Berlin 2100
In absoluter Realität - ohne Träume - kann ein Bewusstsein nicht existieren.
Der Gedanke lässt Aruke kippen. Ihr Körper beugt sich vor, ihre Fersen lösen sich von der Dachkante. Unter schäumenden Smogwolken fließt eine Stadt. Von hier oben ein funkelndes Meer. Konturen verbiegen darin, verschwimmen, lösen sich auf.
Aruke will springen.
Mitten hinein.
Schweiß rinnt ihren Rücken hinunter. Leichter Wind kommt auf. Aruke schaudert. Arme schwingen seitwärts, graben durch dickflüssige Hitze. Schon hält sie es nicht mehr aus, zieht den Kopf zwischen die Schultern, geht in die Hocke. Gleich, denkt sie, werde ich bis zum Grund von Berlin tauchen.
Mehrere Meter entfernt begrüßt Kenoah die letzte Touri-Gruppe. Aruke hat Schwierigkeiten, die Stimmen auseinanderzuhalten. Nur Kenoahs Bass hebt sich hervor, schwappt warm und weich zu ihr herüber: »Willkommen auf Dach TN7! Von hier oben sehen Sie, was Berlins Architektur so besonders macht: Chrom und Chlorophyll! Wiesen wachsen entlang polierter Häuserfassaden, Nutzpflanzen sprießen auf Balkonen, ganze Wälder erheben sich von Flachdächern.«
»Das ist aber keine so schillernde Stadt im Stil des Weltraumzeitalters wie Frankfurt oder Köln.«
»Nein«, erwidert Kenoah, »das ist ein wilder Haufen, den Menschen auf der ganzen Welt als Heimat bezeichnen.«
»Was ist das für ein Gebäude am Horizont?«
»Sieht aus wie ein senkrechtstehendes Pflanzenblatt.«
»Gerade sieht es so aus. Der Turm basiert auf modularer Architektur und neuster Nanotechnologie. Er kann jederzeit seine Form ändern.«
»Ist das der Riva-Lux-Tower?«
»Nein, das ist das ISynBi, das Institut für Synthetische Biologie.«
»Aber den Tower der Mega-Celeb können wir auch von hier sehen?«
»Klar, der gehört zu den bautechnischen Katastrophen. Dort drüben steht er im Wald aus Glastürmen.«
»Katastrophen?«
»Jetzt im Sommer heizen sich die Glastürme wie Brenngläser auf. Das wahre Berlin offenbart sich erst, wenn die Stadt nicht nur rein architektonisch, sondern als miteinander verbundene Stoffwechselsysteme betrachtet wird. Ein biologischer Organismus - In Berlin ist alles mit dem Netz des Lebens verbunden!«
Eine Woge aus Übelkeit durchfährt Arukes Körper. Sie ist froh, versteckt zwischen zwei Büschen von niemandem gesehen zu werden. Hastig beißt sie die Zähne zusammen, presst die Lippen aufeinander.
Zu spät.
Warme Flüssigkeit schießt in ihr hoch, flutet den Rachen, will hinaus. Aruke fällt auf die Knie. Sie weiß, das ist nur der Anfang. Ihr Blick verschleiert sich, bleibt einen Moment am ISynBi-Turm hängen, der sich vor ihren Augen von einem senkrechtstehenden Blatt in eine Doppelhelix verschiebt.
»Folgen Sie mir bitte«, ruft Kenoah. Aruke bekommt ein schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte sie die letzte Touri-Gruppe übernehmen. Sie hört Schritte und dann das Quietschen der Tür im vier Meter hohen Zaun.
»Wozu der Zaun?«
»Eine notwendige Maßnahme, um torkelnden Touris das Fahren auf Swiftern oder Schwebekissen beizubringen.«
Die Gruppe reagiert mit wissendem Lachen.
»Hinter dem Zaun stehen unsere Schlafmöglichkeiten. Handverschraubt und zweistöckig. Alles aus dem 3-D-Drucker. Jetzt zur Hochsaison können sie stundenweise gemietet werden. Parallel dazu verlaufen Parzellen. Die sind für die Gartenarbeit reserviert.«
Aruke hört das Schließen des Tors, kurz danach ein Rascheln und Kratzen. Meerschweinchen und Hasen vermutet sie. Niemand kann die Meerschweinchen voneinander unterscheiden, es sind zu viele. Nachts erscheinen und verschwinden sie so schnell, dass Aruke nie sicher ist, sie tatsächlich gesehen zu haben. Das, denkt sie, ist ihre besondere Eigenschaft.
»Bitte zusammenbleiben! Alle Tiere auf Dach TN7 sind genmanipuliert. Auf den ersten Blick sehen sie unschuldig aus. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Sie sind durchtrieben und organisiert! Gern verbünden sie sich untereinander. Die Meerschweinchen kooperieren mit den stoischen Hasen ? leichte, schöne Tiere, die beim Hüpfen zu fliegen scheinen. Zusammen plündern sie unsere Nutzgärten.«
»Die sind doch durch elektrische Zäune gesichert.«
»Ha, für kluge Tiere stellt das kein Hindernis dar.«
Besonders die Hasen, denkt Aruke, die lernen erschreckend schnell. In den ovalen Hasenaugen entdeckt sie manchmal den Mond. Die Tiere scheinen dann wie erstarrt nach oben zu blicken.
Um den Schmerz besser auszuhalten, versucht Aruke jetzt selbst wie erstarrt nach oben zu schauen.
