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Montana, 1870
Niemals in ihrem Leben würde Evangeline jenen ersten Blick auf ihn vergessen, als er durch den frisch gefallenen hohen Schnee geritten kam. Jenen wundervollen, goldenen Moment, in dem sie ihn für jemanden gehalten hatte, der er gar nicht war.
Abigail, ihre sechsjährige Tochter, stand neben ihr am Fenster auf einer umgedrehten Obstkiste und spähte durch die von ihrem Atem beschlagene Fensterscheibe. »Siehst du, Mama, er ist gekommen, um uns abzuholen! Ich habe dir ja gesagt, dass er uns holen würde... Ist er nicht ein schöner Mann?«
Evangeline Keating biss sich auf die Unterlippe und versuchte, die unbändige Freude und Angst zugleich, die in ihr aufstiegen, zu ignorieren. Der Reiter war in der Tat »ein schöner Mann«, - zumindest, was seinen Körperbau betraf; seine Schultern wirkten breit und muskulös unter der dicken Schaffelljacke, und seine Beine waren lang und schlank. Er führte mit einer Leichtigkeit die Zügel, die bewies, dass er sich mit Pferden auskannte. Sie konnte weder seine Gesichtszüge erkennen noch die Farbe seines Haars, denn er trug einen alten Hut, den er zum Schutz gegen die Kälte dieses Morgens, der mit unerwartet starkem Schneetreiben begonnen hatte, tief in die Stirn gezogen hatte.
Sie brauchte ihn aber auch gar nicht richtig zu sehen, weil sie ein Bild von ihm besaß und es immer wieder angesehen hatte auf der Reise. »Ein Bild von einem Mann«, bestätigte Evangeline schließlich ihrer Tochter. Sie dachte an das, was nach der Trauung von ihr erwartet werden würde, und bereute fast ein bisschen ihren Entschluss, nach Westen gekommen zu sein, um Mr. John Keating, den wohlhabenden Cousin ihres verstorbenen Mannes, zu heiraten. Obwohl ihr eigentlich gar keine andere Wahl geblieben war. Charles hatte sie mittellos zurückgelassen und sowohl die Farm wie auch alle anderen Vermögenswerte Mott hinterlassen, seinem Sohn aus der Ehe mit seiner ersten Frau, Clara, die er vergöttert hatte.
Mott hatte offenbar damit gerechnet, neben dem Landbesitz und Geld seines Vaters auch Evangeline zu erben, eine Vorstellung, die sie nach wie vor erschaudern ließ, wann immer ihr dieser Gedanke kam. Heiratsfähige Männer waren Mangelware in ihrer kleinen Stadt in Pennsylvania, genau wie in der näheren Umgebung, was auf die verheerenden Verluste während des erst kürzlich beendeten tragischen Kriegs zurückzuführen war. Evangeline, für die es keine Möglichkeit gab, sich mit Anstand ihren Lebensunterhalt zu verdienen, blieb nichts anderes übrig, als zu heiraten.
Als sie schon begonnen hatte zu befürchten, sie müsse schließlich doch nachgeben und Mott Keating als Ehepartner akzeptieren - sein Vater war wenigstens ein ruhiger, beherrschter Mann gewesen, wenn auch nicht gerade gütig -, war der Brief gekommen. Mr. John Keating, ein einsamer, aber wohlhabender Rancher, schrieb, um seine Anteilnahme zu bezeigen. Er hatte ein etwas unscharfes Bild von sich dazugelegt und eine nicht unbeträchtliche Bankanweisung, die auf Evangelines Namen ausgestellt war.
Falls sie die beschwerliche Reise nach Westen auf sich nehmen wolle, schrieb er, würde er sie heiraten und ihre Tochter als seine eigene aufziehen. Er sei ein umgänglicher, gottesfürchtiger Mann mit bescheidenen Wünschen und Erwartungen, beschrieb er sich. Er sei unter den ersten gewesen, die Vieh von Texas nach Montana getrieben hatten, und besitze ein schönes, solides Haus auf seinem Land, ein Haus, das jedem Wetter standhielt. Er habe einen netten, zuverlässigen Partner, der sich die meiste Zeit im Haus nicht blicken ließe. Die Arbeit sei hart, gestand er, die Ranch liege sehr einsam, und es arbeiteten nicht viele Menschen dort. Es gebe sozusagen keine Frauen dort, auch keine Schulen oder Kirchen, obwohl Mr. Jacob McCaffrey, der mit seiner Frau die etwa zehn Kilometer entfernte Postkutschenstation »Springwater« leitete, sich hin und wieder überreden ließe, für die anderen zu predigen.
Evangeline hatte ihren und Abigails geringen persönlichen Besitz in eine einzige Reisetruhe gepackt und war mit der Eisenbahn von Philadelphia nach St. Paul gefahren, wo sie die erste von zahlreichen Postkutschen bestiegen hatten, um Nebraska und Montana zu durchqueren. Die Reise hatte Wochen gedauert und eine Menge Willenskraft, Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit von Evangeline erfordert. Wenige Stunden nach dem Schneesturm, der in der Nacht getobt hatte, hatten Mutter und Tochter erschöpft, hungrig und bis auf die Knochen durchgefroren, endlich die Springwater-Station erreicht, wo die McCaffreys sie sehr freundlich aufgenommen hatten.
