Kapitel 2
Die Zugfahrt vom Flughafen in die Stadt kann man durchaus als Herausforderung bezeichnen. Zum Glück ergattere ich einen der letzten freien Sitzplätze. Das Ungetüm von Koffer steht allerdings im Gang, da alle Gepäckfächer voll sind, sodass sich die anderen Fahrgäste umständlich an ihm vorbeiquetschen müssen.
Bevor wir den Bahnhof verlassen, schreibe ich schnell eine Nachricht an Elisa, meine Ansprechpartnerin vor Ort. Sie ist selbst Studentin an der Sapienza und engagiert sich ehrenamtlich als Tutorin. Zu ihren Aufgaben gehört es, den Austauschstudenten die Anfangszeit in Rom zu erleichtern. Da ich an einem Sonntag ankomme, ist die Wohnheimleitung heute nicht besetzt. Elisa hat meinen Schlüssel deshalb bereits abgeholt und mir angeboten, mich am Bahnhof Termini zu treffen.
Elisas Antwort kommt zügig. Sie schickt mir auch gleich die Beschreibung unseres Treffpunktes. Ich kann gerade noch einen Daumen hoch zurückschicken, denn in dem Moment fährt der Zug los und das Ungetüm droht, durch den Gang zu rollen. So sitze ich also die nächsten dreißig Minuten da, halte mit dem einen Arm den Rucksack fest und versuche, mit dem anderen die Flucht des großen Koffers zu verhindern.
Als wir endlich den Bahnhof Termini erreichen, atme ich erleichtert auf. Meine Schulter schmerzt von der ungünstigen Position, die nötig war, um den Koffer an seinem Platz zu halten. Kaum, dass der Zug steht, erhebe ich mich umständlich aus dem Sitz und schüttle zunächst meinen Arm aus. Dann schnappe ich mir mein ganzes Gepäck und verlasse den Zug so schnell, wie es mir mit zwei Koffern möglich ist. Am Bahnsteig benötige ich ein paar Sekunden, um mich zu orientieren und mir die Beschreibung von Elisa ins Gedächtnis zu rufen. Kurz darauf sehe ich schon das Schild, das sie als Treffpunkt vorgeschlagen hat. Tatsächlich steht davor auch schon eine junge Frau, die den Bahnsteig aufmerksam beobachtet. Sie sieht aus wie auf dem Foto, welches sie mir geschickt hat: relativ klein und mit kurzen, dunklen Haaren, die unter einem roten Beanie versteckt sind. Außerdem trägt sie eine ziemlich große Brille. Sie entdeckt mich unter den vielen Reisenden und kommt mir lächelnd entgegen.
»Hi, du musst Cassidy sein.« Sie begrüßt mich auf Englisch, was mich innerlich schmunzeln lässt. Ihr Akzent ist bezaubernd und ich überlege kurz, ob ich ihr auf Englisch antworten soll, nur um noch etwas mehr davon zu hören. Ich entscheide mich aber dagegen, da ich endlich in Italien bin und so viel Italienisch sprechen will wie nur möglich.
»Ciao Elisa. Schön, dich kennenzulernen, und danke, dass du mich abholst.« Ich versuche, die Worte so flüssig wie möglich über die Lippen zu bekommen und anscheinend bin ich erfolgreich, denn Elisa grinst beeindruckt.
»Wow, dein Italienisch ist echt gut! Dann können wir uns wohl in meiner wunderschönen Muttersprache unterhalten. Gib mir am besten einen deiner Koffer und dann lass uns erstmal aus dem Bahnhof verschwinden.«
Ich nicke und schiebe ihr dankbar meinen kleinen Koffer entgegen.
Auf dem Weg durch das riesige Bahnhofsgebäude erzählt mir Elisa, dass sie Biologie studiert und bereits seit anderthalb Jahren ehrenamtlich Austauschstudenten betreut. Sie fragt mich auch nach meiner Anreise und ich erzähle ihr von dem Geschäftsmann und der anstrengenden Zugfahrt. Schließlich erreichen wir den Ausgang und treten nach draußen in die milde Sonne.
Wir nehmen den Bus, um zum Campus zu gelangen. Zwar ist die Strecke vom Bahnhof zum Wohnheim nicht allzu weit, doch es ist mir nur recht, wenn ich den schweren Koffer nicht noch einen Kilometer durch die Stadt ziehen muss.
Während der kurzen Fahrt schaue ich gebannt aus dem Fenster. Alles sieht so anders aus als in den Staaten und ich bin unglaublich fasziniert, selbst wenn wir nur eine ziemlich unspektakuläre Straße entlangfahren.
Wenige Minuten später laufen wir bereits auf den Campus zu.
»Das hier gehört alles schon zur Uni«, erklärt mir Elisa und deutet auf die umliegenden Gebäude. »Du hattest echt Glück, dass du einen Platz in dem Wohnheim auf dem Uni-Gelände bekommen hast. Es ist fast ausschließlich für Austauschstudenten, aber trotzdem reicht es bei Weitem nicht für alle. Ansonsten wohnen noch ein paar Studierende mit Beeinträchtigung in dem Haus und ich glaube, es gibt noch zwei Wohnungen für Studierende mit Kind. Die Studenten von hier müssen entweder ihr Glück in einem der Wohnheime abseits des Campus versuchen oder sich etwas Eigenes suchen. Ich wohne mit meiner Freundin in einer kleinen Wohnung ein ganzes Stück östlich von hier. Du solltest unbedingt mal zu einem der Spieleabende vorbeikommen, die wir regelmäßig mit unseren Freunden veranstalten.«
Ich nicke, ein klein wenig erschlagen von diesem Monolog.
