Schweitzer Fachinformationen
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Dieser Roman wagt einen ungewöhnlichen Kunstgriff: Er erzählt seine Geschichte rückwärts, von ihrem vorläufigen Ende zurück zu ihrem Beginn, vom Shanghai des Jahres 2040 zurückgespult ins Jahr 2014. Im Zentrum steht die Familie Yang: der Geschäftsmann Leo, seine Frau, die enigmatische Eko, und die drei Töchter Yumi, Yoko und Kiko.Schlaglichtartig folgen wir ihnen durch die Jahrzehnte, durch Glücksmomente und Krisen, dorthin, wo alles begann, zurück zu Leos und Ekos Hochzeitstag - in dem der Keim dessen, was noch kommen soll, bereits angelegt zu sein scheint. Eine kluge Betrachtung von Ehe und Familienbanden, von Verlust und Vergänglichkeit - und ein außergewöhnlicher Debütroman.
Januar 2040
Leo trat auf den Bahnsteig der Magnetschwebebahn. Es war die 2.025.659ste Fahrt der Maglev nach Shanghai. Hin und her, her und hin, zwischen Flughafen und Innenstadt, acht Minuten pro Strecke, 365 Tage im Jahr. Nach einem kurzen Blick auf den Fahrplan hatte Leo die Zahl im Kopf berechnet, wie er es bei jeder Fahrt mit der Maglev zu tun pflegte. Seit 2036 nahm er sie öfter, denn seitdem ging Yoko, seine mittlere Tochter, auf das Internat in Boston (wohin Yumi, ihre große Schwester, ihr bald darauf fürs College gefolgt war) und flog deshalb zweimal im Jahr um die halbe Welt und zurück.
In Gedanken war Leo bei seiner Frau und den Töchtern, von denen er sich eben an der Sicherheitskontrolle verabschiedet hatte. Inzwischen (ein kurzer Blick auf die Uhr) waren sie bestimmt schon in der Lounge und scannten ihre Bordkarten für Gate 26B, PVG-BOS ein. Sobald die Mädchen ihre identischen silbernen Rollkoffer abgestellt hätten, würde Yumi shoppen gehen - und Yoko zum Buffet. Wenn Yoko nervös war, aß sie. Eko, seine Frau, wäre mit ihrem Handy beschäftigt, dessen Akku wie immer kurz vor dem Exitus stünde. Er stellte sich die drei vor, wie sie jede für sich ihren Beschäftigungen nachgingen. Vor seinem geistigen Auge nahm eine Karte des Terminals mit all seinen Gates, Geschäften und Laufbändern Gestalt an.
Die Maglev fuhr ein und wartete surrend. Es würde noch einen Augenblick dauern, bis sich die Türen piepsend öffneten. Drin stand Leo eine nicht mehr ganz junge Zugbegleiterin gegenüber, die ihn jedoch nicht ansah. Stattdessen zupfte sie sich die zu enge Weste zurecht und dachte über ihr Nichtmehrganzjungsein nach, über ihr Nichtmehrganzschlanksein. Auch Leo nahm sie nicht richtig wahr. Er dachte daran, wie er dagegen protestiert hatte, dass Eko die beiden Mädchen begleitete. Den Streit angefangen hatte er, das sah er ein, aber seine Frau hatte ihn eskaliert. Schuld war zuerst sie gewesen, dann er, dann wieder sie. Eine alte, langweilige Geschichte.
»Das schaffen die zwei auch alleine«, hatte er gesagt. Sie hatten das doch schon so oft gemacht. Yumi und Yoko mussten sich nicht von ihrer Mutter zur Schule bringen lassen. Sich von ihr nicht die überlangen Doppelbetten beziehen lassen. Leo erwartete mehr von ihnen. Waren sie denn wirklich so gewöhnlich? So kindlich? In ihrem Alter hatte Leo bereits seit über einem Jahrzehnt auf eigenen Beinen gestanden.
