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Das Klappern von Porzellan und Jeffs entrüsteter Aufschrei waren bis auf den Rasen zu vernehmen. In der zunehmenden Abenddämmerung hob Keith eine Schüssel mit gebackenen Bohnen auf und grinste zufrieden. Ich danke dir, sagte er zu Gott, der hinter fernen Horizonten lebte und doch stets an seiner Seite war.
Keith lächelte noch, als er die Küche erreichte und dort Fancy traf. Hellere Sterne als jene auf ihrem Kleid funkelten in ihren violetten Augen, und ihre feinen Gesichtszüge glühten vor Empörung.
»Sie können mir das zerbrochene Geschirr von meinem Gehalt abziehen«, sagte sie grollend.
»Nicht nötig«, erwiderte Keith und wechselte einen triumphierenden Blick mit Missis Thompkins, der Haushälterin. Beide versuchten schon seit Monaten, zu Jeff vorzudringen, und diese kleine Elfe hatte es an einem einzigen Abend erreicht!
Fancy rollte die Ärmel ihres abgetragenen Kleides hoch. »Ich helfe Ihnen, die Reste hereinzubringen«, bot sie sich an.
Als sie damit fertig waren, drängte Keith Fancy, schlafen zu gehen, da ihm bewusst war, was für ein harter Tag auf sie wartete.
Aber ihre müden Augen weiteten sich erschrocken. »Du liebe Güte«, hauchte sie entsetzt. »Ich habe Hershel ganz vergessen!«
Das Kaninchen. Keith lachte. »Er hat ganz bestimmt Hunger.«
Missis Thompkins brachte prompt eine Schale mit Salatblättern herbei. »Sorgen Sie nur dafür, dass das Tier aus meinem Gemüsegarten bleibt«, warnte sie gutmütig.
»Heute Abend können wir ihn in der Scheune unterbringen«, meinte Keith. »Morgen baue ich ihm einen Stall.«
Fancy lächelte erleichtert, und Keith war gerührt. Anscheinend liebte sie das ungehorsame Kaninchen doch. »Danke«, sagte sie froh.
Fancys Zimmer war sehr geräumig. Als sie das Fenster öffnete, drang das süße Aroma von Apfelblüten herein, und das leise Rauschen des Columbia River wirkte sich sehr beruhigend auf ihre Nerven aus.
Dankbar zog sie das sternenbesetzte Kleid aus und schlüpfte in das lange Flanellnachthemd, das auf dem Bett lag. Es war schlicht, aber hübsch, mit einem Spitzenbesatz an Ärmeln und Halsausschnitt und gestickten Tauben auf dem Oberteil. Fancy nahm sich vor, Missis Thompkins am nächsten Tag dafür zu danken.
Barfuß trat Fancy ans Fenster, löste die Klammern aus ihrem Haar und ließ es lang auf ihren Rücken fallen. Dann leerte sie ihre Reisetasche aus und überlegte, wie dringend sie nun ein neues Kleid brauchte. Außer ihrem Kostüm, das sie zu den Auftritten trug, besaß sie nur einen streng geschnittenen Rock aus Leinen und einen anderen aus grobem grauem Wollstoff.
Sie biss sich auf die Lippen, als wieder der alte Wunsch nach schönen Kleidern in ihr erwachte. Aber das waren Dinge, die für reiche Frauen bestimmt waren, nicht für Mädchen wie sie.
In diesem Augenblick klopfte es leise, und Fancy erschrak. »Ja?«, fragte sie alarmiert, obwohl sie wusste, dass sie sicher war in diesem schönen Haus.
»Ich bin's - Alva«, sagte die Haushälterin gedämpft.
Fancy schluckte - irgendwie hatte sie erwartet, dass es dieser dreiste Kapitän Corbin war - und öffnete rasch.
Alva Thompkins stand auf dem halbdunklen Flur, die Arme beladen mit Kleidungsstücken. Fancy entdeckte ein hübsches, getupftes Morgenkleid, einen weichen, pinkfarbenen Morgenmantel, und ein Samtkleid aus dunklem Gold. »Probieren Sie diese Sachen an«, forderte Missis Thompkins sie auf.
Fancy trat verblüfft zurück. »Ich ... was ...«, stammelte sie.
Alva ging lächelnd zum Bett und warf die Kleider auf Fancys karge Garderobe. »Sie gehörten Miss Melissa«, sagte sie erklärend. »Das ist die jüngere Schwester des Pastors. Immer, wenn sie nach einem ihrer Besuche abreist, lässt sie Dinge zurück, die sie nicht mehr haben will. Im Allgemeinen geben wir sie der Kirche, aber ich dachte, Sie könnten sie vielleicht gebrauchen, Miss Fancy.«
Fancy war überwältigt. Es schien unvorstellbar, dass jemand über seinen Mangel nachdachte und nur Sekunden später so reich beschenkt wurde. Das war ihr noch nie passiert.