Der Reiter war inzwischen vor der Scheune angelangt, wo er absaß, die Türen öffnete und sein schnaufendes Pferd ins Warme führte. Wenige Minuten später kam er wieder heraus, und sein Atem bildete große weiße Wolken in der kalten Luft, als er langsam zur Station herüberkam. Als er den Kopf hob und Evangeline und Abigail am Fenster sah, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, das auf seine Weise genauso strahlend wie der frisch gefallene Schnee war, der in der Sonne glitzerte.
Evangeline trat rasch zurück und hob ganz unbewusst die Hand, um über ihr Haar zu streichen, das, ihrer eigenen Einschätzung nach, von einem langweiligen Blondton, aber tadellos frisiert war. Sie hielt sich weder für unscheinbar noch für hübsch mit ihrer hohen, kräftigen Gestalt und ihren starken Händen. Sie hatte braune Augen, gute Zähne, eine gesunde Haut und ein scheues, zurückhaltendes Lächeln. Sie konnte arbeiten, war ehrlich und verstand mit Zahlen und Wörtern umzugehen. Sie wusste, wie man Gemüse zog, Hühner züchtete, Kühe melkte, ein Haus sauber hielt, und sie kochte gut und nähte gern. Alles in allem war sie nahezu die ideale Heiratskandidatin.
Sie strich den Rock ihres blauen Kattunkleids glatt, das zerknittert von so vielen Wochen in der Reisetruhe war, und als sie aufschaute, begegnete ihr Blick June McCaffreys, einer kleinen, grazilen Frau mit mütterlichem Wesen.
Mrs. McCaffrey schaute ihren Mann an, Jacob, der vor dem riesigen Natursteinkamin saß und ein Pferdehalfter flickte. Er war ein gutmütiger Mann von beeindruckender Größe, der meist sehr ernst und still war und dichtes dunkles Haar besaß.
»June«, sagte er jetzt ruhig, »du wirst dich da nicht einmischen.«
Evangeline hatte schon fast genügend Mut gesammelt, um zu fragen, was er meinte - es war nicht die erste Bemerkung dieser Art zwischen den beiden, seit sie eingetroffen war und ihnen gesagt hatte, sie sei gekommen, um John Keating zu heiraten -, als es an der schweren Tür klopfte, Sekunden nur, bevor sie sich öffnete, ein Schwall eiskalter Luft hereindrang und den Mann mitbrachte, den Evangeline zu heiraten erwartete. Hinter ihr war Abigail, die sich ein eigenes Pony wünschte und erst recht natürlich einen Vater, so aufgeregt, dass sie sich kaum noch bezähmen konnte und ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
Evangeline hätte sich jetzt vielleicht vorgestellt, und tatsächlich trat sie schon vor, um es zu tun, als der Neuankömmling seinen Hut abnahm und blondes, von der Sonne gebleichtes Haar darunter zum Vorschein kam. Sein fein geschnittenes Gesicht war rot vor Kälte, und der Blick in seinen blaugrünen Augen verriet Neugier und Belustigung zugleich, Bedauern und Interesse.
Evangeline spürte einen Kloß im Hals. »Sie sind nicht Mr. Keating«, gelang es ihr gerade noch zu sagen.
Er betrachtete sie für einen endlosen Moment, wie ihr schien, und sein Gesichtsausdruck verriet nicht die geringste Emotion. Dann, endlich, antwortete er. »Nein, Ma'am«, bestätigte er schlicht, »das bin ich nicht.«
Während Evangeline betroffen schwieg - Abigail, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, war endlich still -, hielt der Mann den Hut in beiden Händen und nickte den McCaffreys zu. »Jacob«, sagte er statt eines Grußes. »June.«
»Du wirst heißen Kaffee wollen nach einem solchen Ritt«, erklärte June und ging an den drei großen Tischen, die der Bewirtung ihrer Gäste dienten, vorbei zum Herd. Sie war sehr schlank und hatte braunes, nur leicht angegrautes Haar, gesunde, straffe Haut und Augen von einem auffallenden Blau. »Und Hunger hast du sicher auch. Setz dich doch, Scully.«
Evangeline blieb stocksteif stehen, aus Angst, jetzt irgendetwas falsch zu machen. Der Mann konnte durchaus ein Bote ihres zukünftigen Ehemannes sein, aber ihr Gespür - in Verbindung mit den merkwürdigen Blicken, die die McCaffreys wechselten -, sagte ihr, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
Mr. McCaffrey, stets der perfekte Gentleman, legte seine Pferdegeschirre beiseite, erhob sich und wischte sich die großen, von der Arbeit rauen Hände an den schwarzen Hosen ab. »Mrs. Keating«, sagte er, nachdem er sich kurz geräuspert hatte, »das ist Scully Wainwright. Er ist Big Johns Partner auf der Circle JW. Scully, das ist Mrs. Keating.«
Hölzern reichte Evangeline ihm ihre Hand. Wainwright zögerte zunächst, streifte dann seine dicken Lederhandschuhe ab und erwiderte die Geste. »Mrs. Keating«, sagte er. Er verfügte über eine...