angeht, so läuft er eben nebenher, gute Leistungen werden mit Zuwendungen honoriert, schlechte aus Zeitmangel ignoriert. Ein Mangel an Freunden? Er ist nicht der beliebteste Junge auf dem Fußballplatz, aber auch nicht der unbeliebteste. Er ist talentiert genug, um nicht negativ aufzufallen. Das gilt nicht nur für den Fußball, der ultimativen Maßeinheit auf der Anerkennungsskala, die in seiner noch jungen Welt die Hackordnung bestimmt, sondern für alles, was mit Ausdauer, Kraft oder Ballgefühl, aber auch mit Köpfchen und Kombinationsgabe zu tun hat. Er ist vielen seiner Altersgenossen körperlich überlegen, zum Glück, und schöpft daher aus dem Vollen, wenn es an physische Auseinandersetzungen geht. Was ihn außerdem noch zum talentierten Sportler macht, ist sein unbedingter Wille, sich durchzusetzen, genährt von der Angst, verspottet zu werden. Natürlich will er zwar auch gegen seine Gegner gewinnen, aber in erster Linie die Schmach der Niederlage vermeiden. Er unterscheidet nicht zwischen Niederlagen im Sport und jenen im Klassenzimmer; für ihn endet die Prüfung, die sein Leben ausmacht, nicht Freitag nachmittags an der Schulpforte. Er muss immer dem eigenen Anspruch Genüge tun. Gelingt das, so stellt sich aber nicht etwa ein Gefühl von Zufriedenheit oder gar Stolz ein, nein, er sieht es als nichts anderes als seine Pflicht an, als die Minimalanforderung an eine nicht gänzlich überflüssige Existenz. Sich selbst betrachtet er mit einer Ernsthaftigkeit, die für sein Alter untypisch ist. Er sollte leben, spielerisch und unbedarft, doch stattdessen denkt er zu viel und im Kreis. Er sieht Nachrichten und macht sich Gedanken, über den Trinkwassermangel in Bangladesch, die Schlafkrankheit, die von der Tsetsefliege übertragen in Afrika Kinder dahinrafft. Er ist nicht wirklich emphatisch, sein Interesse an der Not anderer ist eher narzisstischer Natur. Und er vermag nicht zu begreifen, wieso als normal durchgeht, was er als so augenscheinlich widersinnig und ungerecht empfindet. Diese Disbalance übt eine Faszination auf seinen jungen Geist aus, ohne dass er sich dessen allzu bewusst wäre. Er neigt dazu, sich in den Mittelpunkt zu stellen und dabei unendlich egoistisch zu sein, bemerkt das aber, gefangen in seinem Gedankenkreisel, kaum. Selbst wenn er vordergründig an anderer Menschen Schicksal interessiert ist, so ist er es nur, weil er als der Helfer, der Retter wahrgenommen werden möchte. Paradox, denn nicht, weil er der Meinung ist, er würde es verdienen, sondern unbewusst im Versuch, ständig seine Unzulänglichkeiten auszugleichen, möchte er etwas gelten bei den Menschen, die ihn umgeben.
Auf dem Fußballplatz ist er der Verteidiger der Schwachen. Er kann es nicht leiden, wenn sich die älteren oder von der Natur mit mehr Kraft oder Talent gesegneten Jungen den Schwachen gegenüber süffisant geben, denn sie sind ein Spiegel seiner selbst; er schart dann mit Vorliebe die schlechteren Spieler um sich und versucht mit doppelt so hohem Einsatz die Gemeinheiten und großtuerischen Anwandlungen der Alphatiere abzustrafen. Manchmal gelingt das, dann überkommt ihn ein warmes Gefühl der Genugtuung, wobei er insgeheim gerne so wäre wie sie - selbstsicher und arrogant von der eigenen Überlegenheit wie von einem Naturgesetz überzeugt. Manchmal gelingt es nicht, dann braucht es eine ganze Weile, bis sich der Knoten, den die blinde Wut über das Versagen in seinem Bauch zurückgelassen hat, wieder löst.
