Schweitzer Fachinformationen
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Sigrid Ødegård blickt unverwandt aus dem Fenster ihres Büros, die Hände auf der ungeöffneten blauen Mappe. Auf dem Umschlag ist in Gold, Rot und Schwarz das Siegel der Politi aufgeprägt - offenbar war die Angelegenheit jemandem das gute Briefpapier wert. Titel oder Autor stehen nicht darauf, doch sie weiß auch so, worum es geht, und hat keine Eile, es zu lesen. Vor nur zwei kurzen Monaten, im Juni, war Oslo noch über und über mit Flieder bestickt. Sigrids Vater hat ihr einmal erzählt, Flieder sei die Lieblingsblume ihrer Mutter gewesen. Wenn er im Frühsommer in Hedmark blühte, war ihr Bauernhaus stets voll davon; ein Strauß in jedem Badezimmer, eine Vase auf dem Küchentisch. Verirrte Blüten flatterten der Familie durch die Flure hinterher, wenn sie sie im Vorübergehen aufwehte. Diese gemeinsame Bewegung - diese gemeinsame Erinnerung - war jedoch schon fünfunddreißig Jahre alt. Sigrid war erst fünf, als Astrid starb. Auf den sommerlichen Park mit seinen in der Sonne liegenden Menschen und herumtobenden Kindern blickend, fragt sie sich, ob diese Erinnerungen überhaupt die ihren sind. Vielleicht hat nur ihr Vater sie ihr eingegeben. Und wenn sie nicht ihre eigenen sind, schmälert das dann ihren Wert? Oder steigert es ihn vielleicht sogar?
Sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder der blauen Mappe zu.
Die enthält, so hat man ihr gesagt, Abschlussbericht und Urteil über die Ereignisse des vergangenen Monats, als in einer Sommerhüte nahe des Dörfchens Glåmlia, unweit der schwedischen Grenze, vier Geiselnehmer erschossen wurden. Sigrid hatte das Kommando gehabt und entschieden, das Sonderkommando, die Beredskapstroppen, einzusetzen. Es stürmte die Hütte und tötete drei der Verbrecher. Den vierten hat Sigrid selbst erschossen.
Die neugierigen Blicke ihrer Abteilung spürend, schlägt Sigrid die Mappe auf, liest jedoch noch immer nicht. Sie hätte gleich die Jalousien schließen sollen, nachdem der junge Kollege angeklopft und ihr die Mappe übergeben hatte. Blond war er, und für die Jahreszeit besorgniserregend blass. Sein jungenhaftes Gesicht ging ihr sofort auf die Nerven.
«Danke», sagte sie und wollte die Tür wieder schließen.
«Gern», hat er geantwortet und ihr dann merkwürdigerweise die Hand gereicht.
Ohne einen Schimmer, was ihn dazu veranlasste, schüttelte sie die Hand, damit er sie wieder wegnahm.
Er schien damit zufrieden und verschwand.
Im Laufe des vergangenen Monats hat die Dienstaufsicht die Geschehnisse untersucht, die den tödlichen Schüssen vorausgegangen waren. Reine Routine, wenn auch nur insofern, als es den Vorschriften entsprach; häufig kam so etwas nicht vor. Das letzte Mal, dass ein norwegischer Polizist jemanden erschossen hatte, war 2006 gewesen, vor zwei Jahren, und davor . eine halbe Ewigkeit. Zehn Jahre? So etwas passierte in Norwegen einfach nicht. Die Gewaltverbrechensrate war niedrig, Morde eine echte Seltenheit, und wenn es doch mal dazu kam, ging es gewöhnlich um Leute, die einander kannten. Meistens Paare. Schuld war immer der Mann.
Die Ausbildung an der Akademie hatte sich darauf konzentriert, wie man eine Lage entschärft und unter Kontrolle bringt, statt einfach nur draufloszustürmen. In diesem Fall lief das anders ab.
Trotzdem war es die richtige Entscheidung gewesen, denkt sie; diese Typen hatten einen Mann, eine Frau und ein Kind in ihrer Gewalt. Doch nun liegt unter ihren Fingern der offizielle Ratschluss ihrer Abteilung zu dieser Frage. Vielleicht ist die zum selben Ergebnis gekommen, vielleicht aber auch nicht.
Man hatte beschlossen, ihr die Akte ausgerechnet heute auszuhändigen, am Freitag. Ob das grausam oder gnädig war, wird sich wohl erst beim Lesen zeigen.
Das Sommerhaus, wo die Männer erschossen wurden, lag tief im Wald hinter einer kleinen Wiese. Es war ein wenig größer als die übliche hytte, ein Ort der Ruhe und Idylle. Eine Jagdhütte. Ein Liebesnest. Kaum war sie mit ihrem Kollegen Petter aus dem Polizeiauto gesprungen, kam ein junger Mann, den sie noch nie gesehen hatte, aus der Tür und rannte in ihre Richtung.
Zu ihr? Auf sie zu? Auf sie los? Jedenfalls rannte er, mehr wusste Sigrid nicht. Sein Motiv war unklar. Ihre Angst und seine Wegrichtung waren es nicht.
Halb rechnete Sigrid damit, dass er stehen blieb. Beim Anblick von Polizisten ändern die Leute meist schlagartig ihr Verhalten. Sie fahren langsamer. Achten stärker darauf, was sie tun. Lassen Waffen fallen. Nehmen die Hände hoch.
Er aber rannte einfach weiter. Sie rief, er solle stehen bleiben. Er rannte weiter.
