Prolog
Nordseewind und Möwenschiss - ein Wattspaziergang endet mit einer Überraschung
Seit einer gefühlten halben Stunde stand ich regungslos da und starrte den Mann an, der am Wall unserer Strandburg lehnte.
Den toten Mann, der am Wall unserer Strandburg lehnte, sollte ich der Vollständigkeit halber sagen.
Wahrscheinlich waren es nur wenige Minuten, aber als ich ihn entdeckt hatte, war einfach die Zeit stehengeblieben.
Der frühmorgendliche, frische Nordseewind ließ nicht nur mein, sondern auch sein Haar lustig flattern. Minisanddünen auf den Ärmeln seiner sündteuren, marineblauen Windjacke zeugten davon, dass er schon länger hier saß.
Für den Strand war er eindeutig overdressed, so in naturfarbener Leinenhose, rotem Seidenstrickpulli und teuren Schuhen mit Noppensohle. Allerdings war sein Seidenschal mit farblich exakt zur Kleidung passendem Paisleymuster nicht männlich-lässig geschlungen, sondern eng um seinen Hals gezurrt, festgezogen und verknotet. Sein Gesicht sah aus, als hätte er vor seinem Ableben gerade noch kurz Zeit gehabt, darüber verdutzt zu sein, dass er nicht besonders gut Luft bekam.
Sein Tod war bestimmt nicht der Möglichkeit geschuldet, dass seine Fertigkeit im Drapieren eines Seidenschals nur unterdurchschnittlich war. Ich wusste, dass er es konnte. Sonst pflegte er diesen Schal ganz locker zu tragen, wie zufällig umgeworfen und gekonnt nachlässig arrangiert - so cool halt, wie ich selbst es nie hinkriegte. So sehr ich mich auch bemühte.
Das war kein Unfall gewesen, nie im Leben.
Mit dem Rücken lehnte er am Wall aus Sand, die Beine ausgestreckt. Halb verdeckte er das Wort RUHRPOTT, das Frank in mühevoller Filigrantechnik aus winzigen Muscheln zusammengeklöppelt hatte. Alles, was ich noch lesen konnte, war das erste R, dann kam der tote Mann, dann OTT.
Ich unterdrückte ein hysterisches Kichern, das unbedingt herauswollte. Die Vorstellung, dass der Mann Rott hieß und die Position seiner Leiche sorgfältig arrangiert war, hätte gut in eine schwarze Filmkomödie gepasst. Und dass sein Mörder stundenlang mit der Leiche auf dem Buckel über den Strand geirrt war, bis er unsere Strandburg fand, die ihm dieses ausdrucksstarke Tableau ermöglichte.
Zufälligerweise wusste ich allerdings, dass der Mann nicht Rott hieß.
Ich konnte keine Kampfspuren entdecken. Weder war der Sand zerwühlt, noch waren Franks hochkünstlerische Muschel-Mosaike an irgendeiner Stelle zerstört. Jemand hatte den toten Mann hierhergebracht und an unsere Sandburg gesetzt.
Ich tastete nach meinem Handy, aber dann fiel mir ein, dass ich es nicht eingesteckt hatte. Wozu auch? Ich wollte doch vor dem Frühstück nur ein wenig wattwandern. Um kurz vor 7 Uhr hatte ich mir das Fahrrad geschnappt und war losgeradelt. Auf dem Rückweg wollte ich Brötchen holen, und dann hätten wir zusammen gefrühstückt und einen schönen Urlaubstag geplant. Na ja, so ganz megatoll wäre er nach den Ereignissen bei der Vernissage vielleicht nicht geworden, aber auf jeden Fall besser als ein Tag, in dem eine Leiche vorkam.
Ich seufzte.
Satz mit X - war wohl nix.
Vom Watt aus war mir aufgefallen, dass an diesem kleinen Strandabschnitt, an dem ich mich jetzt befand, eine ganze Horde Möwen dicht gedrängt auf den Strandkörben hockte. Sie schienen auf irgendetwas in ihrer Mitte zu starren. Das hatte meine Neugier geweckt.
Je näher ich kam, desto klarer wurde mir, dass unsere Strandburg das Zentrum des krummschnabeligen Interesses bildete. Ich brauchte also keine Zeit damit zu vergeuden, mich über meine Neugier zu ärgern. Ob wir jetzt sofort oder erst später in die Sache mit reingezogen wurden, war dann auch schon egal.
Die Möwen waren widerwillig hochgeflattert, als ich mich genähert hatte. Einer von ihnen hatte es noch gefallen, dem Toten auf die linke Schulter zu kacken. Ich kratzte mich nervös. Ich musste der Polizei unbedingt sagen, dass dieser dreiste Vogel den Tatort verändert hatte. Jetzt saßen die Möwen ein paar Strandkörbe weiter, machten keinen Pieps und beäugten mich von dort aus.
Tatsache blieb: Ich musste die Polizei anrufen, und zwar so schnell wie möglich. Kurz rang ich mit mir, ob ich mich nicht einfach verkrümeln sollte, doch dann siegte die hervorragend sozialisierte Bürgerin in mir.
Du findest eine Leiche, du informierst schnellstmöglich die Ordnungshüter.
Und - machen wir uns nichts vor - mit derlei Situationen hatte ich mehr Erfahrung, als mir lieb war. Die Polizei würde früher oder später ohnehin vor unserer Tür stehen, denn der Mann befand sich innerhalb unseres momentanen Hoheitsgebietes, Ruhrpott/Außenstelle Nordseestrand, das Frank durch die muschelbeschrifteten Burgmauern eindeutig markiert hatte. Also: Wir hingen eh drin.