»Probieren Sie es an«, drängte Alva und hielt ein Tageskleid aus lavendelfarbenem Leinen hoch. »Ich würde sagen, um die Brust herum müsste es ein bisschen ausgelassen werden, aber das ist kein Problem.«
Fancy nahm das Kleid stumm aus Alvas Hand. »Kommen Sie in die Küche, wenn Sie es angezogen haben«, sagte sie. »Ich sehe, was geändert werden muss, und dann trinken wir eine Tasse Schokolade zusammen.«
Fancy nickte froh und zog rasch das Flanellnachthemd aus, das bestimmt auch einmal Melissa gehört hatte. Dann streifte sie das lavendelfarbene Kleid über ihren Kopf.
Wie Alva schon gesagt hatte, war das Mieder ein bisschen eng, obwohl alles andere wie angegossen passte. Der lange Rock raschelte, als Fancy vor den Spiegel trat, der ihr ein völlig verändertes Bild von ihr zeigte.
Irgendwann jedoch hörte sie auf, sich zu bewundern und ging in die Küche, wo die gutmütige Haushälterin wartete. »Es sieht sehr hübsch an Ihnen aus«, sagte sie und stand auf, um sich das Kleid genauer anzusehen.
»Die Knöpfe gehen nur schwer zu«, meinte Fancy bedrückt und berührte sie mit zitternden Fingern. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ein solches Kleid getragen, geschweige denn besessen. Und wenn es nicht abzuändern war ... Die Enttäuschung wäre fast nicht zu ertragen gewesen.
»O, das richte ich schon«, meinte Alva zuversichtlich. »Ich kann die Nähte auslassen. Ziehen Sie es aus und bringen Sie es mir zurück.«
Von neuer Hoffnung erfasst, eilte Fancy in ihr Zimmer zurück.
Als sie wenig später in dem pinkfarbenen Morgenmantel zurückkam, das Kleid unter dem Arm, hatte Alva schon ihren Nähkorb bereitgestellt und mehrere Lampen angezündet.
Die beiden müden Frauen saßen am Tisch, tranken ihre heiße Schokolade und redeten, während Alvas geschickte Finger unablässig nähten.
»Wie kommt es, dass ein Mädchen wie Sie mit einem Kerl wie diesem Shibble reist?«, erkundigte sich die Haushälterin in leicht missbilligendem Ton. »Es erscheint mir etwas unpassend.«
Fancy zuckte die Schultern. Bei einer anderen Person wäre sie vielleicht gekränkt gewesen, aber bei Alva spürte sie, dass es nur Neugier war. »Es war ein Job, mehr nicht«, erwiderte sie.
»Man sollte meinen, ein so hübsches Ding wie Sie hätte einen Mann«, beharrte die ältere Frau.
Fancy seufzte tief. »Ich hätte heiraten können, wenn ich in Newcastle geblieben wäre.« Um wie Mama zu werden, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Wo ist Newcastle?«, erkundigte Alva sich neugierig. »Ich habe noch nie davon gehört.«
»Nördlich von Seattle«, antwortete Fancy nachdenklich. »Es gibt ein Kohlenbergwerk dort.«
Alva nickte. »Ein hartes Leben, wenn man Bergmann ist. Das ist Ihr Daddy doch, oder?«
Diesmal nickte Fancy, und kehrte in Gedanken zu der Armut und Mutlosigkeit ihres Heimatortes zurück. Arm war sie zwar immer noch, aber freier, als ihre Mutter und andere Frauen wie sie je sein würden.
»Sind Sie arm, Ihre Leute?«, hakte Alva nach, während sie einen Schluck Kakao trank.
»Ja«, antwortete Fancy freimütig. Obwohl sie weit entfernt von Newcastle war und kein Verlangen verspürte, zurückzukehren, trauerte sie ihrer Familie nach. Krankheit und Schulden hielten sie gefangen für den Rest ihres Lebens. »Papa ist krank, aber er arbeitet noch immer in dieser Mine.«
»Er wird wohl keine andere Wahl haben«, bemerkte Alva. »Man muss schließlich essen.«
»Selbst das schaffen sie kaum«, flüsterte Fancy bedrückt. »Die Bergwerksgesellschaft bezahlt die Arbeiter mit Gutscheinen, die natürlich nur im bergwerkseigenen Laden eingelöst werden können. Die Leute schulden meistens mehr, als sie je hoffen können zu verdienen.«
»Aber Sie sprechen wie eine Dame«, erklärte Alva, nachdem sie mit den Zähnen einen Faden abgebissen hatte. »Wie kommt das? Und wo haben Sie das Zaubern gelernt?«
Fancy lächelte. »Sobald ich konnte, nahm ich eine Stellung als Kammerzofe einer reichen Dame in Seattle an. Ich hörte ihr zu und las Bücher in meiner Freizeit, und es dauerte nicht lange, bis ich mich ausdrücken konnte wie Missis Evanston. Ihr Sohn war ein Hobbyzauberer, und er brachte mir alle Tricks bei, die er beherrschte.«
Beim Gedanken an Tim Evanston lächelte Fancy, wenn auch etwas bitter. Er hatte ihr mehr als Zauberei beibringen wollen und war zum Schluss der Grund gewesen, warum sie ihre Stellung aufgegeben hatte. Nur mit einem Kaninchen bewaffnet, das sie im Wald hinter der Residenz der Evanstons gefangen hatte, einem handgemalten Schild, das ihre Talente anpries, und einem alten Hut von Mister Evanston hatte Fancy...