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Sidsel
Das Gefühl, das sie in den letzten Tagen gestört hat, ergibt endlich einen Sinn. Angeekelt und gleichzeitig zunehmend fasziniert beobachtet Sidsel, wie sich das anderthalb Zentimeter lange, fadenähnliche Wesen in der Kloschüssel windet. Es ist Viertel nach zwei in der Nacht, und sie kann nichts tun. Die Apotheken öffnen erst morgen wieder. Wenn sie Madenwürmer hat, dann hat Laura sie auch, und wenn Laura Würmer hat, ist sie nicht die Einzige in ihrer Kindergartengruppe. Es wird so kommen wie damals mit den Läusen, eine demokratische Plage, die Verbote und Mahnungen nach sich zieht und erst in der Behandlungsphase die Spreu vom Weizen trennt (wer kämmt jeden Abend?). Alle hatten sie, und wer sie nicht hatte, bekam sie, und wer sie gehabt hatte, bekam sie noch einmal oder war sie vielleicht gar nicht erst losgeworden. Erwachsene Frauen flochten sich Mozartzöpfe, und Sidsel beneidete jene Mütter, die ihr Haar unter strammen, eleganten Kopftüchern verbargen. Allerdings kann sie sich nur schwer vorstellen, dass Esthers Mutter Würmer hat oder Ibrahims Vater, der so groß und wohlriechend ist und so ernsthaft, wenn er ganz normale Sachen wie guten Morgen und auf Wiedersehen sagt. Ibrahims Vater, der in diesem Moment neben Ibrahims Mutter schläft, während Sissel schlaflos allein im Badezimmer steht, zweiunddreißig Jahre alt und mit Würmern im Hintern.
Vergisst sie wirklich so oft, sich die Hände zu waschen?
Sie hat keine Angst vor Bakterien, so war es schon immer.
Als Sidsel mit Laura in Elternzeit war, hatte sie stets eine Flasche Handdesinfektionsmittel dabei, weil die anderen aus ihrer Müttergruppe es auch so machten. Doch sie benutzte es nie, und nachdem der Deckel abgebrochen war, roch das Futter der Windeltasche noch ewig nach Limoncello. Schon nach dem ersten Monat hörte sie auf, die Schnuller auszukochen, steckte sie einfach nur kurz in ihren eigenen Mund, und wenn Sand daran klebte, spuckte sie ihn aus.
Auf der staatlichen Gesundheitsseite kann sie lesen, dass sich der erwachsene Wurm im ersten Teil des Dickdarms lose an der Schleimhaut festsetzt. Schwangere Würmer kriechen durch den Anus in die umliegende Haut, wo sie bis zu zehntausend Eier legen. Das geschieht oft in der Nacht.
Sidsel legt ihr Handy auf den Rand des Waschbeckens und drückt die Spülung.
Da war es wieder. Das Gefühl, jemand würde mit einem feinen Stift etwas auf die Innenseite ihres Enddarms kritzeln, ein winziges Kissen besticken.
Sie holt einen Stuhl aus der Küche, steigt darauf, zieht die Unterhose bis zu den Knien herunter und spreizt vor dem Spiegel mit den Händen ihre Pobacken auseinander. Derart nach außen gekehrt und glänzend wirkt das Arschloch wie ein Organ, wie etwas, das tiefer im Körper sitzen sollte. Sie weitet es noch mehr mit den Händen. Als sie etwas Weißes aufblitzen sieht, jagt sie ihren Zeigefinger hinein. Er ist kalt und trocken, es schmerzt. Natürlich fängt man auf die Weise nichts. Sie wäscht erneut ihre Hände, erst mit Seife, dann mit Spülmittel, ehe sie wieder ins Bett geht und zu weinen versucht, mit Augen, die sich anfühlen wie in der Sonne versengte Steine, denn eigentlich ist es vor allem lächerlich.
Am nächsten Morgen ist Laura ganz aus dem Häuschen.
»Warum steht der denn hier?«, ruft sie aus dem Badezimmer, diesmal lauter, weil Sidsel beim ersten Mal nicht reagiert hatte.
»Den brauchte ich gestern«, ruft sie und zieht das Rollo hoch. Es regnet noch, und auf der anderen Seite brennt nirgends Licht außer in dem Fenster, das nicht zählt. Der alte Mann mit der Geranie und den roten Kerzen lässt immer über Nacht eine Lampe brennen. Es ist gerade mal sechs Uhr, Sidsel hat insgesamt vier Stunden geschlafen, und die Kopfschmerzen ziehen sich durch ihre linke Schädelhälfte und bis in die Hand hinunter, als sie sich vorbeugt, um in ihre Jeans zu steigen.
»Ich komme ja gar nicht vorbei!«, kreischt Laura glücklich.
»Dann stell ihn weg«, sagt Sidsel, »oder nein, warte kurz. Lass ihn stehen, ich helfe dir.«
»Musstest du an irgendwas rankommen?«, fragt Laura, als ihre Mutter wieder im Badezimmer steht. Sidsel kann sich nicht erinnern, wann ihr auffiel, dass Laura weder den Aufsatz noch einen Tritthocker brauchte, sondern allein auf die Toilette gehen konnte. Ihr dickes, dunkles Haar hat sich über Nacht gelöst und hängt ihr ins Gesicht. Sidsel nimmt ein Haargummi und bindet Lauras Haare oben auf dem Kopf zusammen.
»Nein, keine Palme, richtige Zöpfe!« Laura schüttelt heftig den Kopf.