Das Tranchiermesser in seiner Hand sah sie sofort. Es wirkte eher fehl am Platz als gefährlich. Hier waren sie, in dieser herrlichen Jahreszeit, in der die Natur ihren größten Reichtum entfaltet, der Zeit, der Norweger das ganze dunkle Jahr über entgegenfiebern, sodass ihr Kommen zugleich wohltuend und wehmutsvoll ist, weil sie so schnell wieder vorübergeht. Und da war er und rannte stumm auf sie zu, in der Hand ein Messer, gemacht, um Fleisch zu schneiden.
Wenn sie gezögert hätte, hätte er sie überwältigt. Also hat sie geschossen. Und dann noch ein zweites Mal.
«Hilft ja nix», brummt sie und fängt an zu lesen.
Er hieß Burim, kam offenbar aus dem Kosovo. Seine Familie ist in den Neunzigern vor dem Krieg nach Norwegen geflohen. Sein Vater starb kurz nach der Befreiung aus einem serbischen Internierungslager. Aufgrund von Unterernährung und inneren Verletzungen, heißt es im Bericht, vermutlich durch Prügel im Lager. Der junge, vaterlose Burim scheiterte beim Versuch, sich in Norwegen zu integrieren, und geriet in Oslo in schlechte Gesellschaft. Sein Migrationshintergrund sowie sein Verhalten in Norwegen, so formuliert es ein Polizeipsychologe, sprechen eher für Unreife als für Bosheit oder kriminelle Energie. Das ist der Mensch, den sie getötet hat.
Der rechtliche Befund über ihr Verhalten, so heißt es weiter, beruht auf einer Untersuchung des Tathergangs und den Umständen der Konfrontation zwischen dem Angreifer (ihm) und der beteiligten Beamtin (ihr). Es folgt eine Darstellung der Geschehnisse, teils auf Grundlage der Aussage von Petter, der von der anderen Seite des Streifenwagens aus alles mitangesehen hat.
Sigrid kommt diese Nacherzählung wie ein historischer Roman vor: Eine Geschichte über eine Frau, die genauso heißt wie sie, aber eindeutig nicht sie sein kann, zumal der Autor gar nicht bei der Hütte war, als all das geschah. Es gibt kein Video und außer Petter keine Zeugen. Wie soll da irgendjemand wissen, was sie wirklich getan hat, geschweige denn gedacht?
Sie blättert um, liest weiter.
Woher nimmt diese bürokratische Schilderung ihre Behauptungen über Ursache und Wirkung? Wer ist dieser Autor, der darüber schlussfolgert, was los war, als Sigrid abdrückte? Und wer ist diese vierzigjährige Polizistin namens «Sigrid Ødegård», die diesen Mann erschoss und dann, statt ihm Erste Hilfe zu leisten, zu dem zweiundachtzigjährigen Amerikaner lief, der mit einer klaffenden Schnittwunde am Hals aus der Hütte taumelte?
Kein Wort steht im Bericht über die weiche, sanfte Hand des alten Mannes, mit der er ihr Gesicht berührt und blutige Fingerabdrücke auf ihrer Wange hinterlassen hat. Nichts darüber, wie sie diese Fingerabdrücke erst bemerkte, als sie abends allein in ihrer Wohnung in Grønland vor dem Spiegel stand. Wieso kommt all das in diesem Text nicht vor, wenn der Verfasser sie doch so gut kennt?
Spätestens auf Seite zwölf ist offensichtlich, dass sowohl Sigrid als auch ihre literarische Doppelgängerin entlastet wurden.
Sigrid blickt sich um, ob einer ihrer Untergebenen sie mit der Akte beobachtet.
Niemand schaut in ihre Richtung. Was beweist, dass sie es kurz zuvor noch alle getan haben.
Sie wendet sich wieder dem Bericht zu, bemerkt immer mehr wilde Spekulationen und falsche Voraussetzungen.
Und je tiefer sie hinter die bürokratische Fassade und deren ungerechtfertigte Gewissheit blickt, desto deutlicher zeichnet sich dort eine andere Konstellation der Wahrheit ab. Irgendwo jenseits dessen, was sie da vor Augen hat, hört sie eine andere Geschichte; die noch nicht erzählte Geschichte eines verwirrten Flüchtlings aus dem Kosovo, der vorher nie gewalttätig war und eher vor einer Dummheit wegläuft als auf eine andere zu. Sein fataler Fehler war nicht etwa der Entschluss, ihr etwas anzutun, sondern auf sie zuzulaufen und zu schlecht Norwegisch zu sprechen, um zu verstehen, was sie zweimal gerufen hat: «Stehen bleiben oder ich schieße.»
In dieser Geschichte läuft alles genauso ab wie in der anderen, aber alles bedeutet etwas anderes.
Noch einmal führt sie sich die Situation vor Augen. Das grüne Gras. Die rote Hütte. Den blauen Himmel. Den rennenden Mann und sein kastanienbraunes Haar. Die großen braunen Augen.
Sigrid liest weiter, immer irritierter vom beiläufigen Ton des Verfassers. Ab Seite zwölf, nachdem das Urteil gefällt ist, wirkt alles Weitere wie nachträglich darauf zurechtgestrickt. Der Verfasser liest in die Ereignisse hinein, was immer nötig ist, um seinen Befund zu unterfüttern, statt ihn noch mal zu hinterfragen. Soweit Sigrid sagen kann, geschieht das nicht mit Absicht, ja nicht einmal bewusst. Ist die abschließende Erklärung erst gefunden, fügt sich eben alles kinderleicht von selbst zusammen. Am Ende des Berichts kommt es selbst Sigrid so vor, als hätte ihr fiktives Pendant gar nicht anders gekonnt, als abzudrücken. Als wäre das nicht nur gerechtfertigt gewesen, sondern unausweichlich.
Nicht nur spricht der Bericht sie von jeder Schuld im...
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