Kapitel 1
Wer die Hände in den Schoß legt, muss nicht untätig sein
(wie schon Casanova wusste)
»Uuuuuunnnnghhhhh«, machte der Mann.
Die allermeisten Männer machen uuuuunnnnghhh in diesem Moment der Erfüllung (oder Entleerung). Andere grunzen oder gurgeln oder stammeln unartikulierte Wortfetzen, manche rufen nach ihrer Mama. Doch, tatsächlich - nach ihrer Mama. Auch der liebe Gott im Himmel wird zuweilen bemüht, vielleicht aus Dankbarkeit oder in nachgerade religiöser Ekstase, keine Ahnung. Ich hatte mir schon oft vorgenommen, eine Strichliste zu führen, vergesse es aber immer wieder.
Was aber feststeht, ist, dass uuuuunnnnghhh die Charts unangefochten anführen wird.
Todsicher.
Auf das uuuuunnnnghhh folgt traditionell Stille. Tiefe, erschöpfte, im Optimalfall zufriedene Stille. Dann hatte ich meine Sache gut gemacht.
So wie jetzt. Ich musste einfach abwarten, dass er wieder zu Sinnen kommen würde, und blätterte derweil müßig in dem zerlesenen Klatschblättchen, das über der Tastatur lag. Ich hatte jede Menge Zeit, die Uhr tickte ja weiter.
Sieh da, dieses frisch getrennte internationale Topmodel hat also angeblich einen Neuen, ist ja interessant . Ich studierte die Hochglanzfotos der spektakulär geschminkten Stabheuschrecke - eine andere Bezeichnung für dieses klapperdürre pseudoweibliche Wesen fiel mir beim besten Willen nicht ein -, die mit gelangweiltem Gesichtsausdruck sündhaft teure Kleider vorführte. Bevor ich mich in den mehrseitigen Artikel, der bestimmt ein Musterbeispiel für investigativen Journalismus und eines Pulitzer-Preises würdig sein würde, vertiefen konnte, hatte die Stille ein Ende und der Mann meldete sich wieder zu Wort.
»Du bist die Beste, Ludmilla«, sagte er. »War es für dich auch so schön?«
Klassiker: War es für dich auch so schön? Aber sicher, Schatz, was sonst? Hast du das denn nicht gemerkt? Ehrlich - hätte man mir für jedes War es für dich auch so schön?, das ich hier zu hören bekam, stattdessen einen Fünfer gegeben, würde ich Ferrari fahren, in einem Schloss wohnen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Oh, ihr armen Naiven .
»Natürlich, das weißt du doch, Liebling«, gurrte ich mit schwerem russischen Akzent, »du machst mich immer ganz verrückt.«
Der Mann lachte geschmeichelt. »Dann bis morgen. Wir haben einen Termin, meine Süße.«
Mit der genau richtigen - weil nur dann überzeugenden - Dosis Enthusiasmus und Vorfreude in der Stimme säuselte ich: »Ich freue mich schon.«
Der Mann legte auf, und ich drückte die Pausentaste des Telefons. Ludmilla, die rassige Russin, brauchte dringend mal ein paar Minuten für sich. Ich nahm mein Headset ab und wurde von einer vielstimmigen Woge aus Stöhnen, Liebesgesäusel und herrisch gebellten Befehlen überschwemmt.
In der Kabine links neben mir schlug Diana mit einem?Holzlineal rhythmisch auf ihren Tisch, hörte dann plötzlich damit auf und schrie: »Erst morgen kriegst du mehr, verstanden? Heute bist du mir nicht dankbar genug!«
Genau wie ich nahm sie ihr Headset ab und klinkte sich aus der Leitung aus. Dann drehte sie sich zu mir um, zog eine Grimasse und sagte: »Echt zum Abgewöhnen, diese Luschen. Kleine Pause?«
Wir setzten uns auf die Bank vor dem Gebäude. Diana steckte sich sofort eine Zigarette an. Sie blinzelte in die Sonne und inhalierte tief. Dann sagte sie: »Gibt noch Regen heute. Macht aber nix. Hab ja jetzt ein Dach über der Terrasse.«
»Dank Frank.«
»Genau. Dank Frank.« Sie rauchte ein paar Züge. »Und sonz? Du warst heute Morgen zu spät.«
»Ach was? Hab ich gar nicht gemerkt.«
»Ärger zu Hause?«
»Und wenn?«
Sie musterte mich aufmerksam von der Seite, während ich stur geradeaus starrte und vorgab, der vergebliche Einparkversuch einer Frau mit einem viel zu großen Auto auf dem Supermarktparkplatz gegenüber beanspruche meine gesamte Aufmerksamkeit. Einscheren, zurücksetzen, Gang nicht finden, krrrrrrcks, Gang finden, aufheulender Motor, wieder vor, wieder zurück . Alles höhnisch kommentiert von einer Horde halbwüchsiger Bengel mit Skateboards, die das Drama mit ihren Handys filmten. Bei ihrer ersten Fahrstunde, die noch einige Jahre in der Zukunft lag, würden sie bestimmt reichlich doof gucken, wenn sie einparken sollten - aber für den Moment ging es ihnen nur um gutes Material fürs Internet. Schließlich gab die Frau entnervt auf und fuhr zu einer anderen Parklücke, bei der das Spielchen wieder von vorn begann. Die Bengel klatschten sich feixend ab, stiegen auf ihre Boards und rollten ihr hinterher.