Freundschaften und selbst oberflächliche Bekanntschaften waren noch nie meine Stärke, aber seit das mit mir und Ethan damals den Bach runtergegangen ist, habe ich kaum mehr Zeit in zwischenmenschliche Beziehungen investiert. Julia und meine Eltern bilden da die Ausnahmen. Ich bin wirklich gut darin, allein zu sein. Es macht mir nichts aus, allein essen zu gehen, Konzerte zu besuchen oder zu reisen. Letzten Sommer war ich sogar einige Wochen allein in Kanada unterwegs. Ich habe in Boston schnell gemerkt, dass ich selbst meine liebste Gesellschaft bin und bisher gab es keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Natürlich können sich hier in Italien interessante Bekanntschaften ergeben. Allein im Wohnheim werden mir sicherlich Leute aus allen möglichen Ländern über den Weg laufen und jeder einzelne von ihnen ist garantiert eine interessante Person. Auch Elisa scheint unglaublich nett zu sein. Doch das sind für mich noch keine Gründe, etwas an meinem Einzelgänger-Dasein zu ändern.
Ich grübele still und laufe neben Elisa her, bis sie vor einem großen Gebäude anhält.
»Das hier ist dein Zuhause für die nächsten Monate. Da das Gebäude barrierefrei ist, gibt es einen Fahrstuhl. Für uns ist der heute auf jeden Fall auch praktisch, sonst müssten wir dein ganzes Gepäck jetzt in die vierte Etage schleppen.« Sie lacht und ich stimme ein. Meinen Koffer hätte ich im Leben nicht vier Stockwerke hoch schleppen können. Vermutlich hätte ich kaum ein einziges Stockwerk geschafft.
Elisa schließt die Eingangstür auf und geht anschließend zielsicher auf den Fahrstuhl zu. Für die Fahrt in den vierten Stock benötigen wir nur wenige Sekunden. Dann führt mich Elisa durch eine Feuerschutztür in einen langen Gang. Vor der Tür mit der Nummer 412 halten wir an.
Dann reicht mir Elisa den Schlüsselbund. »Der runde Schlüssel ist für dein Zimmer, der eckige für die Haustür und den Waschmaschinenraum und der kleine für den Briefkasten.«
Ich nicke und stecke den runden Schlüssel ins Schloss. Dann trete ich auch schon ein in das Zimmer, in dem ich in den nächsten Monaten viel Zeit verbringen werde, und sehe mich neugierig um.
Der Fußboden besteht aus dunkelgrauen Fliesen. Links von mir befindet sich eine Tür, die in ein kleines Badezimmer führt. In gehe ein paar Schritte weiter und schaue mir das eigentliche Zimmer genauer an. Es gibt ein Einzelbett mit einem Regal darüber, einen Schreibtisch mit Stuhl, einen Kleiderschrank und einen kleinen hellgrauen Sessel. Vor den großen Fenstern, durch die man in einen aktuell ziemlich verlassenen Hinterhof schaut, hängen lange weiße Gardinen und auch die Möbel sind entweder weiß oder in einer sehr hellen Holzoptik. Das Zimmer wirkt geräumig, auch wenn es, wie zu erwarten war, nicht wirklich groß ist. Gegenüber vom Badezimmer befindet sich, in einer Nische, eine Miniküche mit zwei Kochplatten, einer Spüle, einem kleinen Kühlschrank und einem Hängeschrank. Viel Platz bietet sie nicht, aber für mich wird es reichen.
»Und, gefällt es dir?« Elisa stellt sich neben mich und lässt ihren Blick ebenfalls durchs Zimmer schweifen.
»Das Zimmer ist großartig! Ich bin überrascht, wie modern alles ist.« Tatsächlich sieht es so aus, als wäre das Zimmer erst frisch renoviert.
»Ja, das Wohnheim wurde letzten Sommer saniert. Die gesamte Technik, die Möbel, alles wurde ausgetauscht und auf den neusten Stand gebracht. Vorher war es hier bei Weitem nicht so gemütlich.«
»Wow, dann habe ich ja richtig Glück gehabt.« Ich hatte tatsächlich mit einem weniger schönen Zimmer gerechnet, das hier ist also eine mehr als positive Überraschung.
Ich schiebe meine Koffer in eine Ecke und schäle mich aus meiner Jacke. In der Zwischenzeit hat Elisa eine Mappe aus ihrer Tasche gezogen und reicht sie mir. »Hier drin sind noch ein paar wichtige Dokumente. Unter anderem der Mietvertrag, den du noch unterschreiben und abgeben musst. Ich würde dir morgen einfach zeigen, wo das Büro der Wohnheimverwaltung ist. Danach können wir gleich noch deinen Studentenausweis holen, dich in der Stadt anmelden und uns um alle Dinge kümmern, die so gemacht werden müssen. Also natürlich nur, wenn dir das recht ist.«
»Das wäre super.« Auch wenn ich lieber alles allein machen würde,...