Kurz erwog ich, die Strandkörbe weit weg zu schleppen. Probehalber zerrte ich an einem der Ungetüme herum, aber die vage Hoffnung, meine Verzweiflung möge mir übermenschliche Kräfte verleihen, erfüllte sich nicht.
Möglichkeit Nummer 2: den toten Mann verschwinden lassen. Ins Watt schleifen und einfach abwarten, bis die Flut den Rest erledigte und ihn wegschwemmte. Möglichst weit weg von unserer Strandburg. Nach Neuseeland am besten.
Ging auch nicht ohne Hilfe.
Mir blieb einfach keine Wahl, als meiner Bürgerpflicht nachzukommen, ob ich wollte oder nicht. Aber wie kam ich hier und jetzt an ein Telefon?
Die Jungs vom DRLG waren noch nicht da, der Kiosk war ebenfalls noch geschlossen. Weit und breit gab es am Strand niemanden außer mir und den verdammten Möwen. Ich reckte den Hals und entdeckte im Watt einen Mann, der sich langsam entlang der Küste entfernte. Vorhin hatte ich ihn nicht bemerkt, aber wahrscheinlich war er durch einen der anderen Eingänge über den Deich an den Strand gekommen und erst gerade ins Watt gegangen. Von Zeit zu Zeit bückte er sich und hob etwas auf.
Genau das hätte heute Morgen auch meine einzige Beschäftigung sein sollen: im Watt herumspazieren und von Zeit zu Zeit etwas aufheben - Austernschalen, Krebspanzer, hübsche Häuser von Einsiedlerkrebsen und dergleichen. Was man halt im Urlaub an der Nordsee so sammelt, um es als Erinnerung mit nach Hause zu schleppen, wo es eine Zeit lang vor sich hin stinkt, bis es schließlich entsorgt wird. Und was stand stattdessen auf meiner aufgezwungenen To-do-Liste? Genau.
»He! Sie da! Im Watt!«, schrie ich und rannte armfuchtelnd auf ihn zu. »Warten Sie bitte!«
Der Mann stutzte und blickte sich suchend um. Als er mich entdeckte, rief er zurück: »Wer - ich?«
Nein, der fliegende Holländer, dachte ich grimmig, wen außer dir soll ich wohl sonst meinen, du Honk? Er war außer mir das einzige menschliche Lebewesen weit und breit. Und hier konnte man echt weit gucken. Natürlich war es nicht fair von mir, ihn zu beschimpfen, wenn auch nur gedanklich. Aber meine Laune war nicht die beste, wie man sich vorstellen kann.
»Ja, Sie!«, keuchte ich. Es war verdammt mühsam, durch den weichen Sand zu rennen.
Er stemmte die Hände in die Seiten, kam aber keinen Schritt näher. Na ja, immerhin wartete er und ging nicht einfach weiter. Ich pitschte durchs Watt auf ihn zu.
»Haben Sie ein Telefon bei sich?«, fragte ich schwer atmend, als ich ihn schließlich erreicht hatte.
»Wozu wollen Sie das wissen?« Er musterte mich argwöhnisch, seine ganze Körperhaltung drückte Misstrauen aus. »Wer sind Sie denn überhaupt?«
Herrgott, was dachte der Mann? Dass ich sein bescheuertes Handy klauen wollte? Gegen ihn hätte ich zu Fuß sowieso keine Chance gehabt. Er war sehnig und durchtrainiert wie ein Marathonläufer. Ich hätte alles darauf gewettet, dass er zum Strand gejoggt war, statt das Fahrrad oder gar ein Auto zu benutzen. Und welche Rolle spielte es, wer ich war? Wollte er meinen Namen wissen, damit die Polizei nach mir fahnden konnte, falls ich mit seinem kostbaren Handy Fersengeld gab?
»Ich muss unbedingt sofort die Polizei anrufen und habe meins nicht dabei«, sagte ich.
»Die Polizei? Wieso das denn?«
Um dich für deine blöden Fragen verhaften zu lassen, hätte ich am liebsten gebrüllt. Er sollte mir einfach das Handy geben, verdammt. Ich beherrschte mich, deutete mit dem Daumen über meine Schulter vage in Richtung Ruhrpott-Strandburg und säuselte: »Weil dahinten eine Leiche liegt, deshalb.«
Er riss die Augen auf und reckte den Hals. »Eine Leiche? Wo denn? Zeigen Sie mal!«
Zeigen Sie mal - klar.
Im Gegensatz zu meinen Rufen war eine Leiche für ihn dann doch interessant genug, seinen Hintern in eine andere Richtung als die ursprünglich geplante zu bewegen.
Schon war er flotten Schritts auf dem Weg zum Strand, und ich hatte alle Mühe, dranzubleiben. Als wir den Sand erreichten, ging er endlich langsamer, denn schließlich wusste ich, wo die Leiche zu finden war, und er nicht.
Dann standen wir nebeneinander vor der Strandburg und beguckten den toten Mann. Die Möwen von den Strandkörben segelten über uns im Wind und krakeelten verärgert um die Wette. Noch eine von ihnen hatte dem Toten mittlerweile auf die schicke Jacke gekackt, gleich unterhalb der ersten Markierung.
»Ist ja irre«, sagte der Marathonmann, während er sein Handy aus seinem Rucksack kramte. »Mit so was rechnet man ja nun wirklich nicht.«
Wem sagst du das?, dachte ich. Dazu hätte ich ihm einiges erzählen können, das ihn ganz bestimmt zum Staunen gebracht hätte, aber jetzt und hier waren weder Zeit noch Ort für mörderische Schwänke aus meinem Leben.
Er reichte mir sein Telefon und musterte mich neugierig....