»Die flechten wir später«, erwidert Sidsel, »nach dem Frühstück. Lau, ich muss dich was fragen .«
Das Mädchen blickt auf, bemerkt die Veränderung im Ton der Mutter. Wie viele Kinder hat sie dieses seismographische Gespür.
»Hast du irgendetwas in deinem Po gemerkt? Etwas, das juckt?«
Laura denkt nach.
»Nein, eigentlich gar nicht.«
»Auch nicht gestern beim Einschlafen?«
»Nein.«
»Dann ruf mich, wenn du fertig bist.«
»Du hast versprochen, mir Zöpfe zu flechten.«
»Nach dem Frühstück, habe ich gesagt. Und ruf mich, wenn du fertig bist, du darfst nicht spülen.«
»Warum?«
»Weil ich kurz etwas nachgucken muss.«
Obwohl Sidsel sogar mit einem Essstäbchen, das sie in der Küchenschublade gefunden hat, in der Scheiße herumstochert, ist nichts zu sehen. Laura hüpft hinter ihr auf und ab, ganz aufgeregt wegen all des Unerwarteten, das dieser Morgen bietet. Erst der Stuhl im Bad und dann das: ihre Mutter, die sich auf der Suche nach irgendetwas Geheimnisvollem in ihrer Kacke über das Klo beugt!
Mit einem Knurren wirft Sidsel das Stäbchen in die Dusche und zieht sich den Plastikhandschuh aus. Manchmal ist sie doch froh, dass es nur sie und Laura gibt und keine weiteren Zeugen dieser dunklen und chaotischen Tagesanfänge.
Sie zieht eine Nummer, es sind noch acht Kunden vor ihr, und während sie zwischen den Regalen wartet, fallen ihr auch ein paar andere Sachen ein, die sie gut gebrauchen könnte: Deo, Schrundensalbe, Feuchtigkeitscreme für Lauras Wangen und Vitaminpillen. Warum um alles in der Welt nehmen sie die nicht schon längst? Wenigstens etwas. Und Reinigungsmilch, sie hat sich lange mit Wasser und einem Lappen begnügt, ihre Haut könnte eine Pflege vertragen. Reinigung, Toner, Feuchtigkeitscreme und ein breites Stirnband, um die Haare aus dem Gesicht zu halten.
Als der Apotheker die Waren in die Kasse eingegeben hat, muss Sidsel ihren Schreck darüber verbergen, dass sie beinahe die Tabletten vergessen hätte.
»Ach ja, und dann bräuchte ich noch etwas gegen Würmer.«
»Da würde ich Mebendazol empfehlen. Wie viele Personen sind befallen?«
»Ein Kind und eine Erwachsene.«
»Danke.«
Zum Glück tippt er ganz geschäftig weiter.
»Und es gibt keine weiteren Personen im Haushalt?«
Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet.
»Es ist so, dass alle, die sich regelmäßig in einem betroffenen Haushalt aufhalten, eine solche Kur machen sollten. Sonst kommt es zu Kreuzinfektionen, und man muss wieder von vorn anfangen.«
Kreuzinfektionen.
»Verstehe«, sagt Sidsel, »das wäre natürlich nicht schön.«
»Also sind es nur zwei? Ein Kind und eine erwachsene Person?«
»Geben Sie mir drei. Zwei Erwachsene und ein Kind.«
»Gerne«, sagt der Apotheker mit einem zufriedenen Schniefen, »und zusätzlich sollten Sie besonders streng auf die Hygiene achten und in der nächsten Zeit oft die Bettwäsche wechseln. Außerdem wäre es gut, die Nägel ganz kurz zu schneiden«, er hält seine eigene Hand hoch, »weil sich die Eier gern unter die Ränder setzen und über den Mund in den Körper gelangen, und dann geht der ganze Ärger von Neuem los.«
An das Paracetamol, das ihren Kopf sanft betäubt durch den Tag getragen hätte, denkt sie erst, als sie das Transportfahrrad am schmiedeeisernen Zaun anschließt. Jetzt lässt es sich nicht mehr ändern. Auf der anderen Seite trennt ein schmaler Grasstreifen den Personaleingang des Museums vom Bürgersteig. Die Eichentür aufzuschließen und dem Wachmann in seinem Glaskasten zuzunicken erfüllt sie immer noch mit einer besonderen Freude, doch heute nimmt Sidsel sie gar nicht wahr. Der Ärger darüber, zu spät zu kommen, verdrängt sofort alles. Im Foyer schält sie sich aus der Regenhose und fährt sich mit der Hand durchs Haar, das kurz ist und dunkelblond. Nach der Schwangerschaft wurde es nie wieder so wie vorher, weshalb sie es vor einigen Jahren auf den Rat des Friseurs hin abschneiden ließ. Inzwischen gefällt es ihr, wie die Frisur ihr Gesicht härter macht, denn im Gegensatz zu ihren Geschwistern hat Sidsel nicht die Züge ihres Vaters geerbt. Ihre Haut ist hell und empfindlich, die Kinnpartie wirkt etwas weich. Von den Wangenknochen, dem scharfgeschnittenen Amorbogen und dem breiten, geraden Nasenrücken ist bei ihr keine Spur zu finden. Dafür besitzt sie das Charisma ihrer Mutter. Die Menschen mögen Sidsel. In ihrer Gegenwart fühlt man sich sofort wohl, wohingegen ihre Geschwister, und zwar beide, im ersten Moment gewöhnungsbedürftig sind.
In der Garderobe meidet sie den Blick in den Spiegel und eilt in Richtung Werkstatt, wo sie schon längst bei der Arbeit sein...
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