Aber Eko hatte unerklärlich stur darauf bestanden, ihn mit Baby Kiko allein zu Hause zu lassen. Und dann aber auch darauf, dass er sie zum Flughafen brachte. Sie hatte ihn unter Druck gesetzt, hatte behauptet, wenn er den Abschied nicht bis zum allerletzten Punkt hinausschöbe, würden die Mädchen spüren, dass er sie nicht genug liebe, sich nicht genug Mühe gebe, sich nicht genug interessiere. Gar nicht mehr aufgehört hatte sie damit, ihm im Namen ihrer Töchter Schuldgefühle einzureden. Aber wieso eigentlich? Weil er sie nicht auf Schritt und Tritt begleitete? Vielleicht wollte Eko ja selbst gern begleitet werden. Dass ihr jemand die Hand hielt bis zum Schluss. Das war nun mal ihre japanische Seite - die verlangte Gesten. Unnütze, irrationale Gesten. Doch die Worte waren ausgesprochen worden, die Anklagepunkte vorgebracht. Und als sie erst mal in der Welt waren, hatte er wohl oder übel mitkommen müssen. Denn wären sie nur ein kleines bisschen wahr, wie sollte er damit je leben?
Während Leo sich einen Platz im Zug suchte, stellte er sich vor, wie Yumi und Yoko die Fensterplätze in der ersten und zweiten Reihe des Flugzeugs einnahmen, die er immer buchte. Sie würden Shanghai unter sich zerfließen sehen. Die ganze Stadt, ihre Weite, ihre Flüsse - das Wasser, das in den letzten zweihundert Jahren langsam über die Ufer getreten war, und dann in den letzten zwanzig Jahren immer schneller.
In der Senkrechten, dreidimensional, wuchs die Stadt nur immer weiter. In die Höhe. In die Wolken. Unten schlängelte das Wasser sich wie geschmolzenes Eisen zwischen den Gebäuden hindurch. Seine Vorfahren hatten diese Stadt auf Sumpf erbaut. In ihrem Boden floss sein Blut.
Der DNA-Test, den er vor zehn Jahren mit Eko und den Mädchen gemacht hatte, ließ auf kaum andere Wurzeln schließen: All seine Vorfahren verteilten sich auf der Weltkarte als rosa Punkte in und um Shanghai. Es war fast ein bisschen enttäuschend. Neu offenbart hatte sich nur sein Typus androgenetischen Haarausfalls (Hinterkopf) und eine hohe Wahrscheinlichkeit für Gedächtnisverlust im Alter. Eko war größtenteils japanisch und jeweils ein bisschen chinesisch, sibirisch und koreanisch. Und sie würde nie etwas vergessen. Außer vielleicht, ihr Handy aufzuladen.
Die Ergebnisse der Mädchen waren ausgefallen wie erwartet: ein panasiatischer Querschnitt aus Ekos Spektrum und dem seinen. Aber nein!, korrigierte er sich, nicht Mädchen, sondern junge Frauen! Ihm war durchaus bewusst, dass der Begriff sie infantilisierte. Schließlich war es ja auch er, der sie zum Erwachsenwerden drängte.
»Sie haben ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit«, hatte Eko gesagt.
»Das sind aber zwei verschiedene Dinge«, hatte er entgegnet. »Du musst dich schon etwas präziser ausdrücken. Sie tun zwar, was sie wollen, aber du behandelst sie wie Kinder.«
»Sie sind doch noch jung, Leo«, sagte sie. »Es muss ja nicht jeder so schnell erwachsen werden wie du. Und hast du schon mal dran gedacht, dass ich vielleicht selbst gern bei ihnen bin?«
Und dann hatte sie sich doch tatsächlich erdreistet, ihm zu erklären, er müsse loslassen. Dabei hatte er sein Leben lang nichts anderes getan.
Shana war die älteste Zugbegleiterin auf der Maglev. Womöglich auch die dickste. Nachdem sie ihrem ehemaligen Chef ihre Lage geschildert hatte, hatte er sie netterweise wieder eingestellt: Ihr Mann tot, das Kind auf dem Land bei den Großeltern. Ein Stück weit war die Rückkehr auch erleichternd. Wie lange hatte sie vom Eheleben geträumt, von einem eigenen Kind, doch dann hatte sich alles als so kompliziert entpuppt. Ihr Mann, in Frankreich aufgewachsen und unfassbar schlau, ein echtes Wunderkind, hatte ihr nie das Leben ermöglichen können, dass sie beide sich ausgemalt hatten.