»Wieso müssen diese blondierten Tussen eigentlich in der Stadt einen Geländewagen fahren?«, nörgelte ich um des Nörgelns willen. »Den sie zudem nicht im Griff haben? Könnte mir das bitte mal jemand erklären?«
»Ruf doch die Auskunft an und frag.«
»Super Tipp. Danke. Du bist echt die Allerklügste.«
Diana atmete geräuschvoll aus. »Willst du mir mit deiner schlechten Laune die hart verdiente Pause vermiesen? Ist es das? Lass deinen Frust nicht an mir aus, Loretta. Wirf den Knallkopp endlich raus.«
»Leichter gesagt als getan.«
»Falsch. Ganz leicht: Du gehst zu ihm und sagst: Zieh aus, du dämlicher Knallkopp.«
»Nach sieben Jahren geht man doch nicht einfach zu seinem Freund und .«
»Erzähl mir nicht, du liebst ihn noch«, unterbrach sie mich, was ich ziemlich unhöflich fand. Das gehörte sich einfach nicht. Nicht die Tatsache, dass sie meine Liebe zu Tom infrage stellte, sondern dass sie mir so rüde ins Wort fiel.
»Natürlich liebe ich . äh, also wirklich .«, stammelte ich los, aber dann gingen mir abrupt die Worte aus. Konnte ich wirklich behaupten, meinen Lebensgefährten noch zu lieben? Tat ich das tatsächlich? Verdammt.
Dankenswerterweise bohrte Diana nicht weiter nach.
Bis sie die Zigarette aufgeraucht hatte und wir für die letzten zwei Stunden unserer Schicht wieder hineingingen, saßen wir schweigend nebeneinander und vertrieben uns mit dem noch immer andauernden Drama auf dem Parkplatz gegenüber die Zeit.
Mein Arbeitsplatz war eine Kabine mit Wänden aus Plexiglas, in einem großen Raum, in dem zwanzig solcher Kabinen standen. In jeder saß eine Frau oder ein Mann mit einem Headset auf dem Kopf vor einem Computermonitor. Frauen und Männer jeglichen Alters, darunter Hausfrauen, Studentinnen, arbeitslose Akademiker, Lehrerinnen oder gelernte Fleischereifachverkäuferinnen, auch einige Rentnerinnen. Es waren deutlich mehr Frauen als Männer, denn es riefen deutlich mehr Männer bei unserer Hotline an - und die wenigsten davon waren schwul.
Die älteste Kollegin war Doris, 72. Sie hatte eine Stimme wie ein junges Mädchen und einen Wortschatz wie eine heruntergekommene Hafennutte. Ihr grellrot gefärbter Bubikopf strahlte wie das nächtliche Signalfeuer eines Leuchtturms. Bei ihrer Vorliebe für Modeschmuck, den sie massenhaft trug, wunderte ich mich immer wieder, dass sie nicht stets von Elstern verfolgt wurde, die ihr das glitzernde Geschmeide vom Leib klauen wollten. Ich war schon nicht die Größte, aber sie ging mir nur bis zum Kinn. Doris war so etwas wie die Mutter der Kompanie, hörte sich unsere Sorgen an und versorgte uns mit selbst gebackenem Kuchen. Ihre Qualitäten als Lebensberaterin waren legendär. Außer Diana war sie die Einzige, die von meinen Problemen in meiner Beziehung wusste.
Aber sie und mich verband mehr als der gleiche Job - durch sie war ich überhaupt erst hier gelandet. Als wir uns begegneten, arbeitete ich in einem Jeansladen, in dem Doris regelmäßig Kundin war. Irgendwann kamen wir ins Gespräch und sie fragte mich: »Was verdienen Sie hier eigentlich?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Reichtümer, aber ich komme klar.«
»Sie haben eine wunderbare Stimme«, sagte sie, »und wir sollten uns mal unterhalten. Sie sind doch nicht . spießig, oder?« Sie lachte, und ihre langen Halsketten klimperten mit ihren Ohrringen um die Wette.
»Ich denke nicht«, erwiderte ich.
Sie bat mich um einen Notizzettel und schrieb ihre Telefonnummer darauf. »Rufen Sie mich an, Kindchen.«
Zwei Tage später saß ich auf ihrer Veranda, stopfte mich zum ersten von vielen Malen mit ihrem selbst gebackenen Kuchen voll und hörte staunend zu, während sie mir von ihrem Job erzählte. Vielleicht lag es an ihrem Alter, dass eventuell in mir schlummernde Vorurteile gegenüber dieser Art der Hotline-Arbeit erst gar nicht erwachen konnten. Vier Tage später fand mein Vorstellungsgespräch statt; das war jetzt knapp sechs Jahre her.
Doris pflegte schrillfarbene Strampler für ihren jüngst geborenen Urenkel zu stricken, während sie telefonierte. Andere lasen dicke Romane, lernten für die Uni, lösten Kreuzworträtsel oder schrieben die Einkaufsliste für die geplante Wohnzimmerrenovierung - was man halt so alles macht, um sich zu beschäftigen.
Ich hatte in meinem Leben schon blöde, langweilige Jobs gehabt. Notlösungen, um Geld zu verdienen, wie besagter Jeansladen. Mein Studium hatte ich abgebrochen, danach zehn Jahre in der Gastronomie gearbeitet. Der Traumjob in einer Veranstaltungsagentur funktionierte einige Jahre, dann machte die Firma Pleite. Und ohne abgeschlossene Ausbildung blieben ab einem gewissen Alter halt nur Notlösungen übrig, wie ich rasch feststellte.
An meiner jetzigen Arbeit schätzte ich besonders, dass es vollkommen egal war, wie ich aussah, wenn ich mein Headset aufsetzte. Selbst in dem dämlichen Jeansladen hatte es einen Dresscode gegeben, denn von uns wurde erwartet, dass wir uns aus dem Sortiment einkleideten. Dadurch war ich manchmal gezwungen,...