Schweitzer Fachinformationen
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Seit Tagen schlief Michalis unruhig. Auch in dieser Nacht war er wach, als die Hauswand gegenüber noch im Dunkeln lag und lediglich ein silberner Schimmer des Monds zu erkennen war. Aus der Ferne hörte er die tuckernden Motorengeräusche der Fischerboote, die bald nach Sonnenaufgang im kleinen Fischerhafen von Chania anlegen würden.
Hannah hatte sich immer wieder umgedreht, und als sie endlich ruhig atmete, war Michalis hellwach. Seine Freundin haderte mit ihrer Zukunft, und ihm war klar, dass er sie nicht drängen durfte.
Vor zwei Wochen war Hannah auf Kreta gelandet, und die gesamte Familie Charisteas war aufgeregt zum Flughafen gefahren, um Frau Doktor Hannah Weingarten in Empfang zu nehmen. Da hatte Michalis bereits gewusst, dass seine Freundin Sorgen hatte, und nach ein paar Tagen war es auch seiner Familie aufgefallen. Hannah hatte sich zwar bemüht, fröhlich und unbeschwert zu erscheinen, doch es war ihr nicht immer gelungen.
»Wenn Hannah jetzt ein Doktor ist, kann sie dann auch operieren? Und im Krankenhaus Leute gesund machen?«, hatte Loukia, Michalis' jüngste Nichte, wissen wollen. Natürlich konnte Hannah das nicht, sie hatte einen Doktor in Kunstgeschichte, aber das musste eine Achtjährige nicht verstehen.
»Wenn ich wüsste, wie es bei mir weitergeht, dann wäre alles einfacher«, hatte Hannah geflüstert, als sie beide nachts wach lagen. Sie hatte zwar ihren Doktortitel für ihre Arbeit über El Greco, den von Kreta stammenden Maler, mit Auszeichnung gemacht, jedoch keinen Job, und das frustrierte sie zutiefst. Der Plan, mit ihrem Doktorvater van Drongelen die nächsten zwei Jahre in Berlin, Madrid, Athen und auf Kreta eine internationale Gesamtschau El Grecos auf die Beine zu stellen, war geplatzt. Die spanische Regierung hatte sich aus der Finanzierung zurückgezogen, und an ihrer Stelle war eine große deutsche Autofirma eingesprungen. Hannah war von Anfang an skeptisch gewesen, ob das gut gehen könnte, und hatte recht behalten. Van Drongelen war ausgestiegen, als die Autobosse Einfluss nehmen wollten, weil er die Freiheit der Kunst bedroht sah. Deshalb wollte Hannah eigentlich nicht nach Kreta fliegen, sondern in Berlin Kontakte knüpfen und sich weltweit auf Stellenausschreibungen bewerben, doch da sie mit Freunden schon lange ausgemacht hatte, zur gleichen Zeit auf Kreta zu sein und ihnen die Insel zu zeigen, war sie schließlich doch geflogen.
Während sich über Chania am Horizont das erste Blau zeigte und Michalis Hannahs warmen Körper an seinem Rücken spürte und schließlich doch wieder einschlief, wurde im Süden Kretas, am Strand von Frangokastello, der Wind stärker. Ein gutes Dutzend Urlauber, die die Nacht unter freiem Himmel verbracht hatten, verkrochen sich in ihre Schlafsäcke, um sich gegen den Sandflug zu schützen. Sie hatten seit Stunden gehofft, die riesenhaften Gestalten der Drosoulites zu sehen, jene schattenhaften Wesen, die sich angeblich alle paar Jahre im Mai aus dem Sand erhoben und an der imposanten venezianischen Festungsruine oberhalb des Strandes vorbeizogen. Diese Erscheinungen, so versicherten viele Kreter, könnten jedoch nur bei völliger Windstille auftauchen. Zwar hatte kaum einer der Urlauber ernsthaft daran geglaubt, dass es diesen gespensterhaften Spuk gab, doch die Vorstellung, zu Hause von Geistern erzählen zu können, hatte sie hierhergetrieben.
Es war ein junges österreichisches Pärchen, das als Erstes aufgeben wollte, weil der streunende Hund, den sie seit einigen Tagen in ihre Obhut genommen hatten, unruhig wurde und winselte. Und es war ein deutscher Familienvater, der nach vielen Nordsee-Urlauben sofort wusste, was bei Wind zu tun war: eine Sandburg bauen.
Eine halbe Stunde später war dieser Sandwall bereits einen Meter hoch und wuchs weiter, denn auch die Österreicher wussten die Vorteile so einer Schutzwand zu schätzen, während die Italiener, Spanier und Holländer angesichts dieser Bauwut die Köpfe schüttelten und sich lieber auf die Öffnung der Strandtaverne freuten.
Der streunende Hund hatte, als die Sandburg immer mehr wuchs, zu kläffen begonnen und war schließlich in die Mulde gesprungen, die beim Graben entstanden war. Dort scharrte er, bis er stolz einen länglichen, kräftigen Knochen präsentierte. Eine ältere Engländerin, die mit ihrer besten Freundin eigentlich nur einen frühen Spaziergang am Strand machen wollte, näherte sich der Grube und musterte diesen Knochen. Als ehemalige Krankenschwester war sie von dessen Form irritiert und hätte am liebsten selbst in der mit Wasser gefüllten Vertiefung nachgesehen. Doch zwei Italiener hielten sie zurück, stiegen in die Grube, lenkten den Hund mit den Resten einer italienischen Wurst ab und reichten den Knochen nach oben. Die englische Krankenschwester war sicher, den Oberarmknochen eines Menschen in Händen zu halten. Einer der Italiener suchte im Sand vorsichtig weiter und stellte entsetzt fest, dass immer mehr Knochen zum Vorschein kamen.