Was ihm Ruhe bringt, ist die Ablenkung durch geistige Anstrengung - er liebt es, die Textaufgaben zu lösen, die sein Mathematiklehrer der Klasse aufgibt, auch wenn er wie alle anderen aus Konformismus in das Gestöhne ob der Unerträglichkeit der Hausaufgaben einstimmt. Seine Liebe zu Rätselaufgaben ist ambivalent, der Ansporn, sie zu lösen, entspringt nicht einem kindlichen Spieltrieb, sondern vielmehr dem ständig alles übertünchenden Drang der Selbstbestätigung. Damit nicht genug, die Schwierigkeit muss stetig gesteigert, die Schlagzahl erhöht werden. Einmal gelingt es ihm nicht, alle Aufgaben der Mathematikschularbeit in der zur Verfügung gestellten Zeit fehlerfrei zu lösen. Wochenlang hadert er; mit sich, seiner mangelnden Intelligenz oder jedenfalls langsamen Auffassungsgabe, insgeheim auch mit seinem so hochgeschätzten Mathematiklehrer. Am meisten jedoch hadert er mit der Tatsache, dass ein anderer Schüler seine, ja seine, Aufgabe problemlos zu lösen vermochte. Zu Hause überkommt ihn ein Drang, eine sich bahnbrechende Idee, die er zurückhalten möchte, die ihn aber nicht loslassen will wie ein böser Traum, der einen Nacht für Nacht begleitet und einem auch am Tag eine Gänsehaut verursacht. Er lernt zum ersten Mal einen Teil seiner Seele kennen, einen dunklen Fleck, den er abstoßend findet, der zugleich aber auch unwiderstehlich nach Aufmerksamkeit schreit. Er geht in den alten Holzschuppen am Ende des kleinen Gartens hinter dem farblosen Reihenhaus, das er mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester bewohnt. Er holt einen übersponnenen Zuber hinter einem gerammelt vollen Regal hervor, das sein Vater Jahr um Jahr mit Memorabilien füttert, die im Haus keinen Platz mehr haben. Er füllt den Zuber mit dem alten, von der Sonne brüchig gewordenen Gartenschlauch etwa zur Hälfte mit kaltem Wasser. Für den nächsten Schritt muss er auf die Suche gehen. Ein Bild konkretisiert sich und er muss leise lächeln bei der Vorstellung, was kommen wird, bis sich Scham einschleicht und sein Lächeln abrupt erstickt. Unmerklich wird seine Haltung etwas gebückter, ein schaler Geschmack breitet sich in seinem Mund aus und er fühlt, wie sich sein Herzschlag beschleunigt. Durch eine morsche Holztür ist der Garten von einer weitläufigen Wiese abgetrennt. Die Wiese ist ein großes Rechteck, auf der einen Stirnseite von einer Tanne und einer Birke, auf der anderen durch einen großen Geräteschuppen und ein paar Weiden vor Blicken geschützt. Zwischen Schuppen und Weiden befindet sich ein Geheimversteck, in dem er und seine Freunde allerhand lagern, das von den Erwachsenen nicht gefunden werden soll. Heute geht es ihm aber nicht darum, sondern um die namenlosen Katzen der Siedlung, die sich mehr noch als auf der offenen Wiese in dem Wirrwarr von Stämmen und Zweigen herumdrücken. Katzen. Er kann sie nicht leiden, weil sie so arrogant, so natürlich selbstsicher sind. Ähnlich wie die Alphatiere auf dem Fußballplatz. Sie zeigen keine Unterwerfung, keine Loyalität, selbst wenn sie ein Leben lang gut behandelt und durchgefüttert werden. Einen Hund dagegen hätte er immer gerne gehabt. Anschmiegsam, dankbar, die Hackordnung nicht in Frage stellend.
Er ist überzeugt, dass er hier finden wird, was er sucht, und er behält recht. Eine der namenlosen Streunerkatzen treibt sich im Gebüsch herum und mustert ihn misstrauisch. Lange kann sie ihre Neugier, die Hoffnung auf einen kleinen Leckerbissen oder eine Streicheleinheit nicht hintanhalten, da hat er sie in der Tasche. Zurück im Schuppen verrammelt er die Tür, erregt, schuldbewusst. Er weiß, dass es falsch ist, diesem dunklen Trieb nachzugehen, diesem Drang nach Destruktion, nach Regelbruch. Er weiß es, aber das ändert nichts an der magnetischen Anziehung, die der Zuber mit dem kalten Wasser jetzt auf ihn ausübt. Er erschrickt, als er einen Moment lang nicht aufpasst und die Katze ihre Krallen in Angst tief in seinen Unterarm arbeitet - schmerzhaft, aber auch der letzte Anstoß. Mit kräftigem Griff stößt er die Katze ins Wasser, die Reaktion erahnend, die sich augenblicklich einstellt. Das Tier windet sich, kämpft, chancenlos, seinem eisernen Griff zu entkommen. Er lässt das Tier kurz wieder hoch, nicht lange genug für einen vollen Atemzug, aber doch so lange, dass er Schrecken und Unverständnis in den Augen des Tiers erblicken und in sein kindliches Sammelalbum der Eindrücke und Erinnerungen aufnehmen kann. Oft wird er an diesen Moment zurückdenken, den Moment, als er sich das erste Mal nicht beherrschen konnte. Während das Tier ums Überleben kämpft, ringt er um die Kontrolle über seine Hand, denn der Kopf sagt, dass es nicht mehr viel länger andauern darf, wenn das Ultimative nicht eintreten soll. Die Hand wehrt sich noch ein paar schleppende Sekunden, Sekunden, die ihn viel über sich, aber auch über das zappelnde Leben in seiner Hand, lehren. So banal, so schwach auf eine fast schon widerwärtige Art und Weise. Verächtlich zieht er das kraftlose Tier aus dem Wasser, lässt es in die Ecke mit dem Laubrechen fallen. Er verlässt den Schuppen, um das Wasser auszuleeren, sein Herzschlag normalisiert sich und der Tunnelblick verflüchtigt sich langsam. Er fühlt sich nicht mehr wie...
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