Sie hatte ihn im Expresszug zwischen Shanghai und Beijing kennengelernt. Damals, vor zehn Jahren, war sie zweiundzwanzig und schön gewesen. Sie schritt die Reihen ab, verteilte heiße Tücher und erntete Blicke und Komplimente für ihr langes, pechschwarzes Haar. Die Männer drehten sich sogar nach ihr um. Das sah sie aus dem Augenwinkel, während sie die dampfenden Tücher ausgab.
»Wie heißen Sie denn?«
»Wie lange arbeiten Sie schon im Zug?«
»Wo kommen Sie her?«
Shana. Seit vier Jahren. Aus Kunshan. Nelson, der so viel älter war als sie, aber auch kokett, flirty, bombardierte sie mit Fragen, die über die üblichen hinausgingen, die alleinreisende Männer ihr sonst stellten. Und dann, in Beijing, blieb er einfach im Zug sitzen. Solange sie bliebe, wolle auch er bleiben. Nur mit ihr würde er aussteigen. Er machte eine richtige Szene, klammerte sich an der Armlehne fest, als sein Freund ihn fortziehen wollte. Am Abend traf sie sich mit ihm, und er überredete sie, zu kündigen und bei ihm einzuziehen. Kein halbes Jahr später waren sie verheiratet. Bevor sie versuchten, ein Kind zu bekommen, warteten sie die erforderlichen zwei Jahre ab, nach denen ihr Körper eine eventuelle Strahlenbelastung von der Arbeit im Zug abgebaut hätte. Dann kam sofort Michael.
Als sie sich vor ein paar Monaten gemeldet hatte und ihre Stelle zurückwollte, war ihr Chef nicht gerade begeistert gewesen. Im Express sei zwischen Shanghai und Beijing nichts mehr frei, gab er zur Auskunft. »Und im normalen Zug?«, fragte sie.
Eine lange Pause, dann sagte er schließlich: »In der Maglev vom Flughafen Pudong gäb's noch was.« Die Airport-Maglev war kein Spitzenjob. Nur eine Kurzstrecke in die Stadt und zurück. Lange nicht so schick wie die Maglevs zwischen Shanghai und Beijing oder Shanghai und Hongkong, jene erst kürzlich fertiggestellten Zwei-Stunden-Strecken. Die Pudong-Maglev verwendete noch die alte Technologie, wirkte inzwischen archaisch. Im Grunde zu nichts zu gebrauchen - eine Touristenfalle, ein Testmodell. Alle darin waren vollgepackt mit schweren Koffern, und keiner kannte sich aus.
Shana hatte ein paar Kilo zugelegt. In allen übrigen Wagen arbeiteten nur hübsche Mädchen: Ihre Westen saßen leicht auf ihren Wespentaillen. Shanas war zu eng und zu kurz und warf ständig Falten über ihrem Bauch. Sie wünschte sich ihr Leben vor Nelson zurück. Sie wünschte sich einen Teil ihres Lebens mit Nelson zurück. Jetzt war sie wieder bei der Arbeit. Jetzt war sie wieder ein Maglev-Girl. Sie rückte sich den blauen Hut zurecht und zog die Weste straff, während die Passagiere an ihr vorbeiströmten.
Warum wollte Eko wirklich mitfliegen? Am Ende hatte sie Leo doch zugestimmt, dass ihre Töchter keine Kinder mehr waren. Sie flogen ständig, nach Kyoto, Tokio und Paris, sie waren erfahrene Reisende. Was verheimlichte sie also vor ihm, was trieb sie in Wahrheit fort? Einmal, zweimal, dreimal hatte Leo sie danach gefragt und gewusst, dass die Wahrscheinlichkeit einer ehrlichen Antwort mit jedem Mal abnahm. Sie war ein Dickkopf. Leo allerdings auch. Da konnte sie noch so lange um die Wahrheit herumtanzen, am Ende würde er sie doch zutage fördern, sie von ganz tief unten ausgraben.
In der Maglev dämmerte es ihm. Nur der Anflug einer Idee, die zwar hässlich und gemein war, der er jedoch furchtlos ins Auge sehen würde: Sie wollte gar nicht ihren Töchtern helfen. Sie wollte nur fort von ihm....
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