»Soll ich dir nicht wenigstens noch einen Elliniko machen?«, bot Michalis verschlafen an, als Hannah hektisch dabei war, sich gleichzeitig anzuziehen und ein paar Sachen zu packen.
»Nein, die beiden klingeln garantiert jeden Moment, die kommen immer zu früh!«
»Auch morgens um sieben?«, erkundigte sich Michalis spöttisch, obwohl er sich diese Frage hätte sparen können: Er kannte Hannahs Freundin Paula und ihren Mann Daniel aus Berlin und wusste, dass eine Verabredung um sieben Uhr für sie bedeutete, um Punkt sieben aufzubrechen. Für einen Kreter wäre es unhöflich, um diese Uhrzeit pünktlich zu sein, und auf jeden Fall wäre noch Zeit für einen Frappé gewesen. Zumal die drei lediglich die Ausgrabungsstätte des minoischen Palastes von Phaistos besuchen wollten. Und da kam es auf eine halbe Stunde eigentlich nicht an.
Tatsächlich klingelte es bereits um kurz vor sieben. Michalis streckte den Kopf über die Balkonbrüstung und sah den hochaufgeschossenen Daniel frisch geduscht mit noch nassen, leicht gewellten Haaren vor dem Haus stehen. Er trug ein sehr edles helles Leinenhemd und eine Stoffhose mit Bügelfalte. Nicht gerade das typische Outfit eines Touristen, doch Michalis kannte Daniel als jemanden, der gern signalisierte, keinesfalls zum Durchschnitt zu gehören.
»Hannah ist gleich so weit, kommt doch solange hoch!«, schlug Michalis vor.
»Paula wartet im Wagen, und ich weiß nicht, ob ich da vorn parken darf«, entgegnete Daniel und deutete auf das Ende der Odos Georgiou Pezanou.
Natürlich war es offiziell verboten, das wusste Michalis, aber das hatte noch nie jemanden interessiert.
»Falls es Probleme geben sollte, regle ich das«, bot Michalis an, doch Daniel winkte ab.
»Sehen wir uns heute Abend im Athena? Oder musst du lange arbeiten?« Hannah stolperte, weil sie gleichzeitig in ihre Turnschuhe schlüpfen und Daniel vom Balkon aus zuwinken wollte.
»Wenn nichts Ungewöhnliches passiert, hab ich um fünf Feierabend.«
Hannah gab Michalis einen flüchtigen Kuss und hetzte aus der Tür. Sie verhielt sich anders, wenn ihre deutschen Freunde in der Nähe waren, das hatte Michalis bereits bei seinen Berlin-Aufenthalten festgestellt. Und auch das war etwas, was ihm Sorgen bereitete. Denn die Hannah, in die er nach drei Jahren immer noch verliebt und mit der er sehr glücklich war, gab es vielleicht nur auf Kreta. Und ob Hannah auf Dauer hier sein wollte, schien Michalis unsicherer zu sein als bisher.
Michalis war seiner Gewohnheit treu geblieben, auf dem Weg in die Polizeidirektion Frappés und einige kalitsounia für seinen Partner Koronaios und ihre Assistentin Myrta zu besorgen und sie im Koffer seines Rollers zu transportieren.
»Efcharisto! Danke!«, sagte Myrta, als Michalis ihr den Frappé und die gefüllten Teigtaschen reichte.
»Liegt heute etwas an?«
Er stellte diese Frage jeden Morgen, auch wenn die Antwort seit Wochen dieselbe war. Den letzten größeren Fall hatte es im Winter gegeben.
»Ja .«, erwiderte Myrta, und Michalis sah sie überrascht an.
»Ja? Was denn?«
»Der Revierleiter von Sfakia hat sich gemeldet. Ich habe ihm gesagt, dass ihr ihn zurückruft.«
»Und worum geht es?«, wollte Michalis wissen.
»In Frangokastello haben einige Touristen am Strand etwas gefunden. Aber das wollte euch der Revierleiter selbst sagen. Er schien nicht sicher zu sein, ob das ernst zu nehmen ist.«
»Okay, ich ruf ihn an.«
Myrta reichte ihm die Notiz mit der Telefonnummer.
»Du weißt, was das Besondere an Frangokastello ist?«, erkundigte sie sich.
Michalis musste nur kurz überlegen.
»Da gibt es die Ruine einer alten venezianischen Festung, oder? Und da spukt es, war das nicht so? Diese, wie heißen die noch, diese .«
»Die Drosoulites. Alle paar Jahre ziehen diese Schattenwesen über den Strand. Ende Mai«, erwiderte Myrta.
Der Revierleiter Alekos Tatsopoulos teilte Michalis am Telefon mit, dass einige Touristen am Strand von Frangokastello eine Sandburg bauen wollten und dabei möglicherweise auf menschliche Knochen gestoßen waren.
»Meines Erachtens könnten das auch Knochen von einem Tier sein, aber vielleicht sind die dafür wirklich zu groß«, teilte Tatsopoulos sachlich mit.
»Und wer behauptet, dass es Knochen von Menschen sind?«
»Eine der Touristinnen ist eine englische Krankenschwester. Sie schwört, dass es der Oberarmknochen eines Menschen ist.«
»Das sollte sich doch am besten ein Arzt ansehen«, schlug Michalis vor.
»Unser Arzt hat heute frei und ist mit seinem...
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