»Was ist das?«
»Ein Hase?!«
»Der ist doch bestimmt einen Meter hoch!«
»Wieso sitzt er so ? so reglos?«
»Beobachtet er uns?«
»Keine Panik!« Kenoah klingt amüsiert. »Sehen Sie? In seinen Augen spiegelt sich der gesamte Himmel.«
Aruke kennt das Tier, hat es vor langer Zeit Salomon getauft.
»Berlins Dächer sind bekannt für ihre eigentümliche Tier- und Pflanzenwelt.« Aruke hört den Stolz in Kenoahs Stimme.
»Eure barackenähnlichen Behausungen erinnern mich an die Slums des vorherigen Jahrhunderts.«
»Und trotzdem«, entgegnet Kenoah, »strömen jedes Jahr mehr Menschen hinauf als hinunter.«
Aruke presst eine Faust in den Bauch.
»Während unten in der Stadt Montage und Instandhaltung von Drohnen geregelt werden, legen wir hier oben noch selbst Hand an ? was erst durch nanotechnologisch verbesserte Materialien und industriellen 3-D-Druck möglich wurde. Auf unseren Dächern haben wir eine zweite Stadt errichtet. Gewohnt und fremd zugleich.«
Ein Schmerz - strahlend, präzise - durchstößt Arukes Unterleib.
Sind acht Wochen schon wieder vorbei?
Sie hätte wissen müssen, dass es heute Abend passiert. Die Anzeichen waren alle da. Die Stimmungsschwankungen, der plötzliche Drang, sich in die Tiefe zu werfen.
»Stimmt es, dass die Theken und Bars hier oben geheime Öffnungszeiten haben?«
»Ja, das stimmt. Nur Menschen, die auf dem Dach viele Winter durchgestanden haben, wissen Bescheid.«
»Menschen wie du? Du bist nicht aus Berlin. Woher kommst du wirklich?«
»Lass ihn in Ruhe. Es ist offensichtlich, dass er .«
»Aus einem Auffanglager stammt?«
»Ist es denn wichtig, woher unser Guide kommt?«
»Na, manche behaupten, die Stadt fülle ihre leeren Kassen mit der Aufnahme von Geflüchteten.«
»Schaut euch doch mal um! Hier oben könnten wir ebenso gut auf einem fremden Planeten sein! Jedes Dach ein eigener Planet ? Hey Guide, woran liegt das?«
Kenoah antwortet mit seiner professionellen Guide-Stimme. Unmöglich zu sagen, ob ihn das Gespräch der Touris getroffen hat. »Die Dächer entwickelten sich lange wie voneinander isolierte Inseln. Mittlerweile verbinden Hängebrücken aus synthetischen Zellen die meisten Anlagen. Dach TN7 bleibt bis heute eine Ausnahme: Es ist nur über Schwebekissen zu erreichen.«
»Stimmt es, dass die Dächer anfangs vollkommen unkontrolliert besetzt, bebaut, bepflanzt wurden? Von Kriminellen und ID-losen.«
Kenoah räuspert sich. »Mittlerweile versucht die Berliner Regierung das zu regulieren ? was nicht immer funktioniert. So wie unten besetzt auch hier oben jede Gruppe eine Ecke, um ihre eigene Realität zu leben.«
»Was ist da drüben?«
»Die Bereiche zum Kochen und Drogennehmen.«
»Beide nicht eingezäunt?«
»Nicht nötig. Im Sommer bildet der Rauch eine eigene Barriere.«
Die Gruppe reagiert mit erstauntem Pfeifen.
»Sehen Sie den Kletterturm in der Mitte? Der bietet die Art von Sonnenuntergang, die sonst nirgendwo mehr in der Stadt zu finden ist: unüberschaubar und weit.« Wieder klingt Kenoah ein bisschen stolz.
Die Gruppe bahnt sich einen Weg dorthin. Manche fangen wegen dem Rauch an zu husten. Die Stimmen werden leiser. Die Schritte schneller. Immer wieder stolpert jemand über die am Boden liegenden Körper.
Aruke beißt erneut die Zähne zusammen, erwartet die nächste Schmerzattacke.
»Da hängen Menschen im Gerüst!«
»Nur im Sommer. Sonst ist der Kletterturm für brütende Vögel reserviert.«
Aruke schließt die Augen, stellt sich vor, wie die Touris gebannt zuschauen, während die scharf geteilten Bereiche des oberen Berlins langsam in der aufsteigenden Dunkelheit verschwinden.
Der Rundgang ist beendet. Die Stimmen nähern sich jetzt von der anderen Seite. »Hier oben leben alle zusammen und doch für sich allein. Bist du deswegen rauf aufs Dach?«
»Gründe gab es genug. Ein Leben auf dem Dach bedeutet Freiheit.«
»Ist das Berlins Utopie? Alle zusammen, aber jeder für sich?«
»Stimmt es, dass im Herbst hier oben mehr Tiere hausen als Menschen?«
»Ja. Dann ist die Touri-Saison vorbei und nichts versperrt den Tieren mehr den Weg.«
»Gehen wir noch in den Wald?«
»Nein, den Bereich haben die Hasen und Meerschweinchen übernommen. Der ist für Menschen tabu ? außer für Liebende, die manchmal ins Wäldchen gehen. Einer der wenigen Bereiche, die ein bisschen Privatsphäre bieten.«
Eine fremde Kraft durchzuckt Arukes Körper und schiebt sie näher an den Abgrund. Gleichzeitig kriecht etwas Bewegliches durch den Tunnel ihrer Vagina. Der Druck ist kaum auszuhalten. Aruke schiebt beide Hände in die Shorts, presst von außen...